Heft Nr. 9/2015: Im Gespräch

«Wir sind super Schwächlinge geworden»

Matthias Horx gehört zu den profiliertesten Zukunftsforschern im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch über Rolle und Bedeutung der HR-Funktion, dumme Männerfantasien und warum der Generationen-Diskurs seiner Meinung nach überschätzt wird.

Herr Horx, Sie fordern, dass Zukunftsforschung irritieren soll. Angenommen, Sie würden für HR-Verantwortliche einen Workshop machen, wie würden Sie diese irritieren?

Matthias Horx: Das setzt voraus, dass man für die Irritation eingeladen wird und nicht für die Lösung eines bestimmten Problems. Banken fragen mich heute: «Brauchen wir in Zukunft noch Geld?» (Lacht) Das fragen mich die Banken. Das ist natürlich interessant, weil es irritiert und weil eine Weisheit des Spürens darin verborgen ist, die die richtigen Fragen stellt. Die Ausgangsfrage im HR muss lauten: Wozu dienen Organisationen eigentlich noch? Brauchen wir sie überhaupt? Was waren sie früher und was werden sie morgen sein?

Sie sehen die grösste Wirkungskraft des HR also darin, auf eine Organisation zu wirken?

Es gibt zwei Arten, wie man das HR auffassen kann: Die eine besteht quasi in der Verwaltung von bestehenden Qualifikationen. Die andere besteht in der Herstellung neuer Kooperationen – auch im Rahmen der Organisationsentwicklung. Das ist die irre Spanne des HR. Da habe ich das Gefühl, dass wir früher auch schon weiter waren und dass viele Firmen das HR wieder in die reduzierte Funktion der Personalverwaltung zurückdrängen. Obwohl es das Lernen und Wissen des Personals ist und nicht die Sachgüter und Innovationsabteilungen, die ein Unternehmen ausmachen. Ich habe das Gefühl, dass diese Interpretation des HR gerade eher ins Stocken gerät.

Bezieht sich diese Wahrnehmung vor allem auf Deutschland?

Ich habe wahrscheinlich schon einen westlich geprägten Blick. Aber ähnliche Trends in der Systementwicklung von Personal gab es überall. Auch in Asien. Und auch in sehr hierarchischen Unternehmen hat man angefangen neu nachzudenken. Aber seit dieser scheinbaren Krise gibt es ein unendliches Verlangen nach Konsolidierung. Das ist immer so. Krisen werden auch dazu benutzt, Dinge zurückzudrehen, ohne Fortschritte zu machen. Meiner Meinung nach liegt das Strukturproblem darin, dass die Leute, welche die Unternehmen für die Zukunft eigentlich bräuchten, heute nicht mehr an diesen Unternehmen als Arbeitgeber interessiert sind. Ein Phänomen, das diese Firmen gar nicht bemerken, weil man natürlich immer nur die Bewerber sieht. Aber diejenigen Arbeitnehmer, die selbständig und entrepreneurhaft denken, die sagen oft: «Ich tu mir das gar nicht erst an, in ein grosses Unternehmen hineinzugehen.»

Sie haben in Ihrem Referat konstatiert, dass derzeit eine gewisse «Angstkultur» um sich greift. Sei es auf geopolitischer Ebene oder im Privaten. Leben wir in einer Zeit der ständig zunehmenden Stresskultur?

