HR Today Nr. 6/2016: Nachwuchs

Neue Wege für Talente

Talentierten Nachwuchs zu finden, ist eine grosse Herausforderung – gerade für IT-orientierte MINT-Berufe. Die auf Informatik-Dienstleistungen spezialisierte Noser Gruppe gründete für die Ausbildung ihrer Lernenden eine eigene Firma, während der Hersteller von Hörlösungen Sonova auch für Talente mit Handicap massgeschneiderte Ausbildungsplätze anbietet. Zwei Best Cases.

Die Stimmgeräusche aus dem Computerlautsprecher erinnern an eine Audio-Aufnahme in ultrahoher Fastforward-Geschwindigkeit: «Wenn ich es im Normaltempo laufen lasse, geht es mir mit der Zeit auf die Nerven», sagt Gianluca  Stoob (17), während er die Screen-reader-Software auf seinem Computer demonstriert. Stellt der Informatik-Lernende der Sonova AG diese Software auf normales Tempo ein, versteht man auch als Ungeübter die Stimme, welche die Textzeilen wiedergibt, die auf seinem Bildschirm erscheinen. Gianluca Stoob kann diese Zeilen nicht lesen. Er ist blind. Für die Sonova kein Hinderungsgrund, ihn als IT-Talent zu engagieren und entsprechend zu fördern.

Auch Corina Jaussi wurde von ihrem Lehrbetrieb als ausserordentliches Talent identifiziert und entsprechend umworben. Die Website der Noser Young Professionals AG (NYP) trug zu ihrer Entscheidung bei, sich für eine Ausbildung zu bewerben. Sie verglich die NYP-Webseite mit der anderer Lehrstellenanbieter. Dabei fiel ihr auf, «dass bei NYP ein weniger grosser Zeitdruck herrscht als bei anderen Firmen». Bei NYP hat das System: Lernende sind schon sehr früh an Projekten beteiligt, und das gefiel ihr. Der moderate Zeitdruck hat damit zu tun, dass «Informatik komplex ist, und da dauert es schon eine gewisse Zeit, bis Lernende produktiv arbeiten können», erklärt Adrian Krebs, Geschäftsführer der Noser Young Professionals und verweist auf Maurer- oder Bäckerlehrlinge, die bereits vom ersten Tag an produktiv sein können und müssen.

Neue Wege der Nachwuchsförderung

So verschieden die Ausgangslagen bei Gianluca Stoob und Corina Jaussi sind, so haben ihre Arbeitgeber eines gemeinsam. Sie gehen neue Wege bei der Suche nach jungen Talenten: Die 2010 gegründete Noser Young Professionals AG ist ein eigens für die Ausbildung gegründetes eigenständiges Unternehmen, das einerseits Lernende für die Verbundsfirmen der Noser Gruppe ausbildet, andererseits mit diesen produktive Dienstleistungen erbringt – auch für externe Kunden.

Die Sonova AG ist derweil bereit, für Lernende mit einem Handicap ihre Infrastruktur anzupassen. «Junge Menschen bringen inspirierende Ideen mit, und die Fachabteilungen brauchen gute Leute, darum engagieren wir uns sehr in der Nachwuchsförderung», erklärt Sarah Kreienbühl, Group Vice-President Corporate HRM & Communications bei der Sonova AG. Eine Behinderung des Lernenden ist dabei nebensächlich. Beim weltweit führenden Anbieter von Hörsystemen qualifizieren folgende Kriterien junge Talente für einen Ausbildungsplatz: «Motivation, Interesse, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und gute Noten», erklärt  Kreienbühl. All das habe Gianluca Stoob mitgebracht. «Er ist ein IT-Talent und hat uns durch sein Fachwissen, seine Zielstrebigkeit und seine offene Persönlichkeit beeindruckt. Das wollen wir fördern.»

Unterschätztes Potenzial

Entsprechend war Sonova auch bereit, für ihr Nachwuchstalent in die Infrastruktur zu inves-tieren. Screenreader-Software und eine zusätzliche Braille-Zeile für den Computer am Arbeitsplatz waren ein erster Schritt. Um Gianluca Stoob auch die selbständige Bewegungsfreiheit im Gebäude am Hauptsitz in Stäfa zu erleichtern, hat seine Arbeitgeberin zwischen den einzelnen Arbeitsstätten, den Büros und der Cafeteria ein taktiles Leitsystem eingeführt. Weitere Modifikationen sind notwendig, «denn diesen Sommer wird ein Lernender mit körperlichem Handicap seine Ausbildung bei uns beginnen», so Kreienbühl. Ein Engagement, das bei Sonova Tradition hat: Bereits 2015 hat man – nicht zum ersten Mal – einen Lernenden mit Hörverlust eingestellt.

