HR Today Nr. 3/2017: Im Gespräch

«Die Schweiz ist fremdenfeindlicher geworden»

In den 1970er-Jahren zwecks sprachlicher und kultureller Integration von italienischen Zuwanderern gegründet, bietet ECAP heute Erwachsenenbildungsprogramme für Migranten und Flüchtlinge aus über 120 Nationen und ist inzwischen nach der Migros Klubschule die zweitgrösste Weiterbildungsorganisation der Schweiz. Ein Gespräch mit ECAP-Geschäftsleiter Guglielmo Bozzolini.

Herr Bozzolini, welchen Effekt hatte die Flüchtlingskrise auf Ihre Arbeit?

Guglielmo Bozzolini: Die Flüchtlingskrise ist in der Schweiz weniger gross, als man sie allgemein wahrnimmt. Die Zahl der Flüchtlinge ist in den letzten Jahren sicher gestiegen, aber nicht explodiert wie in Deutschland, Italien oder Griechenland. Die Schweiz ist für Flüchtlinge weniger attraktiv, als man meint. Zudem ist es nicht einfach, die Schweiz zu erreichen. Die Grenze in Como ist praktisch zu. Dabei habe ich 2011 am World Social Forum in Dakar erfahren, dass
Italien für afrikanische Migranten die Hölle ist.

Wegen Rassismus?

Auch. Die Italiener denken zwar, dass sie keine Rassisten sind, aber in der Realität sieht es anders aus. Und das sage ich als schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Für Migranten ist ein funktionierender Staat sehr wichtig, der den Empfang und die Betreuung im Griff hat und garantiert, dass die Abläufe nicht ewig dauern und man nicht in Lagern untergebracht wird, die wie Gefängnisse ausschauen. Allerdings gibt es auch noch eine weitere Dynamik: Die Migranten neigen dazu, in Länder zu gehen, wo es bereits Landsleute gibt. Syrer und Iraker reisten auch deswegen vor allem nach Deutschland.

Wo steht die Schweiz punkto beruflicher Integration von Migranten verglichen mit Deutschland?

Die Unterschiede sind gewaltig. Deutschland investiert viel mehr in die Integration von Migranten. Geld, aber auch Intellekt. Etwa in Form von neuen Lehrmitteln und innovativen Tools. In Deutschland hat man festgestellt, dass die allermeisten Migranten über ein Smartphone verfügen. Statt sich wie in der Schweiz darüber aufzuregen, hat man eine App entwickelt, die sich im Alltag sehr pragmatisch einsetzen lässt – etwa beim Einkaufen, beim Arztbesuch oder bei Behördengängen. Es gibt in Deutschland für Migranten sogar einen eigenen TV-Kanal. Bis vor wenigen Jahren war die Schweiz führend in der Integration von Migranten. Mit der jüngsten Flüchtlingswelle hat uns Deutschland meiner Meinung nach überholt.

Wie präsentiert sich Ihre Klientel?

Bis Ende der 1980er-Jahre haben wir uns vor allem um italienische Migranten gekümmert. Etwa mit Weiterbildungskursen zur Erlangung eines Schul- oder Berufsschulabschlusses oder mit Integrationskursen für Kinder der zweiten Generationen, die im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz gekommen sind. Anfangs der 90er-Jahre haben wir begonnen, uns zu internationalisieren, und bilden inzwischen Leute aus rund 120 Nationen aus, wobei die Italiener nur noch einen kleinen Teil ausmachen. In den Kursen für Flüchtlinge haben wir viele Leute aus Eritrea, aus nordafrikanischen Ländern und Nahost. Dabei muss man Folgendes unterscheiden: Wir bieten einerseits subventionierte Sprach- und Integrationskurse für anerkannte Flüchtlinge oder erwerbslose Migranten, haben aber auch viele Angebote auf dem freien Markt für Leute, die selber bezahlen. Es gibt gerade im Kanton Zürich viel mehr subventionierte Angebote für Nichterwerbstätige, während Erwerbstätige ergänzende Sprach- oder Weiterbildungskurse selber bezahlen müssen, obwohl sie sehr wenig verdienen. Das ist das Perverse am System. Leider gibt es seit rund zehn Jahren eine Explosion solcher Fälle: Menschen, die arbeiten, aber zu wenig verdienen, um sich eine Weiterbildung zu leisten, die sie nötig haben.

Worin sehen Sie die Gründe dafür?

