HR Today Nr. 9/2018: Neue Arbeitswelten

Das vernetzte Miteinander fordert Neugier und Vertrauen

New Work, Agilität und VUCA gehören in den Unternehmen genauso zum Standardvokabular 
wie Benchmark oder ROI. Doch die aktuellen Veränderungen sind mehr als ein Managementtrend. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel, der die gesamte Gesellschaft betrifft.

Spüren tun es die meisten, wenn auch mitunter etwas diffus: Die Art wie vielerorts zusammengearbeitet wird, hat sich überlebt. Reorganisationen im Zwölfmonate-Rhythmus, sich immer schneller drehende Vorgesetzen-Karusselle und das Gefühl, nur ein gut geschmiertes Rädchen im prozessualisierten Tagesablauf zu sein, hinterlässt bei Vielen eine gähnende Leere und eine existentielle Sinnkrise.

Die Unsinnsspirale zu unterbrechen, fällt vielen Chefs und Angestellten jedoch schwer. Neues in Seminaren oder Workshops zu vermitteln oder zu lernen ist einfacher, als Neues zu gestalten oder eingefahrene Muster zu durchbrechen. Letzteres ist mühsam oder gar angsteinflössend. Lieber gaukeln sich Vorgesetzte vor, dank stringenter Prozesse, einem Plus an Controlling und mehr Regulationen die vielzitierte vierte industrielle Revolution in den Griff zu bekommen.

Loslassen statt klammern

Doch zum Glück, ist man beinahe versucht zu sagen, sind da noch der demographische Wandel und der damit einhergehende Fachkräftemangel. Diese tragen Jahr für Jahr mehr dazu bei, dass sich sogar träge Grosskonzerndampfer ernsthafte Gedanken über eine Neudefinition der Erwerbsarbeit machen.

Während die einen Schreckgespenster an die Wände malen, setzen andere auf die Gunst der Stunde, nutzen Veränderungen als Chance und probieren Neues aus. Sie werden flexibel und agil, agieren holo- oder soziokratisch, bauen ihre Räumlichkeiten um oder nutzen die neuen Technologien für eine vereinfachte Zusammenarbeit und die Förderung von Pioniergeist. Firmen, die dabei erfolgreich sind, beschäftigen Macherinnen und Macher, die erkannt haben, dass sich komplexe Herausforderungen nur lösen lassen, wenn man loslässt.

Arbeit wird immer mehr in Projekten organisiert. Vor allem, wenn es um Innovation, Restrukturierung oder Veränderung geht, nimmt die Projektarbeit massiv zu. Das belegt der Trendreport «Die Zukunft des Arbeitens», den die Stiftung Produktive Schweiz in Zusammenarbeit mit Microsoft Schweiz, dem GDI sowie dem Center for Technology and Innovation Management 2017 herausgegeben hat. Mitarbeitenden würden künftig von Arbeitsprojekt zu Arbeitsprojekt hoppen und in immer neuen Konstellationen und Teamzusammensetzungen arbeiten – je nach dem, wo ihre Kompetenz und ihr Wissen gerade gebraucht werden. Das Fraunhofner Institut für System- und Innovationsforschung spricht in diesem Zusammenhang von einer «internen Form des Arbeitskraftunternehmens, der in verschiedenen Bereichen und Netzwerken innerhalb seiner Organisation flexibel seine Fähigkeiten einsetzt.» Verantwortlich dafür seien zwei sich wechselseitig verstärkende Trends:

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Die Beschleunigungsspirale, mit steigenden Innovationsraten und immer schneller veraltendem Wissen
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Die zunehmende Spezialisierung der Wissensarbeitenden in den Unternehmen mit immer enger gefasster Expertise.

Spezialisten seien besonders in Dienstleistungsunternehmen gefragt wie nie zuvor. Sie seien jedoch immer weniger in der Lage, die zunehmend komplexen Aufgaben alleine zu bewältigen. «Unternehmen der Zukunft müssen diese Paradoxie in ihre Organisationen einbauen», sagt Rudolf Wimmer, Professor für Arbeitsorganisation  an der Universität Witten-Herdecke. Soft Skills wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit würden immer wichtiger, genauso wie Lernbereitschaft und Flexibilität.

