HR Today Nr. 5/2018: Work-Life-Balance

Aus dem Takt

Viele Menschen geraten aus der Balance und werden krank. Doch weshalb? Und wie 
bleiben sie im Gleichgewicht? Ein Gespräch mit dem Direktor von Gesundheitsförderung Schweiz, 
Thomas Mattig, BGM-Berater Hansjörg Huwiler und HR-Experte Markus Marthaler.

Herr Huwiler, Herr Mattig, Herr Marthaler: Sind Sie schon mal aus der Balance geraten?

Hansjörg Huwiler: Vermutlich diverse Male (lacht). Ganz sicher jedoch, als wir unser erstes Kind bekamen. Das ist ein klassisches Ereignis, bei dem man in die Krise schlittern kann. Es 
schlief schlecht und ich selbst habe wenig geschlafen und gegessen. Mich hat diese Situation wenig bedrückt, weil ich davon ausgegangen bin, dass dies vorübergehend ist. Dass etwas nicht stimmt, habe ich erst gemerkt, als mich meine Chefin darauf angesprochen hat und meinte: «Du bist dünn geworden, du musst mal was essen.» An meine Grenzen kam ich zwischendurch auch in meiner jetzigen Tätigkeit, als ich mit viel Engagement sehr viel arbeitete und trotzdem einige Ziele nicht erreichte. Da war der Frust hoch. Ich geriet in eine Abwärtsspirale und habe mehr vom Selben noch intensiver betrieben.

Thomas Mattig: Ich hatte bei Gesundheitsförderung Schweiz gerade eine neue Verantwortung als Direktor übernommen, als das zweite Kind kam. Es hatte einen schwierigen Start im Leben und wir wussten monatelang nicht, ob es diese Phase überstehen würde. Das war für unsere Kleinfamilie schon sehr belastend. In einer solchen Situation steht man dann ziemlich alleine da und muss vieles selber stemmen, weil unser System nur auf Standardfälle ausgerichtet ist.

Markus Marthaler: Zwischen 1995 und 2000 war ich erstmals selbständig und habe oft 50 bis 60 Stunden in der Woche gearbeitet. Jeder Tag bedeutete, sich auf die Bedürfnisse eines anderen Kunden einzustellen. Als Dienstleister war ich praktisch rund um die Uhr erreichbar und bemerkte vor lauter Engagement fast zu spät, wie sich meine Batterien allmählich entluden. Ich verspürte jedoch keinen Stress, sondern stand unter permanentem Druck.

Rund ein Viertel der Arbeitnehmenden fühlt sich «erheblich gestresst». Das zeigt der Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz, der jährlich erhoben wird. – Sind wir tatsächlich gestresster als früher?

Hansjörg Huwiler: Ich weiss nicht, ob wir tatsächlich viel gestresster sind als früher. In der Schweiz geht es den meisten so gut wie nie zuvor und die Entbehrungen, die unsere Grosseltern während des Zweiten Weltkriegs erlebten, sind weit weg.

Thomas Mattig: In der Tat wissen wir nicht,  ob der Stress generell zugenommen hat. Unabhängig davon besteht aber Handlungsbedarf, denn 25 Prozent gestresste Arbeitnehmende ist eine beträchtliche Zahl. Was den gesellschaftlichen Zusammenhalt angeht, stehen wir sicher an einem Wendepunkt. Von verschiedenen Seiten gibt es Bemühungen, alles auf die Eigenverantwortung abzuschieben. Jeder soll selber schauen, wie er mit seinen Schwierigkeiten klarkommt. Es droht eine Erosion der Solidarität. Die vermeintlichen Freiheiten führen dazu, dass der Einzelne stärker unter Druck kommt.

Markus Marthaler: Stress ist wie Burnout mittlerweile ein Modewort geworden. Antworten Sie, wenn man Sie fragt, wie es Ihnen geht, mit «Danke, gut und stressfrei», gelten Sie gleich als fauler Hund. Die richtige Antwort wäre: «Danke, gut, aber grausam im Stress.» Bezüglich dieses Phänomens habe ich eine dezidierte Haltung. Ich mache einen Unterschied zwischen unter Druck und im Stress sein, wobei ich Stress mit Überforderung verbinde. Zwei Menschen können ein und dieselbe Situation unter Druck völlig unterschiedlich erleben. Während sich der eine nach einer halben Stunde wieder erholt hat, ist ein anderer über einen längeren Zeitraum hinweg überfordert. Die gesellschaftlichen Veränderungen haben dazu geführt, dass sich die individuellen Belastungen verändert haben. Früher hatte man sich das Geld für ein Eigenheim gespart, dann kamen die Kinder und Karriere machte man gegen 40. Heute passiert vieles parallel. Karriere zeitgleich mit der Heirat und der Geburt des ersten Kindes, dazu Hausbau und im selben Zeitraum auch noch eine Master-Abschlussarbeit. Diese Mehrfachbelastung birgt viel Stresspotenzial. Sobald eine Sache nicht mehr funktioniert, gerät der Alltag aus den Fugen. Unsere Gesellschaft verändert sich so schnell, dass wir die Strukturen, die wir brauchen, gar nicht haben. In der Vorkriegsgeneration war das noch anders.

