Arbeit und Recht

Abschaffung der Höchstarbeitszeiten durch Hintertüre

Am 22. Februar 2015 teilte der Bundesrat mit: Er wird die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung teilweise abschaffen. Ohne Arbeitszeitdaten können die Arbeitsinspektoren die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten nicht kontrollieren. Liegt die Abschaffung der Arbeitszeiterfassung in der Kompetenz des Bundesrates? Oder müsste das Bundesparlament das Arbeitsgesetz ändern? Lässt sich das richterlich überprüfen?

Der Bundesrat will auf das dritte Quartal 2015 die Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz ändern:

  1. Neu soll für Mitarbeitende mit einem Lohn über 120‘000 CHF keine Arbeitszeit mehr erfasst werden müssen, sofern a) diese Mitarbeitenden über hohe Zeitsouveränität verfügen und sofern b) der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung in einem Gesamtarbeitsvertrag vorgesehen ist.
  2. Zudem soll man mit Arbeitnehmenden, die über eine «gewisse Zeitsouveränität» verfügen, die Vereinbarung treffen können, pro Tag nur noch eine einzige Zahl zu erfassen: Die geleistete tägliche Arbeitszeit. Der Bundesrat nennt das «Vereinfachte Dokumentationspflicht».

Die Ankündigung des Bundesrats erstaunt:

Nur wenn Arbeitszeit erfasst wird, kann sie auch kontrolliert werden. Nur wenn Arbeitszeit kontrolliert werden kann, können die kantonalen Arbeitsinspektorate die Einhaltung der Höchstarbeitszeiten und der Ruhezeiten überprüfen. Arbeitszeitliche Arbeitnehmerschutzbestimmungen sind zentrale Regelungsbereiche des Arbeitsgesetzes. Nicht ohne Grund wurde mit dem Arbeitsgesetz ein eigener Straftatbestand geschaffen, der das vorsätzliche Zuwiderhandeln gegen Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen unter Strafe stellt. Der Straftatbestand ist nicht als Übertretung ausgestaltet (wie beispielsweise Falschparken) sondern als Vergehen (wie beispielsweise fahrlässige Tötung oder Geldwäscherei).

Wer zudem die tägliche Arbeitszeit feststellen will, muss zwangsläufig – anders ist es nicht denkbar – irgendwo Anfang und Ende der Arbeitszeit und der Pausen notieren. Schätzen Mitarbeitende ihre tägliche Arbeitszeit lediglich, setzen sie sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verurteilung aus. Jedenfalls genügte dem Obergericht des Kantons Bern eine Abweichung von insgesamt 7,78 Stunden im Wert von 550.00 Fr. Lohn für eine Verurteilung wegen Betrug. Das Konzept der Vereinfachten Dokumentationspflicht ist untauglich: Es ist entweder nicht praktizierbar oder es verführt zur unkorrekten Arbeitszeiterfassung.

«Gewisse Zeitsouveränität»

Bei der Vereinfachten Dokumentationspflicht fällt zudem das Kriterium der «gewissen Zeitsouveränität» ins Auge. Büroangestellte, ja generell der Dienstleistungssektor arbeitet heute praktisch immer mit einer «gewissen» Zeitsouveränität. Welche Arbeitnehmerin, der man das Formular «Vereinfachte Dokumentationspflicht» zur Unterzeichnung vorhält, würde sich trauen, die Unterschrift zu verweigern? Wie viele Mitarbeitende werden es sich noch erlauben, Überzeiten aufzuschreiben, wenn das Unternehmen die Vereinfachte Dokumentationspflicht einführt und die Mitarbeitenden zwischen den Zeilen lesen? Dort steht nämlich: Überzeiten unerwünscht.