Die sich verändernde Arbeitswelt stelle aber nicht nur neue Anforderungen an die Mitarbeitenden, sondern auch an deren Chefs. In sich ständig bewegenden Gebilden hätten starre Kontrollmechanismen nichts verloren. Gefragt sei ein Mehr an gesundem Menschenverstand, Vertrauen sowie das Schaffen von Orientierung. «Projektnomaden brauchen eine organisationale Heimat, Führung wird daher keineswegs überflüssig», betont Rudolf Wimmer.

All dies entspricht einem Grossteil der Ansprüche, welche die Generationen X und Y an die Arbeitswelt stellen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass junge Menschen Autoritäten suchen, die ihre fachlichen oder persönlichen Vorbilder sind und keine Vorgesetzte, die sich hinter einer Hierarchie verschanzen. Und sie suchen nicht mehr eine Stelle fürs Leben, sondern eine spannende und sinnstiftende Aufgabe, der sie nachgehen können, wann sie wollen und wie sie wollen.

Selbstmanagement durch Leitplanken unterstützen

Flexible Arbeit macht es vielen Menschen leichter, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Im Gegenzug drohen jedoch Burn-out und Selbstausbeutung, wenn die Disziplin zum Selbstmanagement fehlt.

Ein Projektteam der Hochschule Luzern und der Fachhochschule Nordwestschweiz haben deshalb 2016 die Chancen und Risiken der flexiblen Arbeitswelt in der Studie «Flexible neue Arbeitswelt. Eine Bestandesaufnahme auf gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Ebene» untersucht. Um die ambivalenten Folgen in eine positive Richtung zu lenken, seien Massnahmen auf verschiedenen Ebenen notwendig. Als besonders wichtig erachten die Autoren die Aus- und Weiterbildung. So verbessere eine qualifizierte Grund- und Fachausbildung die Chancen erheblich, dass Arbeitnehmende positive Potenziale der Flexibilisierung nutzen können. Zudem empfehlen die Autoren weitere Massnahmen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene:

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Gesetzliche Rahmenbedingungen zum Umgang mit der zeitlichen und örtlichen Entgrenzung der Arbeit, die gegebenenfalls sanktioniert werden, regulatorische Extremformen ausschliessen und somit den Charakter von Leitplanken haben.
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Verantwortungsübernahme der Arbeitnehmenden, um grössere Freiräume zu nutzen. Die Gesellschaft müsse sensibilisiert und die Erwerbstätigen befähigt werden, mit der flexibilisierten Arbeitswelt umzugehen. Das fordere besonders Institutionen der Aus- und Weiterbildung, es böten sich aber auch Chancen für Gewerkschaften, ihren Aufgabenbereich auszuweiten.
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Partizipative Organisationsmodelle, um die betriebliche Flexibilität sicherzustellen und Vorgesetzte sowie Mitarbeitende im Umgang damit zu unterstützen. Die Sozialpartner sollen trotz der gesetzlichen Leitplanken lokale und angepasste Lösungen gemeinsam ausarbeiten.

Weil die Flexibilisierung der Arbeitsformen zahlreiche rechtliche Konsequenzen habe, müssten Arbeitszeitregelungen angepasst, sowie Defizite bei den Sozialversicherungen bereinigt werden, die von Kurzarbeitseinsätzen bis hin zum Umgang mit noch undefinierten Arbeitsformen reichen. Letztere bewegen sich aktuell im rechtlichen Graubereich.

Das klassische Büro, ein 
Auslaufmodell

Flexibilisieren wird sich nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch der Arbeitsort. Verschiedenen Untersuchungen des Fraunhofner Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation zufolge sitzen in Deutschland nur noch 39 Prozent der Büroarbeiter ständig am festen Schreibtisch. 38 Prozent hätten zwar ein eigenes Büro, seien aber mehr als die Hälfte der Zeit unterwegs. Die verbleibenden 23 Prozent haben gemäss der Studie keinen eigenen Schreibtisch, arbeiten auf Reisen, zu Hause oder an wechselnden Tischen im Unternehmen. Damit drohe auch das klassische Büro zum Auslaufmodell zu werden (Studie «Office Analytics», April 2018).

Den Hauptnutzen von Büros ortet die Studie der Stiftung Produktive Schweiz darin, dass diese Kommunikation und Kooperation vermehrt ermöglichen. Dies geschehe beispielsweise in den vermehrt beobachtbaren Laboratory-Initiativen: vom Fab Lab (Fabrication Laboratory) über das Crea Lab (Creative Laboratory) bis zu Innovation Labs. In diesen arbeiten die Teilnehmenden zwar miteinander an bestimmten Grundideen, die Ergebnisse dieses Prozesses seien aber fürs erste unbestimmt, und damit offen für Einflüsse aus allen Richtungen.

