Im Gespräch

Vom Ego- zum Eco-Prinzip

Gerd Leonhard war als Internet-Startup-Pionier auf Du und Du mit den Gründern von Napster und Ebay bis kurz vor Börsengang die Blase platzte und er alles verlor. Um diese ­Erfahrungen reicher, kennt er die Mechanismen der digitalen Ökonomie aus eigener Anschauung. Heute berät er Firmen wie Google, Unilever und WWF. Der Futurist über die Folgen der digitalen Transformation und die Zukunft der HR-Zunft.

Herr Leonhard, wie verdient man eigentlich sein Geld als Futurist?

Gerd Leonhard: Der Begriff «Futurist» ist im angelsächsischen Raum längst etabliert und auch die französische Hemisphäre kennt den Begriff «Prospective». In der DACH-Region sind wir – quasi genetisch – auf Vorsicht programmiert und verharren deshalb stärker in der Gegenwart. Wir haben einen ganz anderen Blick darauf als die Engländer oder Amerikaner. Das ist auch nicht unbedingt schlecht. Es ist durchaus auch gut, wenn man bewahren kann. Die Natur zum Beispiel. Aber auch im Sinne des kollektiven Nutzens, dass etwas also auch der Allgemeinheit nutzen soll und nicht nur einer Firma, wie das im amerikanischen Hyperkapitalismus oft der Fall ist. Aber gerade in Deutschland ist es undenkbar, dass man – wie in den USA üblich – fünf bis zehn Prozent seiner Arbeitszeit in die Auseinandersetzung mit der Zukunft seiner Firma investiert. Und dies auf ausdrücklichen Wunsch des Managements. Hierzulande ist es ja viel zu oft so, dass die Beschäftigung mit Zukunftsfragen als Zeitverschwendung betrachtet wird. Bloss keine Experimente! Das ist dieses typische Maschinendenken, wonach man nur macht, was produktiv ist. Das wird paradoxerweise zur absoluten Unproduktivität führen.

Sie bezeichnen das Internet als «eine einzige Kopiermaschine». Was ist für Sie dann Web 3.0?

Ein weiterer etwas unbeholfener Versuch, den Megatrend der Digitalisierung mit Zahlen normativ erfassen zu wollen. (lacht) Das ist so ein Kunstbegriff wie Social Media. Wir gehen jetzt in eine Gesellschaft hinein, wo der ständige Zugang zum Internet eine Realität ist, wie zu Wasser oder Strom. Das heisst: Wir sind online vernetzt. Genau so wie wir atmen.

Welche Bedeutung hat dies für das HR?

HR wird in der Zukunft nicht mehr Human Resources heissen, sondern eher etwas wie «People Management». Denn der Begriff «Human Resources» folgt der alten Vorstellung des Menschen als Maschine oder Roboter. «Humans» sind aber eben keine solchen «Resources» im industriellen Sinn. In Zukunft wird es darum gehen, genau die Dinge zu machen, die eben nicht von Maschinen erledigt werden können. Diesen Shift weg vom Maschinendenken muss gerade das HR zuerst einmal erkennen. Es wird künftig nicht mehr nur um Hire and Fire und Optimierung von Prozessen gehen, sondern darum, die Zukunft durch die Verknüpfung von Mensch und Technologie zu gestalten. Da entstehen ganz neue Anforderungen und Möglichkeiten für den HR-Manager. Das ist ein guter Trend. Denn der Job wird spannender. Die Frage lautet: Welche Jobs wollen wir in Zukunft eigentlich haben? Wie finden uns die richtigen Leute und wie finden wir sie? Der HR-Abteilung wird die Aufgabe zufallen, eine Art «Zukunftspilot» zu sein. Das Vorausdenken ist Teil der HR-Rolle. Ich werde deshalb auch relativ oft von HR-Abteilungen angefragt, solche Gedanken anzuschieben oder weiterzutreiben.

Werden wir in Zukunft weniger arbeiten?