Hansjörg Huwiler: Bevor das Bild der Frau am Herd populär wurde, mussten zumindest auf den Bauernhöfen und in der Arbeiterschicht die allermeisten Frauen und Männer arbeiten, um ihre Familie zu ernähren. Heute tendiert man wieder dazu, dass sich Frauen und Männer die Erziehungs- und Haushaltsarbeit teilen und beide arbeiten. Das System ist jedoch sehr eng. Es hat keine Puffer drin. Man rennt in die Krippe, holt die Kinder um 18 Uhr ab, betreut die betagten Eltern, rennt einen Marathon. Sobald etwas kippt, implodiert das System. Ob wir gestresster sind, ist aber nicht der Punkt. Die Frage sollte vielmehr sein, was und wofür wir arbeiten, was wir dafür erhalten und wie es uns dabei ergeht.

Welche Rolle spielt dabei die doch noch immer stark grassierende Präsenzkultur?

Markus Marthaler: Viele Chefs sagen zwar, dass ihre Mitarbeitenden Home Office machen dürfen, doch die Praxis sieht oft anders aus. Meine Erfahrung zeigt, dass vermehrt akribisch kontrolliert wird. Gerade Grossfirmen sind dabei, Kontroll-Kulturen zu etablieren.

Thomas Mattig: Die Digitalisierung mag eine Rolle dabei spielen, dass Firmen ihre Kontrollen ausweiten. Was wir im Job-Stress-Index feststellen, ist jedoch, dass der Präsentismus viel ausgeprägter ist als der Absentismus. Das Verhältnis beträgt zwei Drittel zu einem Drittel. Von den Firmen wird noch zu wenig erkannt, was an Energie verschwendet wird, wenn Mitarbeitende bei der Arbeit erscheinen, die nur mit halber Kraft dabei sind.

Hansjörg Huwiler: Das hat vermutlich damit zu tun, dass vieles nicht mehr messbar ist. Wir sind ein Dienstleistungsland. Wie will man da messen, was jemand wirklich tut? Wie können beispielsweise Vorgesetzte die Qualität einer Kundenbeziehung messen? Das ist ein Problem für Vorgesetzte, denn diese müssen ihre Ziele irgendwie erreichen. Und wie sollen sie wissen, ob sie auf Erfolgskurs sind, wenn es keine geeigneten Kennzahlen dafür gibt? Die Abwesenheit in Stunden ist eine Zahl, die sie messen können.

Viele Firmen werben mit ihrem Betrieblichen 
Gesundheitsmanagement (BGM). Trotzdem fühlt sich ein Viertel der Mitarbeitenden überlastet und hat nicht genügend Ressourcen. Sind das alles bloss schöne Worte?

Thomas Mattig: Man kann nicht alle Firmen in einen Topf schmeissen. Es gibt Firmen, die sich hervorragend um ihre Mitarbeitenden kümmern, und solche, die das BGM tatsächlich nur nutzen, um ihr Schaufenster zu putzen. Daneben gibt es andere, die erste Erfahrungen damit sammeln und am Anfang sicher vieles falsch machen. Wichtig ist, dass Unternehmen aus den Fehlern lernen. Dass sich ein Unternehmen auf den Weg macht und ständig dazulernt, ist ein normaler Prozess. Es ist ein langer Weg.

Markus Marthaler: Ich bin da immer etwas vorsichtig. Vor einigen Jahren war ich als HR-Verantwortlicher bei einer Hotelgruppe mit über 80 Hotels beschäftigt. Nach einem Jahr konnte ich unserem CEO voraussagen, welche Hotels die meisten Absenzen ausweisen würden. Das war weniger eine Frage des Gesundheitsmanagements, sondern der Führungskultur im einzelnen Betrieb. Viele Vorgesetzte haben noch nicht verstanden, dass Werthaltung, Führung und Kultur die Motivation der Mitarbeitenden dahingehend beeinflussen, ob sie zur Arbeit erscheinen oder nicht. Das macht es für Unternehmensleitungen auch so unangenehm, wenn man die Führung und die Kultur an ein nachhaltiges und verbindliches BGM koppelt.

