HR-Debatte

Braucht die Schweiz den Mindestlohn?

Während Hans Baumann, Ex-Chefökonom der Gewerkschaft Unia, zum Schutz des sozialen Friedens für einen gesetzlichen Mindestlohn plädiert, sieht Swissmechanic-Verbandsdirektor Oliver Müller die unternehmerische Freiheit in Gefahr.

Hans Baumann

Gesetzliche Mindestlöhne – braucht es das in der «reichen» Schweiz? Ja, denn rund 330 000 Beschäftigte verdienen heute weniger als 4000 Franken im Monat oder 22 Franken pro Stunde für eine 100-Prozent-Stelle. Davon sind zwei Drittel Frauen. Und immerhin ein Drittel dieser 330 000 haben sogar eine Berufslehre! Selbst für junge, alleinstehende Menschen ist ein Lohn von 4000 Franken nicht viel. Aber er reicht wenigstens dafür aus, die wichtigsten Lebensbedürfnisse zu decken und erspart in vielen Fällen den Gang zur ­Sozialhilfe. Ein Lohn soll zum Leben reichen.

In der Schweiz gibt es Gesamtarbeitsverträge (GAV), in denen Mindestlöhne festgelegt werden. Die Gegner der Mindestlohn-Initiative befürchten eine weitere Regulierung, die angesichts der bewährten Sozialpartnerschaft gar nicht nötig sei. Das ist ein Trugschluss. Dank der Gewerkschaften konnte in den letzten Jahren zwar die Abdeckung mit GAV erhöht werden. Aber über 50 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz sind nicht durch GAV oder Mindestlöhne geschützt. Dort, und nur dort, soll die Initiative Abhilfe schaffen.

Die Schweizer Wirtschaft zeichnet sich durch eine hohe Produktivität und ein hohes Qualifikationsniveau aus. Eine gute soziale Absicherung und sozialer Frieden gehören aber auch zu diesem Erfolgsmodell. Dafür gibt es minimale gesetzliche Rahmenbedingungen. Mindestlöhne sind also kein «Systemwechsel». Wie andere Arbeitsschutzbestimmungen tragen sie dazu bei, den sozialen Frieden zu wahren. Es gibt Stimmen, die Mindestlöhne befürworten, aber die Höhe von 4000 Franken kritisieren, welche die Realität einzelner Branchen oder Regionen schlecht widerspiegle. Tatsächlich hätte die Schweiz mit 4000 Franken im Monat den höchsten gesetzlichen Mindestlohn in Europa. Aber das entspricht auch dem hohen Preis- und Lohnniveau des Landes. Der Mindestlohn muss in einem Verhältnis zu den übrigen Löhnen stehen. Der mittlere Lohn in der Schweiz beträgt heute rund 6300 Franken. Nach internationaler Definition gelten Löhne, die unter 66 Prozent des Medianlohnes liegen, als Tieflöhne. Das wären bei uns 4200 Franken. Die 4000 Franken sind also nicht will­kürlich gewählt, sondern orientieren sich am übrigen Lohn­niveau. Vergleicht man die relati­ve Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes, bewegt sich die Schweiz mit der Initiative im Rahmen anderer Länder.

Schliesslich wird der Wirtschaft eine längere Übergangsfrist gewährt. Wenn die Initiative dieses Jahr angenommen wird, könnte der gesetzliche Mindestlohn im Verlaufe des Jahres 2018 in Kraft treten. Die betroffenen Branchen und Unternehmen hätten also vier Jahre Zeit, um die unteren Löhne anzupassen. Da es ohnehin Lohnerhöhungen gibt, kann das im Rahmen normaler Anpassungen geschehen und die Mehr­kosten wären verkraftbar.

 

Oliver Müller

Was ist es, dass uns Schweizerinnen und Schweizer dazu bewegt, unserer Wirtschaft und somit uns selbst Schaden zuzufügen? Antworten sind schwierig zu finden. Ziel sollte sein, die unternehmerische Freiheit zu schützen und damit Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen. Wirtschaftlicher Erfolg ist eine gute Basis für noch bessere Rahmenbedingungen, auch für die Arbeitnehmenden.

Die Forderung nach einem Mindestlohn ist nur ein ­­Mosaikstein in einem ganzen Gebilde. Es ist eine Forderung unter vielen und diese Liste wird erweitert werden: Gebühren, Abgaben, Abzocker-Massnahmen, 1:12-Initiative, Mindestlöhne, flächen­deckende Gesamtarbeitsverträge oder die Erbschaftssteuer.

Der Krug geht bekanntlich zum Brunnen, bis er bricht. Anstatt die Wirtschaft zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie sich trotz enormem Preisdruck international behaupten kann, soll sie vom Staat kontrolliert werden, mit hohem administrativem Aufwand für alle Beteilig­ten.

Es gibt etliche Beispiele für Missbrauch und Armut. Die Mindestlohn-Initiative ist jedoch das falsche Instrument, um beides zu bekämpfen. Viele Unternehmen, die sich in Familien­besitz befinden, begegnen den Arbeitnehmenden auf Augenhöhe, man kennt und schätzt sich. Diese Unternehmen beschäftigen Arbeitnehmende auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Von einem Mindestlohn sind nur wenige Unternehmen, die der Swissmechanic angegliedert sind, direkt betroffen. Dennoch würde sie die Annahme der Initiative genauso hart wie alle anderen treffen, denn damit steigert der weltweit höchste Mindestlohn den Druck auf die nächsthöheren Lohnklassen.

Die Lohnspirale setzt sich weiter nach oben in Bewegung und hebt das Kostenniveau an. Für unqualifizierte Kräfte wird es schwieriger, sich im Arbeitsmarkt zu integrieren und die Signalwirkung an junge Menschen ist wenig nachhaltig. Jährlich bilden die Mitgliedsunternehmen der Swissmechanic etwa 1500 Lernende aus. Welche Motivation soll ein junger Mensch haben, sich aus- und weiterzubilden, wenn er bereits am ersten Arbeitstag über einen Lohn von 4000 Franken verfügt?

Hinzu kommen regionale Unterschiede: Ein Blumenladen in einem abgelegenen Alpental erwirtschaftet nun mal nicht denselben Umsatz wie jener in einem mittelländischen Einkaufszentrum.

Und über allem thront der Drang, den Staat als Kontrolleur einzusetzen und die unternehmerische Freiheit zu beschneiden. Es ist Zeit, die Strategie zu ändern und die Zukunft positiver zu betrachten, damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Erfolgsmodell Schweiz weiterentwickeln. Aus freien Stücken. Gute Gründe, um die Ini­tiative am 18. Mai abzulehnen.

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Hans Baumann war früher Chefökonom bei der Gewerkschaft Unia. Heute arbeitet er als Publizist und Lehrbeauftragter für verschiedene Institu­tionen und ist in seinem Wohnort Dübendorf im Gemeinderat.

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Oliver Müller ist ­Direktor des Arbeit­geber-, Fach- und Berufsbildungs­verbandes Swissmechanic. Dieser ­vertritt die KMU der MEM-Branche und ­umfasst 1400 Firmen mit 60 000 Mitarbeitenden und 6000 ­Lernenden. www.swissmechanic.ch

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