HR Today Nr. 4/2016: Freiwilligenarbeit

Zur Psychologie der Freiwilligenarbeit

Was lässt sich HR-Verantwortlichen empfehlen, wenn sie auf der Suche nach Motivatoren oder Anreizsystemen für ihr Personal sind? Zu oft blenden HR-Verantwortliche den Zusammenhang zwischen 
den Motiven in der Erwerbstätigkeit und solchen in der Freiwilligenarbeit aus, bemängelt Experte Theo Wehner. Ein solches Wissensdefizit lasse sich aber korrigieren.

Wann immer ich in den letzten 30 Jahren als Arbeitspsychologe mit HR-Verantwortlichen darüber diskutierte, wie die Mitarbeitenden zu motivieren, wie Engagement zu erwirken oder wie leistungssteigernde Anreizsysteme zu beurteilen seien, habe ich mich zunehmend gefragt, warum die Expertinnen und Experten für Human Resources nicht den Zusammenhang dieser Bemühungen mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement von Bürgerinnen und Bürgern im Allgemeinen und über die ausserbetrieblichen Eigeninitiativkräfte ihres Personals im Besonderen in ihre Überlegungen mit einbezogen haben.

Umgekehrt stellte sich mir in der Freiwilligenforschung der letzten 15 Jahre die Frage, warum Erwerbstätige, die sich zusätzlich bürgerschaftlich engagierten und beispielsweise für ihre aktuelle Initiative Unterstützung benötigten, nicht bei ihrem jeweiligen Arbeitgeber nachsuchten, sondern diese Quelle eher bewusst mieden oder eine Mitinitiantin vorschickten.

Unverständlich blieb mir lange Zeit auch, warum im privaten Gespräch mit freiwillig engagierten Personen bereitwillig Auskunft über die jeweilige Freiwilligenarbeit gegeben wurde – über das Ehrenamt oder die Miliztätigkeit in der Schulpflege etwa –, bei Bewerbungen aber lieber das Hobby (möglichst Angeln, da es der Regeneration dienlich ist) genannt wurde und auch die Nutzung des (bereits in den 1990er-Jahren lancierten) Schweizer Sozialzeitausweises von vielen dezidiert abgelehnt wurde – oder, wenn doch vorhanden, dem Bewerbungsdossier nicht angehängt wurde.

Während es auf Seiten der Freiwilligen um nicht leicht veränderbare, jedoch zunehmend unberechtigte Vorbehalte geht – wenn nicht gar um Vorurteile gegenüber den Arbeitgebern und ihrem Wohlwollen bezüglich der Freiwilligenarbeit ihrer Arbeitnehmenden – so geht es bei den HR-Verantwortlichen um ein Ausblenden des hier unterstellten Zusammenhangs zwischen den Motiven in der Erwerbstätigkeit und solchen, die in die Freiwilligenarbeit führen. Ein solches Wissensdefizit liesse sich leicht korrigieren, weshalb es hier im Zentrum steht und Wissen zur «Psychologie der Freiwilligenarbeit» vermitteln will.

Freiwilligenarbeit ist mehr als 
prosoziales Verhalten

Was immer wir als Menschen noch sind, wir sind fähig, spontan und uneigennützig Hilfe zu leisten und prosoziales Verhalten auch für lange Zeit aufrechtzuerhalten. Dies gilt nicht nur in Lebensgemeinschaften, Verwandtschafts- oder Nachbarschaftsbeziehungen, sondern auch Fremden gegenüber und macht selbst an den Grenzen der Wesensart nicht Halt: So zeigt Freiwilligenarbeit im Tierschutz eine ungebrochene Kontinuität. Spontanes Hilfeverhalten wird natürlich auch dort gezeigt, wo es die Job-Description nicht verlangt und wo es auch nicht vergütet wird. Genau darauf ist jedes Unternehmen angewiesen und unter dem Label Organizational Citizenship Behaviour (OCB) wird es heute auch bewirtschaftet – nicht uneigennützig, mitunter aber auch nicht rein opportunistisch.

Während das Auftreten von prosozialem Verhalten spontan und situativ geschieht sowie stärker von Empathie geleitet wird als von abgrenzbaren Motiven (die sich nicht auf Altruismus versus Egoismus reduzieren lassen), ist die Organisation der Freiwilligenarbeit in der Gesellschaft, aber auch die von Corporate Volunteering in Unternehmen, eine Herausforderung. Eine Herausforderung, der sich Unternehmen häufig gar nicht stellen und die auch für Non-Profit-Organisationen wohl zunehmend schwieriger wird, wenn man den anhaltenden Rückgang der Beteiligungsquoten berücksichtigt, wie ihn der aktuelle Schweizer Freiwilligenmonitor ausweist.

Dies liegt sicher auch am gesellschaftlichen Wertewandel (von den Pflicht- und Akzeptanzwerten zur Selbstentfaltung) und an der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft (hohe Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen, Arbeitsverdichtung etcetera). Es liegt aber auch, pathetisch formuliert, am Wesen frei-gemeinnützigen Engagements: Freiwilligenarbeit ist (im Gegensatz zum Corporate Volunteering!) selbstinitiiert, von der Gesellschaft nicht einklagbar beziehungsweise vertraglich gebunden. Und: Der Autonomieanspruch der Freiwilligen ist nicht verhandelbar. Damit geht ein solches Engagement weit über das prosoziale Verhalten hinaus. Es dient mehreren Motivfacetten (Erfahrungs-, Karriere- oder Selbstwertfunktion und andere), ist in hohem Masse kongruent mit den Werte- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Freiwilligen und vor allem sinngenerierend.