Für gewisse Kategorien ist es sehr schwierig geworden, einen stabilen Job zu finden. Dazu zählen vor allem Personen in prekären Verhältnissen wie alleinerziehende Mütter oder Migranten mit ungenügenden Deutschkenntnissen. Die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt sind massiv gestiegen. Früher konnte man auch ohne grosse Deutschkenntnisse eine Hilfstätigkeit in der Industrie und im Dienstleistungsbereich ausüben. Auch auf dem Bau und in der Reinigung ist es viel schwieriger geworden, einen stabilen Job zu finden. Arbeitsrhythmus und Produktivitätsdruck haben massiv zugenommen. Zudem sind auch die Jobinhalte viel komplexer geworden.

Mit welchen Angeboten reagieren Sie auf diese Problematik?

Wir bieten Sprachkurse, aber auch soziale Integrationskurse mit allerlei Informationen, wie man sich in der Schweiz bewirbt und verhalten soll. Aber man sollte sich nicht nur um die soziale Integration der Migranten kümmern, sondern auch um die berufliche Qualifikation. Integration erfordert Zeit und es braucht bei den Behörden eine Mentalitätsänderung. So haben das Seco und die Erwerbslosenversicherungen vor ein paar Jahren den Slogan der «raschen Eingliederung» gewählt. Ich würde eher von «nachhaltiger Eingliederung» sprechen. Integration sollte wenn möglich sicher rasch geschehen, aber sie sollte unbedingt auch nachhaltig sein. Wenn man versucht,  die Leute zu rasch zu integrieren, stellen wir fest, dass man sie danach wiederholt «wiedereingliedern» muss, was oft in der Erwerbslosigkeit endet. Man muss am Anfang mehr investieren, wenn man später bei den Sozialausgaben Geld sparen will– diese Meinung vertritt übrigens auch die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.

Sollte man vor allem in die Sprache investieren?

Nicht nur. Die Sprache ist natürlich ein wichtiges Element. Mindestens ebenso wichtig scheinen mir jedoch Kurse der beruflichen Integration gemeinsam mit den Wirtschaftsverbänden. Die paritätische Kommission der Reinigungsbranche hat letzten Herbst sehr erfolgreich ein Flüchtlingsintegrationsprojekt in Zusammenarbeit mit uns lanciert. Alle zwölf Pilotteilnehmer sind nach fünf Monaten beruflich perfekt in die Firmen integriert.

Was halten Sie von der vom Seco für 2018 geplanten «Integrationsvorlehre»?

Ich habe einige Zweifel. Für junge Flüchtlinge kann das Modell funktionieren, dass sie nach einem intensiven Sprachkurs in eine normale Lehre integriert werden. Aber nicht alle Migranten sind Flüchtlinge und nicht alle Migranten sind jung. Für Leute, die über 40 Jahre alt sind, und solche, die eine Familie ernähren müssen, funktioniert das Modell möglicherweise weniger gut. Weil sie einerseits nicht mehr so schnell Deutsch lernen und sich andererseits nicht so leicht in eine normale Lehre mit Jugendlichen eingliedern lassen. Denn Erwachsene haben andere didaktische Bedürfnisse. Unsere Idee besteht deshalb darin, dass man für dieses Segment auch Nachholkurse anbieten sollte. Das Erwerben der deutschen Sprache sollte ein Ziel sein, aber keine Bedingung. Deshalb schlagen wir vor, parallel zu den Sprachkursen die Fachausbildung auch in der Muttersprache oder in vereinfachtem Deutsch anzubieten, um den beruflichen Integrationsprozess zu beschleunigen. Das funktioniert in der Baubranche mit portugiesischen Maurern oder italienischen Elektromonteuren bereits seit mehreren Jahren sehr gut. Dasselbe Konzept könnte ich mir mit Syrern in arabischer Sprache vorstellen. Nicht nur im Bausektor, sondern auch in der Reinigungsbranche, Gastronomie, Logistik oder Pflege, wo die Nachfrage nach Arbeitskräften explodieren wird. Dafür braucht es die Bereitschaft der Branchenverbände und Firmen, neue Wege zu gehen.

Können Sie Best Cases nennen?

Die Bau- und Reinigungsbranche gehören zu führenden Sektoren, die grosse Anstrengungen unternommen haben. Namentlich das Projekt «Sprachkurse auf der Baustelle» ist auch unter Kaderleuten der Baufirmen auf Unterstützung gestossen und hat dadurch eine sehr erfreuliche Dynamik entwickelt mit hunderten von Kursen und tausenden von Absolventen, die sprachlich ausgebildet wurden. Die Reinigungsbranche hat vor zehn Jahren eine Ausbildungsoffensive mit unzähligen Kursen gestartet. Das hat auch dazu beigetragen, dass viele Leute in diesen Berufen Karriere machen konnten oder sich sogar mit einer eigenen Firma selbständig gemacht haben.

Wie hat die Debatte um die Einwanderungsini­tiative Ihre Arbeit beeinflusst?

