Sommerserie 2017

Rumpelstilzchen – oder: Wer ist hier der Täter?

Willkommen in der Welt der Märchen. «Rumpelstilzchen» zeigt auf, wie implizite Erwartungen zu falschen Anschuldigungen führen. Und warum wir in ungerechten Situationen dazu verleitet sind, das Opfer zu beschuldigen.

Das Märchen

Rumpelstilzchen von den Gebrüdern Grimm (1812)¹

Es war einmal ein armer Müller, der eine schöne Tochter hatte. Um sich Ansehen zu verschaffen, behauptete er vor seinem König, seine Tochter könne Stroh zu Gold spinnen. Der König ging darauf das Abkommen ein, dass er die Tochter zu seiner Frau nehmen würde, wenn ihr das wirklich gelänge.

In der Nacht darauf sperrte der König die Müllerstochter in eine Kammer voller Stroh. Falls sie das Versprechen ihres Vaters nicht halten könnte, würde sie dafür mit dem Tode bestraft. Voller Verzweiflung sass die Tochter in der Kammer, da sie die Fähigkeit, mit der ihr Vater geprahlt hatte, nicht besass.

Plötzlich tauchte ein kleines Männchen auf und bot der Müllerstochter im Tausch gegen ihre Kette an, das Stroh zu Gold zu spinnen. Dem König, den die Gier packte, reichte das Gold aber nicht aus. Er forderte die das Mädchen dazu auf, in der nächsten Nacht das Wunder zu wiederholen. Auch diesmal kam das kleine Männchen in die Kammer und bot seine Hilfe im Tausch gegen den Ring des Mädchens an. Die Goldgier des Königs war hiernach jedoch immer noch nicht gestillt, und er schickte die Tochter ein drittes und letztes Mal in die Kammer.

Da die Müllerstochter ihm nun nichts mehr anzubieten hatte, verlangte das Männchen für seine Hilfe das erstgeborene Kind der Müllerstochter mit dem König. Aus Verzweiflung nahm sie sein Angebot an.

Die Jahre vergingen. Erst als das kleine Männchen nach der Hochzeit und der Geburt des ersten Kindes vor der jetzigen Königin stand, erinnerte sie sich an ihr Versprechen. Die Königin bot ihm unzählige Reichtümer an, aber das kleine Männchen beharrte weiterhin auf das Kind. Die Königin weinte bitterlich – aus Mitleid gab ihr das Männchen drei Tage Zeit, seinen Namen zu erraten. Sollte sie dies schaffen, dürfte sie ihr Kind behalten. In der ersten Nacht riet die Königin alle Namen, die ihr in den Kopf kamen – ohne Erfolg. Sie sandte Boten aus, um im ganzen Land auf die Suche nach aussergewöhnlichen Namen zu gehen. In der zweiten Nacht versuchte sie es nun erfolglos mit Namen, die sie aus der Nachbarschaft erfragt hatte. Am letzten stürmte einer der Boten ins Schloss und berichtete ihr, dass er auf seiner Reise nachts ein Männchen um ein Feuer tanzen sah. Das Männchen habe gesungen: «Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; ach, wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss!»

Als das kleine Männchen nach Ablauf der drei Tage erneut vor der Königin stand, nannte sie den korrekt überlieferten Namen «Rumpelstilzchen» und durfte somit ihr Kind behalten. Rumpelstilzchen war aber so wütend, dass er sich vor Wut selbst zerriss.

Psychologischer Vertrag

Im Märchen schliesst die Müllerstochter einen Vertrag mit Rumpelstilzchen. Sie verspricht ihm ihr erstgeborenes Kind, und er verwandelt dafür das Stroh zu Gold – und rettet ihr somit das Leben. Mit ins Spiel kommt auch ein sogenannter psychologischer Vertrag. Im Unterschied zu einem normalen Vertrag spiegelt ein psychologischer Vertrag wider, dass einer der beiden Vertragspartner unausgesprochene Erwartungen hat, die nicht ausdrücklich festgelegt sind². Der Inhalt der Vereinbarung ist eigentlich eindeutig: Rumpelstilzchen rettet der Müllerstochter das Leben, dafür verspricht sie ihm ihr erstgeborenes Kind. Dennoch scheint die Müllerstochter überrascht zu sein, als Rumpelstilzchen viele Jahre später auftaucht und das ihm Versprochene einfordert. Hintergrund mag ihre implizite Erwartung sein, dass Rumpelstilzchen von seinem «Lohn» absehen und sich auch ohne das Kind zufriedengeben wird.