Definitiv. Teilweise werden wir auch gar nicht mehr arbeiten und trotzdem bezahlt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass zumindest in unseren Breitengraden früher oder später das bedingungslose Grundeinkommen kommen wird. In grossen Ländern ist das weniger einfach zu realisieren. In Zukunft werden wir uns überlegen müssen, wem wir wie viel bezahlen. Ich glaube, dass heute vielen Leuten sehr viel bezahlt wird, die eigentlich wenig tun, aber eine spezifische Funktion ganz genau wahrnehmen können: etwa Entscheidungen treffen und Dinge erkennen und verknüpfen können. Das Modell, wonach man acht bis zehn Stunden arbeitet und proportional dazu sein Gehalt erhält, geht zu Ende. Wir werden immer weniger nach Zeit, sondern nach Leistung und Funktion vergütet werden. Man wird auch deutlich mehr Arbeitsmodelle auf Mandatsbasis beobachten können. Damit werden sich flexiblere Arbeitsmodelle durchsetzen mit Arbeiten, die auch von unterwegs oder zu Hause aus erledigt werden können.

Was bedeutet diese Entwicklung für den Leadership-Begriff?

Es wird dazu führen, dass meine Autorität über meine Angestellten darin besteht, dass ich sie alle gut verknüpfen und zusammenführen kann. Nicht, dass ich sie kontrollieren kann. Leadership besteht nicht darin, mehr Followers, sondern mehr Leader zu schaffen. Ich stehe als Leader künftig nicht einfach in der Mitte und verteile Aufgaben, sondern ich sorge dafür, dass Connections stattfinden. Das wird künftig eine ganz wichtige Leadership-Aufgabe sein. Denn das System funktioniert künftig mehr wie ein Spinnennetz als wie ein Fahrrad. Also vernetzt. Für HR bedeutet das eine Wahnsinnsherausforderung, aber eben auch eine Riesenchance.

Was zeichnet morgen einen guten HR-Menschen aus?

In den letzten zwei Jahren ist das ganze Thema HR ziemlich explodiert, weil die HR-Abteilungen sich sehr stark verändert haben und heute ein «Driver of Change» sind. Denn sie merken, wenn die Angestellten nicht mehr mit den Anforderungen zusammenpassen. Firmen brauchen heute generell – aber auch im HR – immer mehr Leute, die Social Media und Big Data verstehen. Aber diese Leute existieren zu grossen Teilen noch nicht. Die gibt es zwar schon, aber ausserhalb der Firmen. Für viele Firmen ist das eine Riesenherausforderung. Denn die, die schon da sind, sind bereits damit beschäftigt, das Alltagsgeschäft zu erledigen. In Zukunft sollte sich jeder Mitarbeiter auch mit Zukunftsfragen beschäftigen. Ich sage meinen Klienten immer, dass das zwar gut und recht ist, was sie heute machen, dass sie aber mit Vorteil drei bis fünf Prozent der Arbeitszeit ihrer Leute dafür einsetzen sollten, sich damit zu befassen, dass die Geschäftsmodelle in fünf Jahren sich zumindest 50 Prozent verändert präsentieren werden. Das ist so der Erfahrungswert, den man jetzt sieht.

Zum Mitschreiben: Drei bis fünf Prozent …

… der Zeit der Angestellten – und zwar durchs Band weg auf allen Positionen – sollte darauf verwandt werden, zu sagen: «Ok, wie können wir uns denn neu erfinden, sodass wir in fünf Jahren in dieser komplett neuen digitalen Welt immer noch existieren?» In einer Welt, die wirklich dramatisch anders sein wird. – Wir werden fünf Milliarden Leute auf dem Internet haben …

… während es heute …?

… 2,2 Milliarden sind. Wir werden digitales Geld haben. Wir werden Roboter haben. Wir werden Dinge haben, die sich heute noch wie Science Fiction anhören. – Noch! Wenn wir heute fünf Jahre zurückschauen, beobachten wir Phänomene, die wir uns kaum erträumten.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel Tablets. Solche waren ja schon vor 15 Jahren mal auf dem Markt. Aber bald hat wirklich jeder ein Tablet. Das geht heute preislich bereits bei 50 Franken los. In fünf Jahren wird ein Tablet mehr oder weniger umsonst sein, weil es immer billiger wird, solche Geräte zu produzieren. Es braucht zurzeit noch 340 Leute, um ein iPad zusammenzubauen. In drei Jahren sind es noch zehn. Das bedeutet in der Konsequenz aber auch, dass Leute anders lesen und lernen werden. Dass sie Informationen anders suchen. Und dass sie auch ihre Entscheidungen anders treffen werden, weil sie immer online sind. Das verändert den ganzen Arbeitsmarkt.

Welche Profile werden in Zukunft profitieren?

