Nachwuchs sichern

«Die Lernenden fühlen sich dort 
wohl, wo sie verstanden werden»

Was erwartet ein Unternehmen von seinen Lernenden? Und worauf legen Jugendliche beim Lehrlingsverantwortlichen Wert? Annika Keller, Leiterin Berufsbildung national bei Coop, und Tony Mehr, Fachbereichsleiter beim Laufbahnzentrum Zürich, geben stellvertretend für diese beiden Perspektiven Einblick in die Welt der Lernenden.

Coop

Selbstverantwortung ist nicht mehr 
selbstverständlich

Frau Keller, worin unterscheiden sich heutige Lernende von früheren?

Annika Keller: Die Jugendlichen sind vermehrt auf der Suche nach Grenzen. Viele haben nicht gelernt, sich an Grenzen zu halten, und vor allem nicht, dass Grenzüberschreitungen auch Konsequenzen haben. Sie loten aus, wie weit sie gehen können, ob beispielsweise Unpünktlichkeit toleriert wird. In unserer Ausbildung müssen sie lernen, Grenzen einzuhalten und Regeln zu akzeptieren. Und zwar nicht nur um die Grundausbildung abzuschliessen, sondern auch um in der Wirtschaft bestehen zu können.

Was, wenn die Grenzen nicht respektiert werden?

Dann sprechen wir mit dem Betreffenden und erläutern ihm nochmals unsere Erwartungen und zeigen ihm die Konsequenzen auf. Bessert sich nichts, wird er wieder zum Gespräch geladen und erhält zudem eine schriftliche Verwarnung. Die letzte Stufe ist die Vertragsauflösung.

Weitere Unterschiede zu früher?

Einigen Jugendlichen fehlt die Initiative zur Selbständigkeit. Ein Beispiel: Wenn ein Lernender krank ist, muss er anrufen und sich abmelden. Bei einem Teil der Lernenden, oftmals den Jungs, ruft aber die Mutter an. Weiter stelle ich fest, dass sie nicht mehr gewohnt sind, selber zu denken, zu handeln, ohne dazu aufgefordert zu werden. In meinen Kursen beispielsweise muss ich sie explizit ermuntern, sich Notizen zu machen.

Lassen sich die Bedürfnisse der Generation Y mit denjenigen des Unternehmens in Einklang bringen?

Ja. Die Jugendlichen sind gut informiert, sehr interessiert und bereit zu lernen, um etwas aus ihrem Leben zu machen – einige haben einfach Startschwierigkeiten. Sie sind mit vielen Technologien aufgewachsen und suchen einen Gegenpol. Das können wir ihnen bieten: Arbeiten im Team, Kontakt zu anderen Menschen, auch körperliche Arbeit. Und wir profitieren auch von ihnen: Sie zeigen uns neue Wege, geben neue Impulse und Ideen, hinterfragen Prozesse und Abläufe.

Getrauen sich Lernende, langjährigen Mitarbeitenden Änderungsvorschläge zu machen?

Wir trainieren die Jugendlichen darauf, wie sie Feedback geben können, Ideen einbringen, ohne dass sich Mitarbeitende angegriffen fühlen oder brüskiert sind. Natürlich fällt es nicht allen gleich leicht, sich von Lernenden etwas sagen zu lassen. Aber wir fördern diesen Austausch.

Haben Sie die Ausbildung der Generation Y angepasst oder müssen sich die Jugendlichen anpassen?

Als Arbeitgeber haben wir Regeln, die alle unsere Mitarbeitenden einhalten müssen. Zudem sind wir an die Bildungsverordnung gebunden, die laufend reformiert und den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst wird. Hingegen kommen wir mit unseren Methoden und Instrumenten gerne den jungen Menschen entgegen und sind flexibel, wenn wir Probleme erkennen. Als wir beispielsweise feststellten, dass die Selbstverantwortung eine Problematik darstellt, haben wir drei Ausbildungstage erarbeitet, in denen wir mit den Lernenden über ihre Stärken und Potenziale reden und mit ihnen an ihrer Persönlichkeit arbeiten. Eine solche soziale Ausrichtung fehlte bisher, da die meisten Grundbildungen den Hauptfokus auf die fachlichen Inhalte legen. 