Das Phänomen lässt sich durch ein Beispiel aus der Arbeitswelt verdeutlichen. Ein Angestellter schliesst einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen. Im Vertrag sind typischerweise alle Bedingungen – zum Beispiel die Vertragsdauer oder Entlohnung – festgelegt. Dennoch kommt es häufig vor, dass Angestellte über das Vereinbarte hinaus Erwartungen an Arbeitgeber haben. Dazu gehören zum Beispiel Faktoren wie eine hohe Arbeitsplatzsicherheit oder ein vielseitiges Trainingsangebot. Diese nicht artikulierten Erwartungen werden in der Psychologie als implizite Erwartungen bezeichnet.

Wenn einer der beiden Vertragspartner falsche Erwartungen hat oder die Erwartungen des Gegenübers nicht kennt, entstehen häufig Frustration, Resignation und Enttäuschung. Problematisch ist hieran, dass der wahre Grund für die Enttäuschung, also die geheimen Erwartungen und Wünsche, häufig nicht offen angesprochen werden.

Glaube an eine gerechte Welt und Victim Blaming

Ein weiteres interessantes Phänomen, das sich in dem Märchen der Gebrüder Grimm finden lässt, ist der sogenannte Gerechte-Welt-Glauben. Damit wird die Erwartung bezeichnet, dass jeder das bekommt, was er verdient. Dieser Glaube motiviert uns, die Gerechtigkeit bei einer ungerechten Ausgangslage wiederherzustellen³.

Dies kann in verschiedener Weise geschehen, was an einem Beispiel veranschaulicht werden soll. Ein Mann steht nachts an einem U-Bahn-Gleis und sieht, wie eine Frau am anderen Ende des Gleises von einer Jugendbande ausgeraubt wird. Dies ist eine ungerechte Situation, die nicht zu unserem Gerechte-Welt-Glauben passt. Nun hat der Mann zwei Möglichkeiten:

  • Aktive Verringerung des Leidens des Opfers: Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass er einschreitet, die Räuber verjagt, die Polizei ruft oder er die Frau beim weiteren Nachhauseweg begleitet.
  • Abwertung des Opfers: Ebenso kann er allerdings der Frau die Schuld für das Geschehene zuschreiben. Der Mann könnte sich einreden, dass es sowieso leichtsinnig ist, als Frau alleine nachts mit der U-Bahn zu fahren, und eine solche Leichtsinnigkeit gerechterweise bestraft wird. Durch diese Abwertung wird das, was dem Opfer passiert ist, als gerecht empfunden und der Gerechte-Welt-Glaube ist wiederhergestellt.

Dieses Phänomen, bei dem das eigentliche Opfer zum Schuldigen umgewertet wird, wird in der Psychologie als Victim Blaming, Beschuldigung des Opfers, bezeichnet⁴.

Jeder Leser des Märchens wird den Gerechte-Welt-Glauben bei sich selbst empfunden haben: Er wünscht sich, dass die Müllerstochter den Namen von Rumpelstilzchen errät und somit das Leben ihres Kindes retten kann. Die Tochter hat ihre missliche Situation nicht selbst verschuldet. Daher freuen wir uns, dass die Boten ihr dabei helfen, Rumpelstilzchens Namen ausfindig zu machen. Interessanterweise gibt es hier eine Diskrepanz zwischen dem, was wir als gerecht empfinden, und dem, was Recht ist. Objektiv betrachtet fordert Rumpelstilzchen nur das ein, was ihm vorher versprochen wurde. Dennoch freuen wir uns, dass er am Ende der Verlierer ist und sich sogar so sehr ärgert, dass er sich zum Schluss selbst zerreisst. Dies lässt sich durch die Abwertung und Schuldzuschreibung erklären, die das letztendliche «Opfer» Rumpelstilzchen aufgrund des Gerechte-Welt-Glaubens vom Leser erfährt. Hier kann jeder an sich selbst beobachten, wie leicht wir selbst bereit sind, ein Opfer zu beschuldigen.

Und die Moral ...  

Wer ist eigentlich der Böse in unserem Märchen? Für die meisten Leser erscheint Rumpelstilzchen als der grösste Bösewicht. Er bringt die unschuldige Müllerstochter in die missliche Situation, in der sie ihm ihr Erstgeborenes verspricht und es am Ende sogar beinahe verliert. Doch wenn wir das Ganze einmal ohne jegliche Emotionen und von aussen betrachtet, gab es einen mündlichen Vertrag zwischen Rumpelstilzchen und der Müllerstochter, der für Rumpelstilzchen Bestand hatte und auf dessen Basis er letztendlich das Kind rechtmässig einfordert. Dabei muss das Geschehene natürlich im Kontext der Zeit gesehen werden: Heute wäre solch ein Vertrag nicht rechtskräftig und würde gegen die Menschenrechte verstossen; vor Jahrhunderten waren Verträge dieser Art hingegen durchaus üblich.