Sinngenerierung diesseits und jenseits 
der Erwerbsarbeit

«Jedem Dritten geht ein sinnvoller Job vor Karriere», titelte Die Welt. Die Zeitschrift GEO widmete dem Sinnthema ein ganzes Heft. Auch der Harvard Business Manager sucht nach dem Sinn der Arbeit und kommt zum Schluss: «Entscheidend ist nicht, was wir tun, sondern, ob wir in unserer Arbeit einen tieferen Sinn erkennen.» Genau dies, nämlich einen tieferen Sinn, erkennen Freiwillige und dies selbst dann, wenn sie – in fast auswegloser Situation – für Amnesty International Briefe an Regierungsbehörden schreiben, in der Bemühung, ungerecht Verurteilte aus den Gefängnissen der Welt zu befreien.

In der Auseinandersetzung um das Sinnthema wird meist eines übersehen: Sowohl für die Freiwilligentätigkeit als auch für die Erwerbsarbeit gilt, dass Sinn weder von aussen gestiftet noch vom Individuum erkannt, sondern höchst subjektiv und persönlich generiert wird. Sinn – im Gegensatz zum Glück – ist das, was bewusst wird, indem die realen Gegebenheiten als subjektiv erlebte Erfahrungen verarbeitet werden. Psychologisch gesprochen, existieren die vermeintlich objektiven Bedeutungen für das Individuum überhaupt nur als Realisierung des persönlichen Sinns, so zumindest die Kulturhistorische Schule, in deren Tradition wir forschen. Sinn ist somit nicht nur durch Erleben, also kontemplativ (Beine auf dem Schreibtisch und ein gutes Glas Rotwein in der Hand) zu erhalten, sondern auch im Tätig-Sein und im «Wie» des Leidens. Ist der «Wille zum Sinn» gefährdet, entstehen ein Gefühl der Leere und apathisches Verhalten, wie es mittlerweile in vielen Narrationen über die Erwerbsarbeit beschrieben wird und in Psychotherapien aufscheint.

Auch wenn in den HR-Kompendien und in gängigen Lehrbüchern zur Arbeitspsychologie meist selbst das Stichwort fehlt, liegt doch ein beachtenswertes Erhebungsinventar vor, mit dem sich Lebensbedeutungen messen und Sinnerfüllung beziehungsweise Sinnkrisen bestimmen lassen. Sinnerfüllung – so die Annahme eines Innsbrucker Forschungsteams – ist eine «basale Erfahrung von Sinnhaftigkeit und basiert auf der Bewertung des eigenen Lebens als kohärent, bedeutsam, zielgerichtet und zugehörig». In einer repräsentativen Studie konnten die Innsbrucker Kolleginnen nun zeigen, dass der Grad an Sinnerfüllung bei freiwillig Tätigen um eine halbe Skala höher liegt als in der Gesamtbevölkerung. Selbst für Arbeitslose, die noch ein Ehrenamt ausüben, gilt, dass sie statistisch bedeutend mehr Sinnerfüllung und weniger Sinnkrisen erleben als Arbeitslose ohne freiwilliges Engagement. In unserer Forschungsgruppe ist eine Studie zum Sinnerleben bei der Berufs- und Freiwilligenfeuerwehr durchgeführt worden, in der wir zeigen konnten, dass der Grad an Sinnerfüllung bei den freiwilligen Feuerwehrleuten statistisch bedeutend höher ist als bei der Berufsfeuerwehr.

Was lässt sich daraus lernen?

Ich komme zum Schluss auf die Anfangsbeobachtungen zurück: Was lässt sich, vor dem Hintergrund des kurzen Einblicks in die Freiwilligenforschung, HR-Verantwortlichen empfehlen, wenn sie auf der Suche nach Motivatoren oder Anreizsystemen für ihr Personal sind? Auch wenn sich die Sinnsuche keinesfalls auf die Freiwilligenarbeit beschränkt, lässt sie sich nicht in der betrieblichen Lebenswelt (womöglich auch noch durch ausgeklügelte Tools) managen: Sinngenerierung ist subjektiv und entzieht sich jedweder Stellvertreterpolitik!

Damit wird das Augenmerk wieder stärker auf die Arbeitstätigkeiten, die organisatorischen Abläufe und die Formen der Zusammenarbeit zu richten sein und hierbei vor allem den Austausch darüber anregen, wie von den Mitarbeitenden, den Teams und Organisationseinheiten Sinn generiert und Sinnerfüllung ermöglicht beziehungsweise erlebt wird. Nur durch den diskursiven Einbezug der Mitarbeitenden wird es möglich sein, auf Momente der Sinnfinsternis in der Erwerbstätigkeit aufmerksam zu werden und über die Einwirkungen auf die Arbeitsbedingungen Abhilfe zu schaffen.

Buchtipp

Wehner, T. & 
Güntert, S. (Hrsg.) (2015): 
Psychologie der Freiwilligenarbeit. 
Berlin: Springer

 

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Theo Wehner studierte Psychologie und Soziologie in Münster. Von 1989 bis 1997 war er Professor an der TU Hamburg; seit 1997 an der ETH Zürich, wo er im Sommer 2014 emeritiert wurde. Ein Arbeitsschwerpunkt bilden Forschungsprojekte zur frei-gemein­nützigen Tätigkeit (Volunteering) und zum frei-gemein­nützigen Engagement von Unternehmen (Corporate ­Volunteering).

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