Der Delegation von Rechtssetzungskompetenzen an den Bundesrat sind hohe Hürden gesetzt. Das Arbeitsgesetz sieht in Art. 40 vor, der Bundesrat sei zuständig für den Erlass «von Ausführungsbestimmungen zur näheren Umschreibung einzelner Vorschriften» des Arbeitsgesetzes. Entsprechend nennt die Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz bei jeder ihrer Bestimmungen präzise, welche Norm des Arbeitsgesetzes sie konkretisiert. Die Norm, die die Arbeitszeiterfassung konkretisiert, bezieht sich auf Art. 46 des Arbeitsgesetzes. Diese Bestimmung verlangt von den Unternehmen das Bereitstellen von Unterlagen, die für den Vollzug des Arbeitsgesetzes erforderlich sind. Gemeint sind damit – gemäss bundesrätlicher Botschaft zum Arbeitsgesetz – insbesondere «Aufzeichnungen über die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit [...], über die von den einzelnen Arbeitnehmern geleisteten Überstunden und den dafür bezahlten Lohnzuschlag [...]. Diese Unterlagen sind den Vollzugs- und Aufsichtsorganen zur Verfügung zu halten.»

Zusammenfassend: Der Bundesrat darf Bundesgesetze (wie das Arbeitsgesetz) nicht ändern. Das ist dem Parlament vorbehalten. Der Bundesrat darf das Arbeitsgesetz auf dem Verordnungsweg lediglich konkretisieren. Diesen fundamentalen Grundsatz der Gewaltenteilung scheint das Wirtschaftsdepartement auf sehr eigene Weise zu interpretieren:

  1. Das SECO untersteht Bundesrat Schneider Ammanns Wirtschaftsdepartement. Die Vereinfachte Dokumentationspflicht hat das SECO mit Weisung vom Dezember 2013 bereits einführen lassen. Im Dezember 2013 hielt man es offenbar noch nicht für erforderlich, dafür die Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz ändern zu müssen. Was hat sich seither geändert?
  2. Wenn das Wirtschaftsdepartement die Wirtschaft von der Last der Arbeitszeiterfassung befreien möchte, wenn das Departement sich für berechtigt erachtet, geltendes Recht entsprechend abzuändern: Warum wird die Arbeitszeiterfassungspflicht nicht ganz abgeschafft – sondern nur teilweise? Der Bundesrat ist keineswegs, wie in der Pressemitteilung vom 22. Februar 2015 Glauben gemacht wird, auf die Zustimmung der Sozialpartner angewiesen. Das Arbeitsgesetz verpflichtet den Bundesrat zwar zu einem Vernehmlassungsverfahren (Anhörungsverfahren). Vorgebrachte Einwände muss der Bundesrat aber nicht berücksichtigen.

Ob der Bundesrat die Pflicht, Arbeitszeitdaten zu erfassen, teilweise abschaffen darf, ist gerichtlich überprüfbar. Bis die Frage geklärt ist, bleibt die Rechtsunsicherheit.

Gewonnen ist mit dem bundesrätlichen Vorstoss nicht viel: Noch immer grassiert die Auffassung, es sei derjenige der Fleissigste, der abends im Büro als Letzter das Licht löscht. Variable Lohnsysteme sind noch immer einzig auf Umsatz- und gewinnorientierte Faktoren ausgerichtet. Dabei lassen sich Arbeitszeit- und Lohnmodelle sehr wohl und sehr konkret darauf ausrichten, Effizienz zu belohnen und so geleistete Arbeitsstunden zu senken – zum Wohl des Unternehmenserfolges genauso wie zur Entlastung der Mitarbeitenden.

HR Today-Serie Arbeitszeiterfassung: Teil 6

Innerhalb der Rubrik «Arbeit und Recht» beleuchtet HR Today in jeder dritten Ausgabe das kontroverse Thema Arbeitszeiterfassung. 
Der Hauptbeitrag von Dr. Heinz Heller, der juristische Aspekte der Arbeitszeiterfassung beleuchtet, wird von Ivo Muri durch eine Replik aus der Perspektive der Zeitwirtschaftssystem-Praxis ergänzt.

 

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Dr. Heinz Heller 
praktiziert als Fachanwalt SAV Arbeitsrecht. Er berät überwiegend Arbeitgeber und Manager.

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