HR Today Nr. 9/2021: Thema – HR Change Management

Am Wendepunkt

Ende 2019 schaltete der Energie- und Infrastrukturbetreiber BKW das Kernkraftwerk (KKW) Mühleberg ab. Nun folgt dessen Rückbau. Ein Novum für die Schweiz: Bisher wurde kein einziges Atomkraftwerk stillgelegt. Über die Auswirkungen auf das HR, die Führungskräfte und die Mitarbeitenden.

«Drei, zwei, eins, null.» Es herrscht Wehmut im Kommandoraum des Kernkraftwerks Mühleberg, als dieses am 20. Dezember 2019 nach einer 47-jähriger Betriebszeit endgültig abgeschaltet wird. Für das Abschiednehmen blieb kaum Zeit: Die Abbauarbeiten begannen bereits am 6. Januar 2020. Dass die Mitarbeitenden an «ihrem» Kernkraftwerk hingen, spürt auch HR-Verantwortliche Heidi Mezenen: «Unsere Mitarbeitenden haben das Kernkraftwerk über Jahre hinweg gepflegt. Für viele ist es emotional, mitzuerleben, wie dieses nun Stück für Stück auseinandergenommen wird.» Bis vom KKW nichts mehr übrig ist, wird es rund 15 Jahre dauern und 800 Millionen Franken kosten. Erst 2034 kann die freigewordene Fläche umgenutzt werden.

Vom Elektrizitätserzeuger zum Abbruchprojekt

Mit der Abschaltung des Kernkraftwerks veränderten sich die Rollen und Aufgaben der Mitarbeitenden. Ungewohnt für jene, die dem Betrieb treu ergeben waren: «Auch wer bis zur Pension im Kernkraftwerk Mühleberg arbeiten wollte, musste sich plötzlich mit beruflichen Veränderungen auseinandersetzen, sagt Mezenen. Diese Verunsicherung stellte Führungskräfte und HR vor grosse Herausforderungen: «Unsere Mitarbeitenden wissen, wie die verschiedenen Kernkraftwerk-Systeme zusammenarbeiten und besitzen vertiefte Betriebskenntnisse. Möglichst viele der neuen Funktionen sollten deshalb mit erfahrenen Fachkräften besetzt werden.» Dafür habe man intern die Stellenausschreibungen mehrmals kommuniziert, Mitarbeitende aufgefordert, sich zu bewerben, und ihnen bestätigt, dass sie beim Rückbau eine neue Rolle übernehmen können. Das habe aber nicht alle Ängste beseitigt: «Dafür waren wiederkehrende Gespräche notwendig», sagt Mezenen. Rund zwei Drittel der insgesamt 300 Mitarbeitenden üben heute im Kernkraftwerk andere Tätigkeiten aus. «Dazu war ein enger Austausch mit der Kraftwerksleitung, den Führungskräften, den Beschäftigten und dem HR notwendig.»

Die neuen Rollen und Aufgaben fordern den Mitarbeitenden einiges ab: «Während des Kernkraftwerkbetriebs kümmerten sie sich hauptsächlich um die Sicherheit und die Leistungsfähigkeit der Anlage», sagt Mezenen. «Sie übernahmen noch während des Betriebs mit Blick auf den Rückbau neue Aufgaben. Dabei mussten sie mehrere Tätigkeiten gleichzeitig vorantreiben und sich bei einzelnen Projektschritten mit Kollegen abstimmen, ohne die Sicherheit aus den Augen zu verlieren.» Darauf waren die KKW-Mitarbeitende vorbereitet. Häufig seien hierfür aber zusätzliche Fachkenntnisse vonnöten gewesen. «Meist genügte ein Learning on the Job.» Etwa mit dem Besuch deutscher im Rückbau befindlicher Kernkraftwerke, durch die Projektbegleitung eines erfahrenen Kollegen, das Lesen von Konzepten, die Vorbereitung von Arbeiten oder die Inbetriebnahme neuer Systeme und Anlagen. Teils wurden Mitarbeitende auch umgeschult. Beispielsweise vom Betriebswächter zur Strahlenschutz-Fachkraft. «Das war aufwendig», sagt Mezenen.

Projekt- statt Wartungsarbeiten

Auch der ehemalige Reaktoroperateur Bernhard Kaderli, der nach Abschaltung des Kernkraftwerks den Rückbau des Maschinenhauses verantwortet, hat sich neue Fähigkeiten und Kenntnisse im Projektmanagement angeeignet. Aufgrund der langen Planungszeit war das für ihn aber ohne Weiteres machbar: «Zwischen dem Entscheid, das Kernkraftwerk abzuschalten, bis zum letzten Betriebstag lagen ja sechs Jahre.»