Ich glaube nicht, dass der Stress generell zunimmt. Ich glaube aber, dass sich gewisse gesellschaftliche Wahrnehmungen zu einer Art Gerücht verselbständigen. Wenn wir die Balance zwischen Privatleben und Arbeitswelt anschauen, ist diese wahrscheinlich subtiler und differenzierter, als sie es jemals war. Gerade in der Schweiz. Hier sind so viele Puffer eingebaut. Die Hysteriebereitschaft innerhalb der Gesellschaft ist hoch und wir weisen heute andere Zustände als Problemlagen aus. Wenn früher jemand ein Problem mit seinen dementen Eltern hatte, war das sein persönliches Problem. Heute wird das in allen möglichen Kanälen thematisiert. Und das ist gut so. Wir legen quasi die «Problemlatte» weiter herunter. Was früher normal war, wird heute problematisiert. Wir sind super Schwächlinge geworden, weil wir uns Dinge eingestehen können, die vielleicht früher verdrängt worden sind. Es gibt eine wachsende Sensibilisierung in der Gesellschaft. Das hat natürlich immer den Preis, dass ganz viele sich da dran hängen und sich dann gerne als Opfer deklarieren. Früher hat man gesagt: «Jetzt gehen wir eins saufen, war ja ein starker Arbeitstag.» Heute sagt man: «Ich habe ein Burnout.» Das sind letzten Endes Interpretations- und Zuordnungsfragen. Das wird solange so sein, wie wir in einer Enklave des Wohlstands leben. In der allgemeinen Wahrnehmung wird das immer so interpretiert, als ob die Menschen oder die Arbeitswelt immer schlechter würden. Das ist natürlich Unsinn.

Zur Person

Der deutsche Publizist und Unternehmensberater Matthias Horx (60) ist einer der bekanntesten Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Nach Abbruch eines Soziologiestudiums arbeitete er als Journalist und Buchautor. 1993 eröffnete er in Hamburg das «Trendbüro» und gründete vier Jahre später bei Frankfurt das «Zukunftsinstitut» mit Niederlassung in Wien, wo er mit seiner Familie lebt.

Ende März 2015 ist er im Rahmen des «Future Forum Lucerne» der Hochschule Luzern als Referent aufgetreten, das 2016 am 9. und 10. März stattfinden wird: blog.hslu.ch/futureforumlucerne. Am 14. September tritt Horx im Rahmen des Euroforums im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon auf.

Und es rückt ja auch eine neue Generation nach. Was halten Sie als Zukunftsforscher eigentlich von den soziologischen Kohorten X, Y, Z … ?

Gar nichts. Ich glaube, es gibt heute keine verlässlichen Generationskonstanten. Generationen konstituieren sich nur durch eingreifende radikale Wandlungsprozesse im Alltag. Es gibt eine Kriegsgeneration und eine Nachkriegsgeneration. Wenn Sie erlebt haben, wie Ihnen Bomben auf die Nase fallen oder dass Sie Trümmer aufgeräumt haben – das prägt! Aber ob Sie mit einer bestimmten TV-Show aufgewachsen sind, das ist viel weniger differenzierend. Das sind nur Nuancen.

Die Internet-Generation – nur eine «Nuance»?

Meine Söhne wenden sich gerade von der totalen Vernetzung ab. Es differenzieren sich also die einzelnen Altersgruppen bereits innerhalb dieser so genannten Internet-Generation sehr stark. Und dies teilweise quer durch die Altersgruppen hindurch. Das Generationenbild in der soziologischen Forschung ist zwar wunderschön einleuchtend. Wenn Sie X, Y, Z sagen können, ist das Publikum oft schon befriedigt. Aber je mehr ich mich damit beschäftige – und ich habe mich nun wirklich intensiv damit beschäftigt – desto halbseidiger kommt mir das vor. Diese sogenannten Digital Natives werden auch sehr schnell wieder zu Digital Unnatives, denn kein Trend geht ewig weiter. Ich bin der einzige in meiner Familie, der noch «World of Warcraft» spielt.

Stichwort «demografischer Wandel»: Die Menschen werden immer älter und gleichzeitig rücken weniger Jüngere nach. Denken Sie, dass die Älteren künftig länger arbeiten werden?

