HR Today Nr. 11/2016: Debatte

E-Mails nach Feierabend?

Mitarbeitende könnten sich dem dauernden Online-Sein nur schwer entziehen, wenn ihnen berufliche Sanktionen drohen, befürchtet Psychologe Andi Zemp. Für Interimsmanager Urs Bürge sind die Angestellten hingegen selbst dafür verantwortlich, wann sie ihre Mails beantworten.

Urs Bürge

Soll eine Firma am Feierabend den Mailserver ausschalten oder nicht? Ich bin der Meinung: Nein. Denn wann ist denn der «Feierabend» zeitlich anzusiedeln? In der heutigen Zeit ist die sogenannte Work-Life-Balance medial ein grosses Thema. Eigentlich war es ja immer schon eines. Es gab immer Leute, die lieber abends oder nachts gearbeitet haben, und andere, die das eher tagsüber oder gar frühmorgens taten. Wo Jahresarbeitszeiten oder Home-Office gefordert werden, kann man davon ausgehen, dass die Menschen mit E-Mails umgehen können, die es inzwischen doch seit Jahrzehnten gibt. Ein E-Mail kann man öffnen und lesen oder eben nicht. Der Absender sieht nicht, wann das E-Mail gelesen wurde, im Gegensatz zu Whatsapp oder Skype.  Eine Antwort zu geben und den Zeitpunkt dafür zu wählen, ist dem Empfänger selbst überlassen. Dazu kommt die Internationalität der heutigen Geschäftstätigkeiten. Durch Zeitverschiebungen könnte man wohl 24 Stunden am Stück arbeiten und E-Mails versenden, je nachdem, mit welchen Ländern dieser Erde man geschäftliche Beziehungen pflegt.

Aus der Sicht einer Firma ist es wichtig, dass ihre Mitarbeitenden erreichbar sind. Es gibt dabei zwei Punkte zu berücksichtigen: Wenn ich als Mitarbeiter meinem Vorgesetzten um 23 Uhr noch ein E-Mail oder eine E-Mail-Antwort schreibe, dann wird damit am Abend oder in der Nacht kaum eine kommerzielle Tätigkeit ausgelöst. Eine solche E-Mail-Antwort kann also bis zum nächsten Morgen warten. Denn wie so oft im Leben hat eine zu schnelle Antwort hat auch die Tendenz, zu emotional zu wirken. Das Sprichwort «Gut Ding will Weile haben» hat im Kern etwas Richtiges. Darum ist es manchmal sinnvoller, eine Nacht darüber zu schlafen, um sich dann in ausgeruhter Form mit dem Inhalt zu beschäftigen.

Als Firma habe ich die Kontinuität gegenüber den Kunden sicherzustellen. Die Erreichbarkeit ist dabei essenziell. Nur antworten die Kunden genauso schnell per E-Mail wie die Mitarbeitenden? Beim Ausschalten des Mailservers am Feierabend verärgere ich vielleicht Kunden, wenn sie eine Fehlermeldung bekommen, nachdem sie ein E-Mail versendet haben. Grundsätzlich erwartet der Kunde der gleichen Zeitzone sicher nicht sofort eine Antwort, weil er seinen Feierabend wahrscheinlich selbst geniessen möchte. Bei internationaler Kundschaft ist eine sofortige Beantwortung in unterschiedlichen Zeitzonen so oder so kaum möglich, beispielsweise bei dem zehnstündigen Zeitunterschied zu Australien. Die Kontinuität betrifft aber auch die Mitarbeitenden. Als weitsichtiger Vorgesetzter wünsche ich mir solche, die loyal und ausgeglichen sind und ihre Arbeitskraft sowie ihr Wissen der Firma möglichst lange zur Verfügung stellen. Nur zufriedene Mitarbeitende führen zu zufriedenen Kunden. – Und: Der Trend des Immer-erreichbar-Seins hat nicht nur mit den Bedürfnissen der Wirtschaft zu tun, denn die Social Media bringen die Leute auch im Privaten dazu, fast ständig erreichbar zu sein.

 

Andi Zemp

Zugegeben, ich bin ein Digital Immigrant und habe dadurch den Umgang mit elektronischen Hilfsmitteln wie E-Mails und Smartphones erst im Verlauf des Berufslebens kennengelernt. Nicht ständig erreichbar zu sein, war in meiner Sozialisation selbstverständlich. Mittlerweile leben wir in einer Zeit der ständigen Erreichbarkeit und permanenten digitalen Vernetzung.

«App-schalten» wird für viele Menschen zum neuen Luxus; Erholungs- und Wellness-Angebote in handy- und internetfreien Zonen boomen. Die ständige Erreichbarkeit und das geforderte Multitasking sind keine Folge der technischen Möglichkeiten, sondern der Logik unserer Zeit geschuldet. Um unser System erhalten zu können, braucht es eine kontinuierliche Steigerung: materielle Güter, Kunden und Umsätze. Optionen zur Weiterentwicklung eines Unternehmens lassen sich grenzenlos vermehren. Die verfügbare Zeit dagegen bleibt immer gleich, weshalb eine Steigerung nur durch verdichtetes Arbeiten geschehen kann.

In der Wahrnehmung des Einzelnen vergeht die Zeit deshalb immer schneller. Mitarbeitende fühlen sich unfähig oder gar schuldig, da die To-do-Liste niemals abgearbeitet ist und immer wieder neue Aufgaben auftauchen. Der potenziell mögliche Zuwachs an Zeitsouveränität durch die Digitalisierung wird durch die Zeitverdichtung zunichte gemacht. Die Folge ist eine Vermischung zwischen Arbeit und Freizeit, was es den Mitarbeitenden erschwert, sich zu erholen. Dies kann zu Beziehungsproblemen führen, wenn die Zeit mit Freunden und Familie ständig durch die Arbeit unterbrochen wird. Probleme innerhalb der Familie wiederum haben einen negativen Einfluss auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Dauert dies lange genug an, steigen Fehlerquoten, Absentismus sowie Präsentismus. Am Ende drohen stressverursachte Störungen und Burnout.

Ständig für den Arbeitgeber erreichbar zu sein, wird von vielen Arbeitnehmenden jedoch gar nicht gewünscht. Es ist  vielmehr ein Teil der Unternehmenskultur, in der dauerndes «Online-Sein» als hohes Engagement oder gar als Qualitätszeichen missinterpretiert wird. Wer sich nicht an solche Vorgaben hält, beraubt sich möglicherweise seiner beruflichen Karriere. Der Versuch, gut und schnell über aktuelle Entwicklungen informiert zu sein, mag ein individueller Treiber sein. Dies geschieht einerseits aus der Angst, «abgehängt» zu werden, andererseits in der Hoffnung, sich berufliche Vorteile zu ergattern. Einzelne Mitarbeitende wiederum nehmen sich zu wichtig und denken, sie seien unersetzbar.

Ohne ausreichende Erholung droht der technische Fortschritt zum «rasenden Stillstand» zu werden. Die Trennung von Arbeit und Freizeit kann nur erfolgreich sein, wenn das Unternehmen dies einfordert und sich alle daran halten, indem abends oder am Wochenende keine E-Mails an Mitarbeitende versandt werden.

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Urs Bürge ist selbständiger Interimsmanager bei Schweizer KMUs sowie Prüfungsexperte und Dozent in der Erwachsenenbildung.

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Text: Andi Zemp

Andi Zemp ist Leiter des Burnout-Programms in der Privatklinik Wyss. Diese ist spezialisiert auf die Therapie von Burnout-Erkrankungen.

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