Welche Voraussetzungen müssen für ein solches Engagement gegeben sein? «Es braucht eine gute Planung, ausserdem ist die Einbeziehung und eine enge Zusammenarbeit mit dem Umfeld sehr wichtig», erklärt  Kreienbühl. «Unsere Ausbilder wurden fachlich geschult, damit sie optimal auf die Lernenden eingehen können. Ausserdem haben wir auch unsere Ausbildungsmaterialien entsprechend angepasst.»
Die Erfahrungen hätten jedoch gezeigt, dass die Anstellung Lernender mit Handicap einen positiven Einfluss auf die Kultur und die Stimmung unter den Mitarbeitenden habe: «Sie bringen wertvolle Impulse und der soziale Zusammenhalt im ganzen Unternehmen wird gefördert. Das Potenzial von Lernenden mit Handicap ist viel höher, als manche vielleicht vermuten», so Kreienbühl.

Praxis statt «Simulationswerkstatt»

Während Lernende bei der Sonova AG einen kleinen Teil der Belegschaft ausmachen, stehen bei der Noser Young Professionals AG sieben festangestellte Mitarbeitende 59 Lernenden gegenüber. «Unser Modell ist keine Simulationswerkstatt. Dozenten an einer Hochschule sind eher Theoretiker, unsere Ausbilder hingegen vereinen Theorie und Praxis, das motiviert und kommt den Lernenden entgegen», erklärt Adrian Krebs. «Bei uns sollen die Lernenden schon im ersten Jahr einzelne Arbeiten in den Verbundsfirmen übernehmen können.» Dabei sei die benötigte Arbeitszeit sekundär. «Das Aufsetzen einer Website dauert im Normalfall eine Woche. Wenn wir es durch einen Lernenden machen lassen, dauert es vielleicht zwei Monate – dafür besteht für die Lernenden auch weniger Zeitdruck.» Habe es ein externer Kunde jedoch eilig, übernehme einer der festangestellten und ausgebildeten Ingenieure den Auftragsabschluss.

Weitere Vorteile des Modells sieht NYP-Geschäftsführer Adrian Krebs im Mehrwert, der für die Nachwuchsplanung der Verbundsfirmen innerhalb der Noser Gruppe geschaffen werde: «Gerade beim Recruiting neuer Mitarbeitenden sind die Kosten für die Verbundsfirmen sehr hoch», erklärt Krebs. «Viele NYP-Lernende bleiben nach der Ausbildung der Gruppe als ausgelernte Fachleute erhalten.» So herangezogene Nachwuchsmitarbeitende seien flexibler einsetzbar und bereits mit der Unternehmenskultur und den Arbeitsvorstellungen vertraut – im Gegensatz zu extern rekrutierten Mitarbeitenden. «Fast 100 Prozent unserer Lernenden können wir nach der Ausbildung einen Job anbieten», erklärt Krebs.

Non-Profit-Inhouse-Ausbildung

Das Ausbildungsmodell der Noser Gruppe bringt hohe Kosten mit sich. «Daher brauchen wir Projekte, um Einnahmen zu generieren», erklärt Krebs. Zwar biete man im Rahmen des sozialen Engagements auch kostenlose Projekte an, sei aber auch auf zahlende Kunden angewiesen. Inzwischen bietet NYP als weitere Einnahmequelle das Basislehrjahr auch externen Unternehmen an: «Sechs Firmen haben das Angebot bereits angenommen – darunter auch Coop/Interdiscount – und wir hoffen, dass es demnächst acht sein werden», so Krebs.

 

Die Noser Young Professionals AG nimmt innerhalb der Noser Gruppe einen Non-Profit-Status ein. «Seit unserer Gründung haben wir immer kostendeckend gewirtschaftet, dabei sind wir jedes Jahr zwischen 40 und 60 Prozent gewachsen», erklärt Krebs sichtlich stolz. «Haben wir einen Überschuss, kann dieser beispielsweise zur Finanzierung des Nothelferkurses für die Lernenden verwendet werden – das bietet für sie einen zusätzlichen Anreiz – oder wir bieten gar eine zusätzliche Ausbildungsstelle an.»
Ein kleiner Teil des Umsatzes fliesse aber auch an die Verbundsfirma der Noser Management Gruppe zurück: «Denn viele Services, wie etwa Legal & Compliance oder auch HR-Dienstleistungen, werden von Noser Management übernommen.»

Best Case 1: Sonova AG

Gianluca Stoob ist angehender Informatiker und EFZ-Applikationsentwickler und wird bei der Sonova persönlich und individuell gefördert.

Herr Stoob, Sie wollten weder Bürokaufmann noch Masseur lernen – Berufe, die Blinde oft ergreifen. Warum haben Sie sich für die Informatiker-Lehre entschieden?

