Psychische Gesundheit und Emotionen

Woran erkennen Sie interessierte Selbstgefährdung im Betrieb?

Ob interessierte Selbstgefährdung in Ihrem Unternehmen ein relevantes Phänomen ist, lässt sich nicht auf die Schnelle in einem Kurz-Fragebogen ermitteln. Vielmehr gilt es, die Situation im Betrieb genauer zu verstehen. Anhand der folgenden vier Kriterien 
können Sie überprüfen, ob in Ihrem Unternehmen eine interessierte Selbstgefährdung vorliegt.

1. Die Leistungssteuerung im Unternehmen erfolgt über quantifizierbare Ziele, Ertragsorientierung und / oder Benchmarking.

Für die Bewertung von individuellen Team- oder Abteilungsleistungen ist der Grad der Zielerreichung entscheidend. Die Ziele werden mit Bezug auf Ertrags- oder sonstige quantitativen Kennzahlen gesetzt. Es werden externe und innerbetriebliche Vergleiche zur Bewertung der Produktivität und zur Identifizierung von Höchst- und Minderleistungen vorgenommen (Benchmarking). Daraus werden Konsequenzen abgeleitet (zum Beispiel Bestwerte als Zielgrössen für alle gesetzt). Die reine Anwesenheits- beziehungsweise Arbeitszeit verliert an Bedeutung (insbesondere solange die Ziele nicht erreicht sind). Es entsteht eine «Zeitverfallskultur», zum Beispiel wenn zu viele Gleitzeitstunden anfallen und nicht fristgerecht abgebaut werden können oder auf eine zentrale Zeiterfassung vollständig verzichtet wird (Vertrauensarbeitszeit).

2. Kader und Mitarbeitende rechnen mit, ob sich ihre Arbeit für den Betrieb rentiert, oder vergleichen ihre Arbeitsergebnisse mit Kennzahlen.

Der Betrieb setzt Tools und Vorgaben ein, die dazu führen, dass die Beschäftigten ein ausgeprägtes Kostenbewusstsein entwickeln. Die Frage, ob sich ihre eigene Arbeit beziehungsweise die Arbeit des Teams für die Firma rentiert, wird zur Orientierungsgrösse. Vergleiche mit anderen Personen, Teams oder Abteilungen finden systematisch statt und werden regelmässig zurückgemeldet.

3. Das Arbeitserleben von Kader und Mitarbeitenden bewegt sich zwischen den Extremen.

Zum einen: Mit hohem Engagement und euphorischen Gefühlen werden überlange tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten absolviert, am Abend, am Wochenende oder im Urlaub wird gearbeitet. Die Mitarbeitenden erleben starke Glücksgefühle aufgrund von beruflichen Erfolgen, die unmittelbar auf die eigene Person oder das eigene Team zurückgeführt und gemeinsam gefeiert werden («We are the champions!»). Es werden intensive positive Emotionen bei der Arbeit (verbunden mit einem hohen Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit) erlebt, während die Freizeit und das Privatleben an Bedeutung verlieren.

Zum anderen: Es herrschen Selbstzweifel an der eigenen Leistungsfähigkeit aufgrund von Vergleichen (andere Personen oder Teams leisten scheinbar mehr) und Angst vor Arbeitsplatzverlust. Ausstiegsgedanken und Zweifel, ob man dem Leistungsdruck am Arbeitsplatz auf Dauer standhalten kann, kommen auf, zusammen mit der Befürchtung, dass der Leistungsdruck stetig weiter steigen wird. Es herrscht das Gefühl, am Ende des Tages nicht genug getan zu haben, obwohl man sich sehr angestrengt hat. Ebenso ein schlechtes Gewissen, weil fachliche Aspekte der eigenen Arbeit aufgrund ökonomischer Anforderungen vernachlässigt werden (obwohl dies dem eigenen Anspruch an die Arbeit widerspricht). Die Mitarbeitenden haben den Eindruck, auf sich allein gestellt zu sein, wenn Unerwartetes die Zielerreichung verhindert oder sich Rahmenbedingungen am Markt verschlechtern. Es entstehen ein zunehmendes Misstrauen und eine Konkurrenzorientierung sowie der Verlust an Offenheit gegenüber Kollegen und Vorgesetzten. Die Mitarbeitenden sind auch im privaten Umfeld zunehmend gereizt, haben Schlafstörungen und psychosomatische Beschwerden.

4. Beschäftigte zeigen ohne Aufforderung oder Anweisung Verhaltensweisen, von denen sie wissen, dass sich diese auf Dauer negativ auf sie selbst auswirken.

In den letzten Jahren wurde dem Phänomen Präsentismus (Arbeiten trotz Krankheit beziehungsweise stark eingeschränkter Leistungsfähigkeit) grosse Aufmerksamkeit zuteil. Präsentismus ist eine der Verhaltensweisen, die interessierte Selbstgefährdung kennzeichnen. Andere Beispiele sind: Einnahme von Medikamenten, um die Arbeit bewältigen zu können. Verzicht auf Aktivitäten mit positiver gesundheitsförderlicher Wirkung zugunsten der Arbeit (zum Beispiel Verzicht auf Arztbesuche, sportliche und kulturelle Aktivitäten, Treffen mit Freunden, Erholungsphasen, innerbetriebliche Angebote zur Gesundheitsförderung). Bewusstes Umgehen betrieblicher Schutzvorschriften (etwa zur Begrenzung der Arbeitszeit). Alle nicht arbeitsbezogenen Aktivitäten auf die Arbeit ausrichten (zum Beispiel Fast Food am Arbeitsplatz essen). Einsatz von Selbstoptimierungsstrategien und Selbstmotivationstechniken unter Umgehung der Frage nach den eigenen Interessen und Bedürfnissen.

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Prof. Dr. Andreas Krause ist Studiengangsleiter des CAS Betriebliches Gesundheitsmanagement und Dozent für Angewandte Psychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Cosima Dorsemagen ist dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und Expertin für Zusammenhänge neuer Managementmethoden mit der Gesundheit von Beschäftigten.

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Dr. Klaus Peters ist Philosoph, Vorstandsmitglied von cogito – Institut für Autonomieforschung e.V. in Berlin und hat das Konzept der interessierten Selbstgefährdung begründet.

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