Risikofaktor Personal

«Da passiert mir schon nichts» – wie 
Gefahren im Betrieb unterschätzt werden

Menschen handeln manchmal riskant oder sicherheitswidrig. Daher gilt auch der Faktor Mensch in 95 Prozent aller Unfälle als Ursache. Oft kommt es jedoch vor, dass den Mitarbeitenden gar nicht bewusst ist, dass sie risikoreich handeln, da sie die Tätigkeit als vermeintlich sicher betrachten. Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine gezielte Sicherheitspolitik.

Die Sicherheitspsychologie untersucht, wie Menschen in gefährlichen Situationen handeln, und stellt dabei den Kopf der handelnden Personen in den Mittelpunkt. Die hohe Bedeutung von menschlichen Faktoren zeigt sich etwa in solchen Fällen, in denen nach wie vor Unfälle geschehen, obwohl auf technischer Seite alle denkbaren Sicherheitsmassnahmen getroffen wurden. Manchmal ist auch der Erlass von Vorschriften wirkungslos: etwa wenn den Handelnden unklar bleibt, ob die Vorschrift «nur» auf Rechtssicherheit zielt oder ob darin auch ein Nutzen für unfallfreies Arbeiten besteht.

Finden sich also trotz aller Vorschriften oder technischer Verbesserungen dennoch nachlässige, riskante oder sicherheitswidrige Verhaltensweisen und sogar Unfälle, so könnte dies damit zusammenhängen, dass die Gefährlichkeit betrieblicher Tätigkeiten verzerrt beurteilt wird.

Falsches Wissen über das 
tatsächlich vorhandene Risiko

Tatsächlich unterschätzten die meisten nach Unfallhäufigkeiten befragten Mitarbeiter aus Industrieunternehmen zwar nur wenige 
ihrer regelmässig ausgeführten Tätigkeiten 
(15 Prozent). Jedoch geschehen hier fast die Hälfte aller Unfälle. Falsches Wissen sorgt offenbar für nachlässiges Verhalten; der Glaube an vermeintlich sichere Tätigkeiten kann in wiederholten sicherheitswidrigen Handlungen resultieren. Vor allem hier müssen die Unternehmen in ihrer Sicherheitspolitik ansetzen.

Das Gegenteil ist bei überschätzten Tätigkeiten (ebenfalls 15 Prozent) der Fall: Das Unfallgeschehen ist hier oft deutlich unterproportional; offenbar schützt der Glaube an eine hohe Unfallzahl davor, dass tatsächlich Unfälle geschehen. Es zeigte sich aber auch, dass rund 70 Prozent aller regelmässig ausgeführten betrieblichen Handlungen zutreffend eingeschätzt werden – mitunter selbst bei unfallbelasteten Tätigkeiten. In diesen Fällen können die Unfallursachen bei bislang übersehenen technischen oder organisatorischen Problemen liegen – möglich ist aber auch, dass die mögliche Schadensschwere subjektiv unterschätzt wird.

Ein gutes Beispiel hierfür sind gesundheitsschädigende Verhaltensweisen: Dort stellt man oft fest, dass die Betroffenen zwar über die drohende Schädigung im Bilde sind, dennoch setzen sich viele Menschen der Gefahr weiterhin aus. Ein möglicher Grund: Der drohende Schaden wird für gering gehalten oder wird erst in grossem zeitlichem Abstand erwartet.

Warum Schockvideos für die 
Sicherheit oft kontraproduktiv sind

Tatsächlich tritt die angedrohte schwere Schädigung individuell oft nur sehr verzögert ein. Bis dahin jedoch gewinnen die Handelnden den Eindruck, dass sich beispielsweise überlaute Musik oder Rauchen doch gar nicht negativ auswirken.

Dieser Effekt wird in der Lernpsychologie als «negative Verstärkung» bezeichnet und bedeutet für die Sicherheit und Gesundheit: Tritt die angekündigte Strafe oder die negative Konsequenz nicht ein – und sei dies nur, weil man schlicht Glück gehabt hat –, so erhöht es die Wahrscheinlichkeit sicherheits- oder regelwidriger Handlungen. Werden die Folgen besonders drastisch dargestellt, beispielsweise bei Schockvideos, nimmt dieser für die Sicherheit ungünstige Effekt manchmal sogar noch deutlich zu und wirkt damit eher kontraproduktiv. Doch selbst wenn der drohende Schaden richtig eingeschätzt wird und zudem das Wissen über das Risiko bekannt ist, kann ein weiterer Faktor für eine Unterschätzung der tatsächlichen Gefahr sorgen: nämlich die Überschätzung der eigenen Kompetenz.