Hansjörg Huwiler: Dem stimme ich zu. Besonders Grossfirmen sind jedoch durch Quartalszahlen getrieben und viele Geschäftsleitungsmitglieder sind in der Regel nach zwei Jahren nicht mehr da. Das wissen diese auch. Sie denken nicht langfristig über die Jahre und deshalb hat auch das Betriebliche Gesundheitsmanagement keinen Erfolg. Natürlich kann ein Unternehmen auch in eine Wirtschaftskrise hineinlaufen. Wenn alles instabil wird, ist es schwieriger, BGM zu betreiben. Es geht dann darum, Prioritäten zu setzen und dafür zu sorgen, dass jemand den BGM-Hut trägt, der möglichst hoch in der Hierarchie angesiedelt ist und für dieses Thema brennt.

Apropos Wirtschaftskrise: Die letzte liegt grad hinter uns. Die Firmen haben auf sich auf Effizienz getrimmt, die Kernbelegschaft verkleinert oder Stellen verlagert sowie Prozesse optimiert. Wo stösst das Credo «schneller, höher, besser» an seine Grenzen?

Hansjörg Huwiler: In der Schweiz spielt die Qualität eine zentrale Rolle, weil wir so hohe Kosten haben. Firmen, die nicht auf Qualität setzen, wandern ab, weil sie hierzulande nicht konkurrenzfähig sind.

Thomas Mattig: Dazu möchte ich anmerken, dass auch die fehlende Effizienz die Mitarbeitenden belasten kann, wenn sich vieles einfacher und schneller erledigen liesse. Grundsätzlich geht es beim BGM nicht einfach darum, die Arbeitsmenge zu verringern. Vielmehr sollen die Beschäftigten einen besseren Zugang zu ihren Ressourcen haben und ihre Fähigkeiten einsetzen und entwickeln können. Mehr Effizienz bedeutet nicht automatisch mehr gesundheitliche Belastung und umgekehrt ist der Gesundheit mit weniger Effizienz auch nicht gedient.

Topmanager können oft nicht zugeben, wenn sie sich angeschlagen fühlen. Nehmen diese das BGM deshalb nicht ernst?

Hansjörg Huwiler: Ich sage es jetzt salopp: Es kommt auf die Branche an. Je grösser der Fachkräftemangel ist, desto ernster wird das Betriebliche Gesundheitsmanagement genommen. Dazu kommt, was ein CEO persönlich erlebt hat und wie sein Menschenbild ist. Viele Unternehmen werden im BGM jedoch erst unter Leidensdruck aktiv. Daneben spielt unsere kulturelle Prägung eine Rolle. Wir haben eine sehr individualistische Kultur. Bei uns gilt ein Mensch –  im Gegensatz zu Ländern in Asien – als sehr wertvoll. Das ist ein Grundsatz, der eher für das Betriebliche Gesundheitsmanagement spricht.

Markus Marthaler: Nur da, wo sich Vorgesetzte ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, besteht auch die Chance, ein BGM verbindlich zu implementieren. Dabei geht es auch um die Vorbildfunktion eines Vorgesetzten. Ich staune manchmal, wie wenig ein CEO von Menschen versteht. Betriebswirtschaftlich sind sie alle auf der Höhe, aber elementarste Dinge wie der Umgang mit Menschen in ihrem nächsten Umfeld lassen zu wünschen übrig. Etwas mehr Wissen, wie ein Mensch funktioniert, würde allen Beteiligten helfen. Vor allem aber würde es die Sinnhaftigkeit eines BGM nutzbringend unterstützen. Meist reicht schon ein Blick auf das Organigramm, um zu erkennen, welchen Stellenwert diesem Thema eingeräumt wird. Ist das BGM irgendwo im HR angesiedelt? Oder möglicherweise dem Chef Dienste, Logistik oder Finanzen unterstellt? Wird das BGM von einem Mitarbeitenden im Nebenamt ausgeübt? Ehrlicherweise beschäftigt man sich mit BGM-Themen erst dann, wenn man im Unternehmen genügend Zeit und Geld hat. Und Hand aufs Herz: Kennen wir nicht alle solche Firmen?