Sagen wir mal so: Die Qualifikationen, die eine Firma heute braucht, sind dramatisch anders als das, was sie in fünf Jahren braucht. Weil auch das, was sie tut, ganz egal in welchem Segment, sich dramatisch verändern wird durch die digitalen Einflüsse und die Transformation. Die SBB zum Beispiel braucht inzwischen immer mehr Leute, die etwas über Technologie wissen, die mit Daten und Social Media umgehen können, die Privatsphäre schützen können und gleichzeitig die Mobilität verstehen. Vor fünf Jahren hatte man ein Hardcore-IT-System. Das war’s. Der Kunde hatte keine Möglichkeit, sein Ticket auf seinem Handy zu buchen und vorzuweisen. Wenn wir jetzt fünf Jahre nach vorne denken, können wir sagen: Die Schweizer Bahn wird künftig Leute wahrscheinlich auch virtuell transportieren. Also zum Beispiel vermehrt über Telekonferenz, Statt ein Zugticket zu kaufen, reise ich durch Telepräsenz. Das ist naheliegend, da die SBB auch Datennetze betreiben.

Gibt es weitere Beispiele?

Das Banking wird in fünf bis acht Jahren radikal umstrukturiert sein. Regulatorisch aber auch aufgrund der Einführung von digitalem Geld. Wir werden früher oder später nur noch digital bezahlen. Da sind wir jetzt schon sehr weit. Peer-to-Peer-Money, Bitcoin, diese ganzen digitalen Encrypted Currencies … Die Leitwährung der Zukunft wird digital und international verankert sein. Aber nicht nur das. Auch die ganze Art und Weise, wie Banking stattfinden wird, welche Gebühren gezahlt werden und wie Transaktionen getätigt werden. Das macht man heute schon weitgehend via Internet und auch mobil. Es gibt immer weniger Nutzen für eine physische Bank. Man kann davon ausgehen, dass in acht bis zehn Jahren 70 Prozent der gesamten Einnahmeströme von Banken komplett umgekrempelt sein werden. Zum Beispiel kann ich jetzt mit dem App «TransferWise» mei-nem Sohn Geld nach Amerika schicken für drei bis fünf Dollar Gebühr. Mach ich das bei der CS, kostet es mich 20 bis 40 Dollar. Die Banken haben künstliche Barrieren aufrechterhalten, weil sie Geld ­verdienen wollten, obwohl die neue Technologie längst da war. Insofern beobachten wir heute überall, wie durch die digitale Transformation ganz neue Geschäftsmodelle entstehen. Gut funktionierende Beispiele sind Ebay oder Airbnb, wo die Gesetzgebung allerdings noch hinterherhinkt.

Zur Person

Gerd Leonhard (53) ist im Rheinland als Förstersohn geboren. Nach einem Theologiestudium wendet er sich seiner Leidenschaft, der Musik, zu. In San Francisco lernt er von Grössen wie Tuck Andress. 1986 erhält er ein Stipendium am Berklee College of Music in Boston und gewinnt den Quincy Jones Award für Komposition. Nach Jahren als Berufs­musiker in den USA kehrt er 1992 nach Deutschland zurück und arbeitet für die Europäische Kommission in der Förderung der Kreativwirtschaft.

1997 erkennt er das Potenzial des Internets und entwickelt eine Online-Musik-Plattform für TV- und Filmmusikproduzenten. Im Nu beläuft sich sein Venture-Kapital auf über 10 Millionen Dollar. Infolge Crash der Dotcom-Blase und 9/11 muss er Konkurs anmelden. Seine Erfahrungen verarbeitet er im Bestseller «The Future of Music».

Heute berät er als Gründer und CEO von The Futures Agency GmbH namhafte ­Unternehmen, darunter Google, Sony, Unilever oder den WWF. Das global tätige Unternehmen beschäftigt als Netzwerk organisiert weltweit 21 Futuristen und Zukunftsforscher. Leonhard ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt in zweiter Ehe mit einer Schweizerin in der Nähe von Basel.

Was kann das HR daraus ableiten?

Das Banking ist das beste Beispiel. Dort geht es für die HR-Leute nicht nur darum, gute Mitarbeiter zu finden, sondern auch zu schauen, welche Leute man als Institution morgen brauchen wird, um sich neu zu erfinden. Es geht also um Workforce Planning, Change Management und ein Bewusstsein für neue Skills. Die Herausforderung für HR ist eigentlich ganz simpel. Nämlich, dass  in den nächsten 10 bis 15 Jahren bis zu 50 Prozent aller Jobs automatisiert sein werden. Was die globale Perspektive betrifft, so sagt der Oxford Report, dass in den nächsten 20 Jahren weltweit im Schnitt 45 Prozent aller Jobs automatisiert sind.