Verschiedene Studien aus der Verkehrspsychologie zeigen diese deutliche Überschätzung der eigenen Fähigkeiten (1) bei jungen Fahrern. Selbst in objektiv gefährlichen Situationen, beispielsweise bei kurzem Abstand zum Vorausfahrenden oder bei hohen Geschwindigkeiten, fühlen sich junge Fahrer oft noch im Stande, den drohenden Unfall jederzeit vermeiden zu können.

Dieser Effekt betrifft aber auch erfahrene Fahrzeuglenker, zum Beispiel in Kurven von Ausserortsstrassen (2): Die Gefahr in mehreren untersuchten unübersichtlichen Kurven wurde für wenig kontrollierbar gehalten – hier geschahen aber nur wenig Unfälle. Die Gefahr in den gut überschaubaren Kurven aber wurde gering eingeschätzt, dabei ereigneten sich hier zahlreiche Unfälle.

Die Rückschlüsse auf den betrieblichen Kontext sind leicht zu ziehen: Überschätzen Menschen ihre eigene Kontrolle, verursachen sie mehr Unfälle. Dies zeigt sich vor allem bei Routinetätigkeiten immer wieder, etwa beim Umgang mit Handwerkszeugen oder bei 
Reinigungsarbeiten.

Was passiert, wenn der drohende Schaden unterschätzt wird

Unterschätzungen ergeben sich infolge falschen Wissens über die tatsächliche Unfallhäufigkeit, aufgrund einer Unterschätzung des drohenden Schadens oder wegen der Überschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten auf die drohende Gefahr. Während im Strassenverkehr verzerrte Gefährlichkeitsurteile offenbar vorwiegend junge Lenker betreffen, gilt dies nicht im betrieblichen Zusammenhang (3): So irrten sich Novizen ebenso häufig wie Beschäftigte mit längerer Berufserfahrung. Zudem zeigten sich keine Unterschiede zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden, was vor allem eines deutlich macht: Unterschätzungen sind nicht etwa die Folge von Inkompetenz des Handelnden, sondern offenbar das Ergebnis von systematischen – und «menschlichen» – Lernerfahrungen.

Verzerrte Urteile über die Gefährlichkeit führen somit dazu, dass man sich trotz akuter Gefährdung völlig sicher fühlt. Diese gefühlte Sicherheit wiederum erzeugt bei der Anwendung bestimmter Präventionsverfahren einen «blinden Fleck»: Während eine häufig angewendete Gefährdungsbeurteilung bei realistisch eingeschätzten Tätigkeiten zwar einen effektiven Zugang verspricht, werden unfallbelastete, aber unterschätzte Gefahren oft übersehen.

Unfallzahlen senken

Was hilft, wenn technische Verbesserungen ausgereizt erscheinen, sich aber die Zahl der Unfälle kaum noch verringert:

  • 
Analysieren Sie kritisch, aber neutral alle vorliegenden Unfallberichte. Versuchen Sie zu beantworten, welche spezifische Tätigkeit der Mitarbeitende gerade ausführen wollte, als es zum Unfall kam.
  • 
Analysieren Sie die Einschätzung der Gefahr regelmässig ausgeführter Tätigkeiten Ihrer Mitarbeitenden: Werden bestimmte Tätigkeiten für unfallfrei gehalten, obwohl sich viele Unfälle ereignen? Externe sicherheitspsychologische Unterstützung kann hier besonders hilfreich sein.
  • 
Ist eine Tätigkeit unfallbelastet, aber realistisch eingeschätzt oder überschätzt: Suchen Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden besonders nach technischen oder organisatorischen Verbesserungen.
  • 
Ist eine Tätigkeit unfallbelastet und unterschätzt: Analysieren Sie die Qualität des Gefährlichkeitsurteils: Ist das Risiko nur unzureichend bekannt? Wird die Schadenshöhe unterschätzt? Oder überschätzen die Handelnden eigene Kontrollmöglichkeiten der Unfallgefahr?
  • 
Initiieren Sie – möglichst mit psychologischer 
Unterstützung – eine passgenaue Interventionsmassnahme: z.B. hilft bei falschem Wissen oft die Darstellung des tatsächlichen Unfallgeschehens. Hilfreich ist es auch, dauerhaft sämtliche Beinahe-Unfälle zu sammeln und gemeinsam zu 
bewerten. (Hinweis auf Umgang mit Fehlerkultur!)