Ich fasse zusammen: Menschen sind eigentlich wertvoll, trotzdem werden sie häufiger kontrolliert und man vertraut ihnen nicht?

Thomas Mattig: Ich glaube, das ist eine Generationenfrage. Eine neue Generation von Managern wird sich mit der eigenen Gesundheit intensiver auseinandersetzen. Da fängt es ja schon an. Irgendwann wird es im Kader auch mehr Frauen geben, das könnte eine solche Entwicklung unterstützen. Ich hoffe wirklich, dass Macho-Manager langsam aussterben. Vielerorts kommen sie ja bereits unter Druck. Wenn sich dies im Management fortsetzt, wird sich das Menschenbild in den Chefetagen generell verändern und das BGM einen höheren Stellenwert erhalten. Die Zukunft wird es zeigen.

Wie überzeugt man einen zahlengläubigen CEO vom Nutzen des BGM?

Hansjörg Huwiler: Wenn ein CEO tatsächlich zahlengetrieben wäre und Zeitungen sowie Studien liest, hätte er längst ein BGM implementiert. Die Zahlen sind klar. Mich irritiert es, wenn jemand sagt, er brauche Zahlen, und er keine Antwort geben kann, wenn man ihn fragt, welche er denn benötige. Das hat nichts mit Zahlengetriebenheit zu tun. Es ist die Überzeugung, dass das BGM nichts bringt.

Markus Marthaler: Glaubt man der Statistik, haben bis zu 40 Prozent aller HR-Verantwortlichen einen juristischen oder einen finanziellen Berufshintergrund. Das ist mir schon etwas suspekt. Denn an der Basis legt man grossen Wert auf ausgebildete und erfahrene HR-Berater mit einer hohen Sozial- und Führungskompetenz. Daher stellt sich für mich manchmal auch die Frage, nach welchen Gesichtspunkten das Gedankengut des HR, aber auch des BGM in die Geschäftsleitungen getragen wird.

Thomas Mattig: Die Zahlenfixiertheit kann auch eine Entschuldigung für Untätigkeit sein. Dass das BGM nützt, hat für mich mit gesundem Menschenverstand zu tun. Da muss man nicht noch endlos Studien nachschieben. Um Manager zu überzeugen, helfen gute Beispiele. Etwa, wenn man von einem Konkurrenten erzählt, der sein BGM erfolgreich betreibt, oder wenn dieser sogar selbst darüber berichtet. Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert, wenn die Verantwortlichen gute Erfahrungen gemacht haben.

Auch wenn das BGM unschöne Wahrheiten zu Tage bringt?

Thomas Mattig: Man wird im BGM-Prozess nicht weit kommen, wenn man Fehler fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Allerdings finde ich, dass es generell eine schlechte Eigenschaft eines 
Managers ist, wenn er Kritik nicht entgegennehmen kann.

Apropos Kritik und Fehlerkultur: Die Schweiz ist ja nicht gerade bekannt für ihre Fehlerkultur, wir gelten ja vielmehr als ein Land von Perfektionisten …

Markus Marthaler: Wenn ich in einem Unternehmen ein BGM-Konzept vorstelle, erlebe ich oft, dass man sich zuerst einmal alles anhört. Dort, wo es wehtut, wird es jedoch schwierig. Etwa, wenn ich in einer Firma mit einer Fluktuation von 30 Prozent Erklärungen dafür verlange. Wenn man ein BGM umsetzen will, das Hand und Fuss hat, braucht man eine konstruktive Fehlerkultur, die ich so oft nicht erlebe. Je erfolgreicher eine Firma ist, desto weniger werden Dinge hinterfragt. Erfolg macht bequem. Nicht nur aus therapeutischer Sicht ist der Mensch letztlich nur durch Leid und Schmerz bereit, Dinge zu verändern.

Hansjörg Huwiler: Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Menschen sind neugierig.

Markus Marthaler: Bis es wehtut.

Hansjörg Huwiler: Der konstruktive Umgang mit Fehlern ist aus meiner Sicht vor allem betriebskultur- und branchenabhängig. In einem Produktionsbetrieb werden alle Fehler registriert und aufgezeigt. Bei kontinuierlichen Verbesserungsprozessen redet man darüber und fragt nach. Grundsätzlich geht es darum, daraus zu lernen. Das kann sehr ermüdend und mühsam sein. Es gibt aber mittlerweile viele Firmen, die das tun. Im Gesundheitswesen wird das Critical Incident Reporting wichtiger. In Branchen wie der Fliegerei, bei den SBB und in der Chemie wird das schon lange betrieben. Das ist auch wichtig, denn wenn es kracht, ist es übel und auch eine Überlebensfrage.