Klassische Arbeitsbiografien mit einem einzigen Arbeitgeber gehen definitiv zurück. Heute steigen Leute viel eher mit 50 aus, machen sich selbständig bis 60, steigen dann beim Schwager in einen Nebenjob ein und «betätigen» sich also nicht mehr in klassischen Lohnarbeitsformen. Und das bis 75. Da werden wir eher eine Diffusion erleben, indem die Arbeitsformen durchlässiger werden. Es verhält sich mit den Arbeitsformen gleich wie mit den Familienmodellen. Die klassische Kleinfamilie stirbt ja nicht aus, sie ist nur nicht mehr das einzig Notwendige. Deshalb hört man heute immer mehr von Leuten, die in einer Art «Halbselbständigkeit» arbeiten. Solche positiv atypischen Puzzle-Arbeitsbiografien wird man künftig vermehrt sehen. Der wahre Luxus einer Erwerbsgesellschaft wäre ja, wenn sich das Leben ein Stück weit vom Erwerb lösen könnte. Das ist ja eigentlich die verbleibende und zentrale Utopie. Und zwar ohne bedingungsloses Grundeinkommen, denn das hätte meiner Meinung nach falsche Steuerungsanreize. Ich meine damit die Befreiung aus dem Joch des seriellen Gelderwerbs, des Lohntakts. Dieses Phänomen begegnet uns auf verschiedenen Schienen: etwa, wenn Menschen erben oder bewusst eine konsumunintensive Lebensweise wählen. Deshalb ist heute in den Karriereentwürfen junger Männer auch diese «Schafhaftigkeit» weniger anzutreffen.

Was meinen Sie mit «Schafhaftigkeit»?

Dass die Männer zunehmend ahnen, dass sie keine Hausfrau mehr finden. Solche soziokulturellen Einflüsse wirken auf die Arbeitswelt zurück. Die sind viel grösser, als man denkt. Das geht vor allem auch auf das massiv gestiegene Bildungsniveau der Frauen zurück, die heute auch ganz andere Einstiegsmöglichkeiten haben.Gerade in der Schweiz scheuen allerdings viele Frauen vor einer Karriere zurück. Zu Recht, weil das männlich geprägte Verhaltensmuster Familie eigentlich unmöglich macht. Das drückt sich in der Zurückhaltung der Frauen in Bezug auf klassische Karrieren aus. Männer kommen sich allmählich ziemlich blöd vor, denn sie haben inzwischen natürlich auch Lust auf soziale Abwechslung und verschiedene Rollenmodelle. Es ist heute einfach langsam nicht mehr attraktiv, in einer Firma aufzusteigen, von der man sowieso nicht weiss, ob sie in der nächsten Krise wieder dahingerafft wird. Das führt dazu, dass traditionelle Karrierevorstellungen in den Hintergrund rücken und massiv an Attraktivität verlieren. Ein solches Verhalten wird von den HR-Abteilungen oft als Verweigerung angesehen, was meiner Meinung nach eine Fehlinterpretation ist. Die Theorie, dass die junge Generation so anspruchsvoll sei, ist meiner Meinung nach nichts anderes als die Variante von Aristoteles, wonach die Jugend immer faul ist.

Teilen Sie die These, dass aufgrund der Automatisierung heute 80 Prozent der Jobs, die es im Jahr 2020 geben wird, noch gar nicht erfunden sind?

Ach was! Blödsinn! Diese ganzen disruptiven Behauptungen, wonach Maschinen die Menschen ersetzen, das kommt in zyklischen Abständen immer wieder. Die Evolution der Arbeitswelt kann man nicht aus den Brüchen allein beschreiben. Was wir immer wieder erleben, sind Schübe von neuen Technologien, die dann neue Varianten des Alten freisetzen. Wir haben heute die höchste Erwerbstätigkeit, die wir jemals hatten. Warum? Weil das Arbeitssystem sich selbst natürlich immer differenziert und vom sekundären über den tertiären in den quartiären Sektor entwickelt. Heute gibt es viel mehr Künstler und Kreative. Wenn Sie in eine Stadt wie Berlin gehen, sehen, Sie, dass 25 Prozent der Leute im kreativen Sektor arbeiten. Gleichzeitig entsteht eine Nachfrage nach immer neuen Dienstleistungen, etwa in der Altenpflege. Aber Alterspflege durch Roboter ausführen zu lassen, das ist eine typische dumme Männerfantasie.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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