Die Reaktion der Tochter scheint fast so, als hätte sie erwartet, dass Rumpelstilzchen von seinen Forderungen ablässt. Rumpelstilzchen zeigt später sogar ein gewisses Einfühlungsvermögen, als er der Müllerstochter die dreitägige Frist anbietet. Dennoch empfinden wir es als gerecht, dass Rumpelstilzchen am Ende das Kind nicht bekommt und als Verlierer aus der Geschichte hervorgeht.

Wir können uns an dieser Stelle fragen: Beschuldigen wir hier nicht das Opfer, um an unserem Glauben an eine gerechte Welt festzuhalten? Und wie oft tun wir dies eigentlich in unserem alltäglichen Leben?

Tatsächlich kommt es ziemlich häufig vor, dass wir das, was Recht ist, als ungerecht empfinden. Wenn wir uns von der Bank Geld leihen, dieses aufgrund von Wucherzinsen und weiterer unglücklicher Umstände nicht zurückzahlen können, und die Bank letztendlich eine Zwangsvollstreckung veranlasst – wer ist dann meistens der Böse? Viele Menschen in solchen oder ähnlichen Situationen beschuldigen die Bank. Dabei fordert sie doch eigentlich nur das ein, was ihr rechtmässig zusteht.

Auch bei Arbeitsverhältnissen kann es zu impliziten Erwartungen kommen. Wenn der Angestellte erwartet, dass er von seiner Arbeitgeberin ausreichende Fortbildungsmöglichkeiten erhält, falls seine Qualifikationen den Anforderungen der Position nicht genügen, kann es zu unerfreulichen Überraschungen führen, wenn diese Erwartung nicht erfüllt wird. Nicht selten kommt es in solchen Fällen zu Versetzungen oder Kündigungen, bei denen die Arbeitgeberin schlussendlich als die Böse wahrgenommen wird. Auch hier können wir wieder einige interessante Weisheiten aus dem Märchen ableiten. Wenn wir einen Vertrag oder Zusammenschluss mit anderen eingehen, ist es sinnvoll, sich vorher darüber zu verständigen, welche zusätzlichen Erwartungen die verschiedenen Parteien haben und was der Vertrag genau beinhaltet oder beinhalten soll.

Nur so kann Enttäuschungen und Streitigkeiten oder sogar Klagen vorgebeugt werden. Wir können zudem aus dem Märchen lernen, dass nicht immer das, was böse scheint, auch wirklich böse ist. Oft haben wir eine verzerrte Wahrnehmung, die von Emotionen oder dem Wunsch nach einer gerechten Welt getrübt ist. Ein kritisches Hinterfragen, zum Beispiel von öffentlichen Anprangerungen in den Medien, ist eine weitere Lektion, die wir von Rumpelstilzchen lernen können.

Es war einmal ...

In unserer Sommerserie 2017 stellen wir Ihnen neun Märchen unter dem Aspekt der psychologischen Analyse vor – und was wir für Mitarbeiterführung und Selbstmanagement daraus lernen können.

Quellen:

  • ¹Grimm, J., & Grimm, W. (2001). Rumpelstilzchen. In: H. Rölleke (Hrsg.), Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Ditzingen: Reclam.
  • ²Raeder, S., & Grote, G. (2012). Der psychologische Vertrag. Praxis der Personalpsychologie. Göttingen: Hogrefe.
  • ³Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world: A fundamental delusion. New York: Plenum.
  • Ryan, W. (1971). Blaming the victim. New York: Vintage.

Buchtipp

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Märchen befassen sich seit jeher mit zentralen Fragen und Schwierigkeiten des menschlichen Lebens und der Entwicklung – wie auch die Psychologie. Aber stimmt die «Moral von der Geschicht» jedes Mal auch aus wissenschaftlicher Perspektive? Erfahren Sie, welche Lektionen wir auch heute noch von Hans im Glück, Schneewittchen, Rumpelstilzchen und all den anderen für unsere Lebensgestaltung, Führung und Erziehung lernen können.

Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können.

 

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Paula Münster ist Mitautorin des Buches «Psychologie der Märchen».

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