Laboratorien eignen sich hervorragend zum Experimentieren. Was in den Naturwissenschaften gang und gäbe ist und immer wieder gewürdigt wird, gilt in Unternehmen nach wie vor als unprofessionell und wird als Zeichen der Unsicherheit betrachtet. Das Selbstverständnis des Managements schliesst das Experimentieren grundsätzlich aus.  Die Autoren des Buchs «Musterbrecher» Stefan Kaduk, Dirk Osmetz, Dominik Hammer und Hans A. Wüthrich kommen deshalb zu folgendem Schluss: «Uns ist keine Organisation bekannt, in der es ein Experimentierlabor für Führungskräfte gibt.»  Es sei wichtig, dass Unternehmen mehr experimentieren, statt zu planen – auch mit offenen, manchmal überraschenden Ergebnissen. Mehr Torheit in Unternehmen forderte schon James March, ein Urgestein der Organisationsforschung, um so zu mehr Vernunft zu kommen.

Ethische Grundsätze als 
kraftvolles Instrument

Ein weiterer wichtiger Paradigmenwechsel zeichnet sich auch in Sachen Wertschöpfung ab. Denn Mitarbeitende von morgen suchen primär Arbeitgeber, die ihre Gewinne sozial, ökologisch und fair erzielen. Dies, weil die Gesellschaft künftig auch von der Wirtschaft wieder vermehrt Verantwortung einfordert.

Das heisst: sie soll einen Teil zur Lösung von gesellschaftlichen Konflikten, Ressourcenknappheit, Umweltproblemen und Klimawandel leisten. Die Harvard-Professoren Rakesh Khurana und Nitin Nohria haben sogar eine Art hippokratischen Eid für Manager vorgeschlagen, um das angeschlagene Image der Managerkaste wieder aufzupolieren.

Ethische Grundsätze könnten schon bald zu einem kraftvollen Instrument im Wettbewerb um die besten Köpfe werden. Denn die Generationen Y und Z wollen etwas Sinnvolles tun, Verantwortung übernehmen und nicht auf ausgetretenen Karrierepfaden durch die Unternehmenswelt ziehen. Dazu kommt, dass in einem gut geführten Unternehmen mit klaren Werten die Fluktuationsraten deutlich tiefer sind, als in Firmen, die ihre Mitarbeitenden mit immer mehr Compliance- und anderen einschränkenden Massnahmen zu halten versuchen. Ein Mehr an Regeln und Prozessen und ein Weniger an Herz und Hirn führt zu dem, was heute an vielen Orten ineffiziente Tatsache ist: wuchernde Bürokratie und Stillstand.

Prägungen, Gewohnheiten und 
Gefühle hinterfragen

Ob Arbeit 4.0, neue Arbeitswelt, New Work oder Arbeit der Zukunft: der zurzeit stattfindende Wandel ist kein Bespassungsprogramm oder eine Methode, die im Unternehmen implementiert werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine «neue» Geisteshaltung, die mehr erfordert als das Aufsetzen neuer Strukturen.

Dafür braucht es ein «Wollen» der gesamten 
Organisation. Das «Können entwickelt sich dann individuell: im Tun, beim Experimentieren und beim vernetzten Miteinander. Vorausgesetzt, Mitarbeitende und Führungskräfte setzen sich nicht nur fachlich und inhaltlich mit der Arbeitswelt von morgen auseinander, sondern hinterfragen auch ihre Prägungen, Gewohnheiten und Gefühle. Neugier, Offenheit und das Akzeptieren von Paradoxien runden das zukunftsfähige Belegschaftsprofil ab.

Lesens- und sehenswert

  • «Musterbrecher, die Kunst, das Spiel zu drehen», Stefan Kaduk, Dirk Osmetz, Hans A. Wüthrich, Dominik Hammer.

  • Musterbrecher – der Film.
  • «Reinventing Organizations», Frédéric Laloux
.
  • «Komplexithoden – clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität, Niels Pfläging
.
  • «Von der Zukunft her führen. Von der Egosystem- zu Ökosystem-Wirtschaft – Theorie U in der Praxis. Otto Scharmer, Karin Käufer.

 

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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