Der Unterschied zu seiner alten Rolle? «Früher habe ich die Anlage im Kommandoraum verhätschelt, heute beschäftige ich mich mit Arbeitssicherheit, Bauarbeitenverordnungen und Kalkulationen.» Das Projekt schreite voran. Einige Meilensteine seien bereits bewältigt. Etwa die Demontage der zwei jeweils 144 Tonnen wiegenden Generatoren, die Kaderli mit seinem Team im November 2020 mit einem Schwerlasthebegerät innert 28 Stunden Zentimeter für Zentimeter aus dem Maschinenhaus transportierte und mit einem Schwerlasttransporter zu einem Recycling-Unternehmen fahren liess. «Unfallfrei», betont er. In den nächsten Monaten würden weitere schwere Komponenten im Maschinenhaus abgebaut. Abgerissen werde das Gebäude noch nicht: «Die Kühlwasserversorgung zur Kühlung der Brennelemente führt durch das Maschinenhaus», erklärt Kaderli. «Ausserdem benötigen wir das Maschinenhaus für die Materialbehandlung während des nuklearen Rückbaus.»

Erste Meilensteine im Rückbau

Letzterer ist gemäss Gesamtprojektleiter Stefan Klute  bereits im Gang: «Derzeit demontieren wir Maschinenteile im Reaktorgebäude. Zudem zerlegen und verpacken wir stark radioaktive Komponenten aus dem Innern des Reaktors unter Wasser. Daneben schaffen wir im Maschinenhaus mehr Platz und reinigen darin radioaktiv verunreinigtes Material. Ab 2022 transportieren wir die Brennelemente vom Brennelement-Lagerbecken ins zentrale Zwischenlager in Würenlingen, bis Ende 2024 keine Brennelemente mehr im KKM vorhanden sind.» Weitere Schritte? «Zwischen 2025 bis 2030 demontieren wir verbliebene verstrahlte Anlagenteile wie Reaktordruckbehälter oder das nicht mehr benötigte Brennelement-Lagerbecken.» Von einer Gesamtmasse von 200'000 Tonnen fielen rund 180 000 Tonnen Bauschutt an. «Davon wird ein Grossteil auf anderen Baustellen wiederverwertet.»

Trotz Pandemie und allen damit verbundenen personellen Schwierigkeiten ist das Projekt auf Kurs. Darauf ist Teilprojektleiter Kaderli besonders stolz. Das ging jedoch nicht ohne Mehraufwand: «Wir mussten beispielsweise gemeinsam mit unseren Subunternehmern aus Deutschland abklären, ob deren Mitarbeitende in Quarantäne müssen oder übers Wochenende nach Hause fahren können. Schlussendlich blieben sie hier.»

Gefragtes Know-how

Seine Arbeit wird Kaderli noch einige Jahre beschäftigen. Ob er bis 2031 im ehemaligen Kernkraftwerk tätig ist, bezweifelt er: «Ob es mich hier bis dann noch braucht, weiss ich nicht.» Um seine weitere Karriere sorgt er sich aber nicht: «Mit meinem fachlichen Know-how kann ich wahrscheinlich sogar bei der BKW bleiben, die Betreiberin des Kernkraftwerks war.» Auch für HR-Verantwortliche Mezenen sind die Arbeitsmarktchancen der Kernkraftwerk-Mitarbeitenden intakt: «Ihre Fachkenntnisse aus dem Betrieb und aus der Stilllegung des Kernkraftwerks werden in den nächsten Jahren im In- und Ausland sehr stark gefragt.» Darüber hinaus könnten sich Mitarbeitende auch innerhalb des Konzerns entwickeln. Für sie selbst ist spätestens 2031 Schluss mit dem Projekt: «Voraussichtlich verlassen dann die letzten Kolleginnen und Kollegen den Standort, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Dann schliesse wohl auch ich dieses Kapitel mental ab.» Was aus dem ehemaligen Kernkraftwerkgelände werde, ist noch unklar, sagt Gesamtprojektleiter Stefan Klute. «Im sich schnell wandelnden Umfeld der Energiebranche ist schwer abzuschätzen, wie ein Standort zehn Jahre später genutzt wird.»

Kernkraftwerk Mühleberg

Am 20. Dezember 2019 nahm der Energie- und Infrastrukturbetreiber BKW das Kernkraftwerk (KKW) Mühleberg nach 47 Jahren vom Netz. Damit ist es das erste in der Schweiz und weltweit eines von 150. Mit der Abschaltung endete die Arbeit jedoch nicht. Bis das KKW demontiert ist, dauert es rund 15 Jahre. Erst 2030 wird es frei von radioaktivem Material sein, das weniger als zwei Prozent der Gesamtmasse beträgt. Mühleberg war das grösste Kraftwerk der BKW und produzierte während seiner gesamten Laufzeit rund 120 Milliarden Kilowattstunden Strom. Das entspricht einem über hundertjährigen Stromkonsum einer Stadt wie Bern. Die Kosten für die Stilllegung und Entsorgung des Bauschutts betragen rund drei Milliarden Franken, wovon über 80 Prozent bereits gedeckt sind. 2034 soll das ehemalige Gelände in der Grösse von elf Fussballfeldern naturnah oder industriell genutzt werden.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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