Unsere Arbeit ist nicht schwieriger geworden. Aber für unser Publikum ist es definitiv schwieriger geworden. Die Schweiz ist im Vergleich zur Situation vor zehn oder zwanzig Jahren einiges fremdenfeindlicher geworden. Man spürt das. Wir erhalten entsprechende Rückmeldungen. Paradoxerweise beschweren sich nicht die Flüchtlinge, sondern die, welche im Rahmen der Personenfreizügigkeit in die Schweiz gekommen sind: Also Portugiesen, Spanier, Italiener, die aufgrund der wirtschaftlichen Krise in ihren Heimatländern in die Schweiz gezogen sind. Sie sind zwar mit dem Job und der Lebensqualität sehr zufrieden, fühlen sich als Menschen aber nicht sehr willkommen. Erstens ist die Beherrschung der deutschen Sprache wichtiger geworden als früher. Zweitens  konkurrieren die neuen Migranten-Generationen aus Italien oder Deutschland heute mit Schweizern auch um höhere Positionen im Management, in der Forschung, in der Medizin oder auch im akademischen Bereich als Professoren. Das stösst auf Widerstand. Es hat nicht unbedingt mit einer Zunahme nationalistischer Ideologie zu tun, sondern damit, dass sich eine Gruppe von Menschen vor wirtschaftlicher Konkurrenz schützen will. Die Deutschen haben das thematisiert und können es sich heute auch eher leisten, nach Deutschland zurückzukehren. Die Italiener thematisieren das weniger, weil sie nur schon froh sind, überhaupt einen Job zu haben, und mehr verdienen als in Italien. Eine neue Fallstudie belegt diese Problematik und zeigt auf, dass es den Immigranten der neuen Welle beispielsweise schwerfällt, Schweizer Freunde zu finden und ihre Kinder in der Schule zu integrieren. In den 60er- und 70er-Jahren war die Politik völlig anders. Obwohl damals das Rotationsprinzip herrschte und niemand von «Integration» gesprochen hat, haben die Arbeitgeber sich etwa  bei der Wohnsituation viel stärker engagiert und  Wohnraum zur Verfügung gestellt. Heute kümmern sich die Arbeitgeber nicht mehr um solche Fragen.

Wie sehen Sie die Bedeutung und Rolle der Temporärbranche bei der Integration von Migranten?

In der Temporärbranche gibt es eine paritätische Lösung, wonach dank einem Fonds, Weiterbildungsmassnahmen gefördert werden. Das ist sehr positiv. Allerdings profitieren gerade in Tieflohnbranchen die Angestellten zu wenig von diesen Angeboten, weil viele Firmen, die Temporäre beschäftigen, zu wenig proaktiv informieren.

Welchen Appell richten Sie an die Arbeitgeber und damit verbunden ans HR?

Ich möchte an die soziale Verantwortung appellieren und dafür plädieren, nicht nur in der beruflichen Grundbildung Lehrstellen anzubieten. Die soziale Verantwortung der Unternehmen sollte sich auch in einem Engagement für die berufliche und soziale Integration von erwachsenen Migranten zeigen. Man kann nicht alles an die Kantone und Gemeinden delegieren. Es lohnt sich, in die berufliche und soziale Integration von Migranten zu investieren, weil die Produktivität höher wird. Es ist bekannt, dass durch Verbesserung der Kommunikation und Vermeidung von Missverständnissen auch die Unfallrate sinkt und es einfacher wird, neue Technologien einzuführen. Es lohnt sich, in die soziale Integration zu investieren, weil die Zufriedenheit und die Loyalität steigen. Zudem sollte die Wirtschaft einen Beitrag dazu leisten, die Fremdenfeindlichkeit zu bremsen.

Zur Person

Guglielmo Bozzolini (52) kommt 1988 wegen der Liebe zu seiner italienisch-stämmigen Frau, die in der Schweiz aufgewachsen war, als Elektroingenieur-Student in die Schweiz und beginnt bei ECAP als Informatiklehrer und Kursleiter zu arbeiten. Bald steigt er vom Bereichsleiter zum Regionalstellenleiter auf und wird zum Geschäftsleiter ernannt. ECAP ist ein gemeinnütziges und nicht gewinnorientiertes Erwachsenenbildungs- und Forschungsinstitut, das von der italienischen Gewerkschaft CGIL gegründet wurde und seit 1970 in der Schweiz tätig. 1984 wurde das Institut in eine Stiftung umgewandelt. Mit 22 Ausbildungszentren, über 900 Mitarbeitenden und mehr als 40 000 Personen, die jährlich die Bildungsaktivitäten besuchen, ist die Stiftung eine der grössten Erwachsenenbildungsinstitute in der Schweiz.

 

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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