Wie wird das die Situation in der Schweiz prägen?

In einem kleinen Land kann man die Ressourcen immer wieder anders aktivieren. Es lassen sich auch die Aus- und Weiterbildung schneller und flexibler anpassen, damit die Leute andere Skills entwickeln können. Aber es wird uns auch treffen. Zum Beispiel Buchhalter, Check-out-Leute im Supermarkt oder auch Marketing- und Financial Analysts. Ich brauche keinen, der mir eine Aktie analysiert. Das kann ein Computer. Alles, was repetitiv automatisiert und rationalisiert werden kann, das können Maschinen früher oder später. Auch über die Wirtschaftskraft von Singapur ­einen Artikel schreiben, das kann eine Software früher oder später zu 95 Prozent erfüllen. Wenn es aber darum geht, eine Meinung über den Absturz des malaysischen Flugzeugs über der Ukraine zu schreiben, ist es etwas anderes. Dann wird es mehr «human».

Wird man bald auch humane Skills modellieren?

Früher oder später schon. Momentan nicht. Deshalb sollte die menschliche Arbeitskraft dort eingesetzt werden, wo sich eine Arbeit nicht mit Computern automatisieren lässt. Also für alle Arbeiten, welche die rechte Hirnhälfte betreffen: Alle Bereiche, die mit Design, Vorstellungskraft und Kreativität zu tun haben oder auch damit, Dinge zu verknüpfen und zwischen den Zeilen zu lesen und darauf basierend kreative Entscheidungen zu treffen – all diese Bereiche werden noch lange menschlich bleiben, weil sie der Computer nicht so leicht emulieren kann.

Bedauern Sie diese Entwicklung?

Man kann es bedauern, aber ich glaube nicht, dass wir gross eine Wahl haben. Die Technologie ist da und wird immer billiger. Im «Zeitalter der smarten Maschinen» sind wir darauf angewiesen, dass wir noch «menschlicher» werden. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass wir im Arbeitsbereich in den letzten 50 Jahren quasi selber zu Robotern geworden sind, weil wir automatisierte Arbeit immer wieder machen. Business as usual. Diese Jobs werden wegfallen. Das ist eigentlich eine gute Sache.

Was ist Ihre Botschaft ans HR?

Wir brauchen im HR Leute, welche die Zukunft verstehen. Solche, die vorausschauen können und ihre rechte Hirnhälfte benutzen. Also Leute, die nicht Rechner oder Zähler oder Ausführer sind, sondern solche, die primär kreativ sind. Bei allen Firmen wird es verstärkt um Kreativität, Innova­tion und Verknüpfung gehen. Denn das Business wird immer komplexer und internationaler. Man muss sich stärker der Frage zuwenden, was Leute kreativ leisten können. Künftig wird man auch mehr Leute brauchen, die eigenständig sind. Die Macht in den Firmen zieht an die Aussenstellen, nicht in die Mitte. Die Firma von morgen ist ein vernetztes System. Es geht also nicht darum, dass ein CEO alles bestimmt. Der Kader ist zwar in der Mitte, jedoch mit vielen Positionen darum herum, die auch eigene Macht entwickeln müssen, damit es mit einer Organisation schneller vorangeht. Man wird mehr Mitdenker und Querdenker brauchen. HR wird demnach als Drehscheibe künftig eine ganz zentrale Funktion in der Strategie der Firma einnehmen. Ein Chief People Officer muss deshalb einerseits Technologie verstehen und zwar von A bis Z und in allen Varianten – egal ob es um Mobile, Social Media, Big Data, Artificial Intelligence, Video oder Marketing geht –  und er muss Menschen gut verstehen. Und er muss den Kontext der Firma verstehen.

Inwiefern?

Welche ethischen Gesichtspunkte und Sustainability-Aspekte gibt es? In fünf bis zehn Jahren werden die meisten Produkte nicht mehr gekauft, weil sie billiger oder besser sind, sondern weil sie über eine Reputation verfügen, die den Kaufanreiz stimuliert. Es geht um den Wechsel von einem radikalen Ego-System – da ging es um meinen Job, meine Firma, meine Zukunft, mein Land – hin zu einem Eco-System, wo man sagt, wenn wir das alles gemeinsam erreichen, ist der Benefit viel höher. Terrorismus, Cyber-Security, Food, Wasser, Energieversorgung: Das alles können wir nicht alleine lösen.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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