Für eine wirkungsvolle Prävention die Fehleinschätzungen untersuchen

Die klassischen Präventionsbemühungen 
versuchen zu sensibilisieren, zu warnen, 
abzuschrecken oder aufzuklären. Effektiver 
werden solche Interventionen, wenn man vorgängig die Quantität und Qualität der möglichen Fehleinschätzung untersucht.

Ein Beispiel: In Betrieben ist das «Gehen» oft nicht nur stark unfallbelastet, die Gefahr dieser Tätigkeit wird ebenso häufig unterschätzt. Wie kommt es dazu – und was lässt sich dagegen ausrichten?

  • 
Oft sind den Handelnden selbst eigene Unfälle beim Gehen nicht mehr bekannt. Veranschaulicht man die Unfälle des eigenen Betriebs, verringert sich das Unfallgeschehen deutlich.
  • 
Gehen ist eine Tätigkeit, die man oft schon seit frühster Kindheit beherrscht und die daher für hoch kontrollierbar gehalten wird. Eine Aussage nach dem Motto «Pass auf beim Gehen!» ist daher nur dann wirkungsvoll, wenn man die Grenzen der Kontrollmöglichkeiten möglichst individuell erlebbar machen kann.
  • 
Die Unfallfolgen beim Gehen werden von Mitarbeitenden häufig massiv unterschätzt. Ohne abschreckend darstellen zu müssen, kann das Aufzeigen typischer Unfallfolgen sinnvoll sein.

Es ist also wichtig, genau an denjenigen Stellen des Gefährlichkeitsurteils einzuwirken, die tatsächlich Verzerrungen aufweisen. Wird beispielsweise nur Wissen vermittelt, ohne dass eine eventuell vorhandene Kontrollillusion (4) korrigiert wird, lassen sich Unfallzahlen kaum reduzieren.

Wirkungslos ist eine «am Kopf ansetzende» Präventionsmassnahme, wenn gar keine Urteilsverzerrung vorliegt, etwa weil eine Tätigkeit hinsichtlich ihrer Gefahr angemessen beurteilt wird. Auch hier dient wieder ein Beispiel: Im Rahmen einer betrieblichen Analyse ergab sich, dass die Tätigkeit «Treppe begehen» stark unfallbelastet war. Doch die Handelnden waren sich der Gefahr dieser Routinetätigkeit bewusst; sie beurteilten sie – auch zur Verwunderung ihrer Vorgesetzten – realistisch. Die nun gemeinsam mit den Mitarbeitenden durchgeführte Schwerpunktsuche nach technischen und organisatorischen Ursachen legte offen, dass die Pflicht zur Benutzung des Handlaufs beim Treppe-Begehen oft gar nicht zu befolgen war: Die Mitarbeitenden hatten aufgrund ständigen manuellen Materialtransports keine Hand mehr frei. Folgerichtig wurden daraufhin Transportrucksäcke angeschafft – was auch dauerhaft für eine deutliche Verringerung der Unfälle sorgte.

Generell lässt sich daher feststellen: Dort, wo der Kopf des Mitarbeitenden aufgrund von Fehleinschätzungen ursächlich ist für Unfälle, sind technische oder organisatorische Verbesserungen wenig effektiv. Hier braucht es psychologisch fundierte Präventionsmassnahmen. Dort jedoch, wo der Kopf des Mitarbeitenden nicht das Problem ist, helfen 
Sensibilisierungen nur selten – hier werden technische oder organisatorische Verbesserungen benötigt, bei denen die Mitarbeitenden gezielt mit einbezogen werden können – und einbezogen werden müssen.

Quellen:

1 
Hackenfort, M. (2008). Interventionen für Fahranfänger. Evaluation eines multifunktionalen Programms. Zeitschrift für Verkehrssicherheit, 54, 2, S. 81–86.
2 
Petermann, I., Weller, G., & Schlag, B. (2008). Beitrag des visuellen Eindrucks zur Erklärung des Unfallgeschehens in Landstraßenkurven. In: J. Schade & A. Engeln (Hrsg.), 
Fortschritte der Verkehrspsychologie. Beiträge vom 
45. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
3 
Musahl, H.-P. (1997). Gefahrenkognition: Theoretische 
Annäherungen, empirische Befunde und Anwendungsbezüge zur subjektiven Gefahrenkenntnis. Heidelberg: Asanger.
4 
Langer, E. J. (1975). The illusion of control. Journal of 
personality and social psychology, 32, S. 311–328.

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Dr. Markus Hackenfort ist Projektleiter Unfallforschung am Zentrum Verkehrs- & Sicherheitspsychologie des IAP Instituts für Angewandte Psychologie. Er erforscht wie sich Unfälle im Kontext von Verkehrs- und Arbeitssicherheit verhindern lassen.

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