Thomas Mattig: Mit Fehlern konstruktiv umzugehen hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Es gibt in der Schweiz eine Fehlerkultur, die schon durch die Schulen geprägt wird. Auch in den Schulen sollte man vermehrt Fehler zulassen und den Kindern nicht eine Null-Fehler-Mentalität einimpfen. Es ist später extrem schwierig, dies im Arbeitsleben wieder abzustreifen. Da gibt es bestimmt Nachholbedarf.

Markus Marthaler: Wenn man eine Fehlerkultur haben will, muss man anders kommunizieren. Sage ich etwa: «Sie haben einen Fehler gemacht!», sieht sich der Angesprochene in die Enge getrieben. Frage ich jedoch: «Können Sie mir sagen, weshalb Sie das gemacht haben?», so ist das ein anderer Ansatz. Anhand der Erläuterungen merke ich, ob ich mir selbst zu wenig Gedanken gemacht habe.

Wir werden künftig alle länger arbeiten. Welche Herausforderungen bringt dieser Umstand für das Gesundheitsmanagement mit sich?

Thomas Mattig: Obwohl die Belegschaft generell älter wird, heisst das nicht unbedingt, dass diese Mitarbeitenden verletzlicher werden. Im Gegenteil. Jüngere sind gestresster als ältere Mitarbeitende. Eine Erklärung hierfür ist, dass jemand mehr Ressourcen hat, je höher seine Verantwortung ist, und Jüngere weniger Verantwortung tragen. Erfahrung ist eine wichtige Ressource und hat einen positiven Effekt auf das Stressempfinden. Das kann man im BGM künftig vermehrt nutzen.

Hansjörg Huwiler: Auf der einen Seite steigen die Ansprüche an die Mitarbeitenden, auf der anderen auch die Möglichkeiten. Mitarbeitende, die dieses Tempo nicht mithalten oder befristet nicht mithalten können, brauchen einen sinnvollen Platz in unserer Gesellschaft und den haben sie heute nicht. Das ist empörend. Die Schweiz ist genügend reich und stark, um Menschen Chancen und Möglichkeiten zu geben, die sonst unter die Räder kommen. Arbeit soll uns allen dienen, nicht wir der Arbeit. Fortschritte sollen allen Menschen zugute kommen. Wir sollten deshalb alle Anstrengungen unternehmen, damit Menschen bis 65 arbeiten und ihre Leistung erbringen können. Dass Arbeitnehmende bis 65 leistungsfähig bleiben, hat viel mit den Arbeitsbedingungen zu tun und wie sie geführt werden, und wenig mit ihrem biologischen Alter. Wir müssen ältere Arbeitnehmende ernst nehmen sowie aus- und weiterbilden. Bogenlaufbahnen oder neue Aufgabenverteilungen sind einige der Themen, welche die Betriebe angehen müssen. Das scheint jedoch noch nicht angekommen zu sein. Im Ausland scheint man weiter zu sein …

Markus Marthaler: Es gibt clevere Firmen, in denen Mitarbeitende ab 60 ins zweite Glied zurücktreten und ihren Nachfolger einarbeiten können. Ältere können ihre Erfahrungen weitergeben, während der Jüngere die Sicherheit hat, dass nicht viel schieflaufen kann. Meine Erfahrung ist jedoch die, dass Jüngere vor Älteren Angst haben. Erfahrung kann man mit Wissen nicht aufwiegen, und das ist der Punkt, wo die Jungen der Mut verlässt. Ich würde sofort einen älteren Mitarbeitenden einstellen. Die haben Erfahrung und müssen niemandem mehr etwas beweisen. Es gibt ganz viele Situationen, wo man Ältere beschäftigen könnte, aber den Mut haben wir in der Schweiz noch nicht.

Thomas Mattig: Wir tauschen uns regelmässig mit Kollegen aus Deutschland aus. Die haben einen ganz anderen Approach und es ist viel mehr vorgegeben und reglementiert. Ob das unter dem Strich die besseren Resultate bringt, bin ich mir nicht sicher. Es gibt verschiedene Länder mit unterschiedlichen Kontexten. Ausländische Konzepte kann man nicht einfach auf die Schweiz übertragen. Die Schweiz muss sich aus ihrer eigenen Stärke heraus entwickeln.
 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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