Gianluca Stoob: Ich habe schon sehr früh einen Computer mit Braille-Zeile und Screenreader-Software bekommen. Was damit alles möglich ist, hat mich sehr fasziniert. Deshalb habe ich bei Sonova einen Schnupperbesuch gemacht und im Anschluss eine Schnupperlehre. 2013 habe ich die Lehrstelle bekommen. Ich habe gleich gemerkt, dass ich bei Sonova wirklich etwas lernen kann. Hier entwickle ich Software-Applikationen für Datenbanken, Websites oder Desktop-Anwendungen. In den bald zwei Jahren habe ich sehr viel gelernt. Programmieren finde ich cool. Ich schreibe los und wenn ich das Endergebnis habe, gibt mir das ein wirklich gutes Gefühl.

Was würden Sie anderen (seh-)behinderten Schülern auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz raten?

Sie sollen auf keinen Fall aufgeben, sondern ihren eigenen Traum verwirklichen. Wenn man etwas kann, dann schafft man es auch, andere davon zu überzeugen. Diese Einstellung «Hey, ich kann das auch!» sollen sie rüberbringen.

Was sagen Sie zu den Anpassungen, welche die Sonova am Hauptsitz für Sie vorgenommen hat, und was stünde noch auf Ihrer Wunschliste?

Das Leitsystem ist eine super Arbeit – die Linien führen genau dorthin, wohin sie sollen. Allein schon, dass Sonova bereit war, das zu machen, rechne ich meinem Arbeitgeber hoch an. Alles, was ich bei meiner Arbeit benötige, wurde umgesetzt. Als «nice to have» würde ich es begrüssen, wenn die Kaffeemaschinen vom Touchscreen wieder auf normale Tastatur umgestellt würden.

Sonova AG

Die Sonova, zu der die Kernmarken Phonak, Unitron, Connect Hearing und Advanced Bionics gehören, ist der führende Hersteller von Hörlösungen mit Hauptsitz in Stäfa. Das Unternehmen hat seine Investitionen in die Berufsbildung in den letzten drei Jahren erhöht und die Zahl der Ausbildungsplätze von 22 auf 44 verdoppelt. Mittlerweile bietet die Sonova Ausbildungsplätze für zwölf verschiedene Lehrberufe an.  

Best Case 2: Noser Young Professionals AG

Corina Jaussi ist angehende Informatikerin und EFZ-Applikationsentwicklerin bei der Noser Young Professionals AG.

Frau Jaussi, was hat Sie als junge Frau auf den Geschmack einer IT-Lehre gebracht?

Corina Jaussi: Ich wollte eigentlich zuerst in Richtung soziale Arbeit gehen. Aber ich habe ein paar Freunde, die in der Informatik-Branche tätig sind. Sie hatten mir immer wieder mal ein paar Aufgaben gestellt – das hat mich neugierig gemacht. Und mit Informatik kann man durchaus auch helfen. Am Anfang war ich noch etwas schüchtern, aber ich habe inzwischen sehr viel gelernt, gerade bei Projekten. Und je mehr ich gelernt und nachgefragt habe, desto selbständiger bin ich geworden. Wenn ich nun im dritten Lehrjahr zu einer Verbundsfirma komme, kann ich selbständig arbeiten.

Die Lehrlinge der Noser Young Professionals bearbeiten Projekte für Verbundsfirmen der Noser Gruppe und für externe Kunden – was war bisher Ihr Highlight?

Ich habe schon Webprojekte für externe Kunden übernommen, etwa für eine Immobilienfirma. Zudem durfte ich unsere Software, die ich mitprogrammiert habe, Berufsbildnern präsentieren, die einen Weiterbildungskurs bei der Lernwerkstatt Olten besuchten. In einem anderen Fall war ich bei einem Prozess von der Kundenanfrage über die Realisierung, bis hin zur Abgabe dabei, das hat mir sehr gefallen. Ich habe bisher noch nicht mit allzu vielen Firmen der Gruppe zu tun gehabt, ausser mit Bucher + Suter, die hier im gleichen Haus sind. So konnte ich an einem Meeting mit Bucher + Suter Deutschland teilnehmen. Die Besprechung über ein mögliches Projekt war sehr spannend. Es ist gut, dass viele der Verbundsfirmen hier im gleichen Haus sind, da lernt man einige Leute kennen und damit auch die Firmen. Mein absoluter Favorit ist aber Noser Young Professionals.

Noser Young Professionals AG

Die Noser Young Professionals AG ist ein eigenständiger Teil der Noser Gruppe für berufliche Grundbildung und Weiterbildung. 2010 mit neun Lernenden gegründet, beschäftigt sie heute an zwei Standorten (am Hauptsitz in Bern und an der Zweigstelle in Zürich) 59 Lehrlinge und sieben ausgebildete Mitarbeitende, die auch produktive Dienstleistungen für die Partner in der Noser Gruppe und gegenüber externen Kunden erbringen.

 

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