Was tun Sie, damit die Lernenden motiviert bleiben?

ndem wir ihre Selbstverantwortung fördern, lernen sie, selbständig zu arbeiten, und das wirkt motivierend. Einige schöpfen mit Freude aus dem Vollen und bekommen entsprechend Kompetenzen und dürfen Verantwortung übernehmen. In diesen Fällen müssen wir darauf achten, sie zu fördern, ohne sie zu überfordern.

Welche Werte erwarten Sie von den Jugendlichen?

Ehrlichkeit, Kontaktfreudigkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Respekt gegenüber anderen, Eigeninitiative und Freude an der Arbeit. Wer einige dieser Werte nicht im Elternhaus oder in der Schule verinnerlicht hat, dem fällt es schwer, sie zu begreifen.

Was bereitet den jungen Leuten am meisten Schwierigkeiten?

Einerseits Disziplin und andererseits ihren Alltag, der aus Arbeit, Schule, Hausaufgaben, Freunden, Hobbys besteht, unter einen Hut zu bringen. Das ist zugegebenermassen auch eine grosse Herausforderung. Im zwischenmenschlichen Bereich haben sie Mühe, sich in ein Team einzuordnen, und auch Kritik anzunehmen, ist für viele nicht einfach.

Was ist Ihr oberstes Ziel in der Lehrlingsausbildung?

Eine qualitativ gute Grundausbildung in allen Berufsfeldern sicherzustellen und so die Basis zu legen für den Managementnachwuchs. Die Lehrlingsausbildung ist die Grundlage für die Personalentwicklung. Ebenso wollen wir volkswirtschaftlich und sozial unsere Verantwortung übernehmen.

Wie viele Lernende behalten Sie nach dem Lehrabschluss und wie wählen Sie sie aus?

Unser strategisches Ziel ist, dass wir über 60 Prozent weiterbeschäftigen, und das haben wir in den letzten Jahren immer erreicht. Neben dem Zeugnis wird beurteilt, wie sie sich im Geschäft bewähren betreffend fachlichen, sozialen und persönlichen Kriterien sowie von der Methodik her.

Werden Lernende, die nach Lehrabschluss bei Coop bleiben, zu besonders treuen und langjährigen Mitarbeitenden?

Ich behaupte ja – und bin selber das beste Beispiel. Ich habe hier die Lehre absolviert und arbeite nun seit 21 Jahren hier. Auch bei Managementtagungen sehe ich oft Geschäftsführer, die bei uns als Lernende angefangen haben. Wir können den Lehrabsolventen intern viele Entwicklungsmöglichkeiten und Erfahrungen bieten, weil sich unter unserem Dach viele Unternehmungen und Produktionsfirmen versammeln.

Annika Keller ist Leiterin Berufsbildung national 
bei Coop. Sie ist verantwortlich für die rund 3000 
Lernenden, die in 20 verschiedenen Berufen ihre Grundausbildung absolvieren. Rund 85 Prozent 
der Lernenden sind im Detailhandel tätig, dem 
Kerngeschäft von Coop.

Laufbahnzentrum Zürich

Zwischenmenschliche Beziehungen sind äusserst wichtig

Herr Mehr, wie erleben Sie die Lernenden?

Tony Mehr: Mehrheitlich als selbstbewusste junge Menschen, die wissen, was sie gelernt haben, und dies nun anwenden wollen. Sie präsentieren sich gut und bringen ihre Anliegen ein. Sie sind kritisch und sagen ziemlich ungeschminkt, was ihnen in der Lehrfirma und Berufsschule gefällt und was nicht – dabei sind sie durchaus konstruktiv. Andere sind eher vorsichtig und respektvoll. Sie sind während der Lehre an ihre Grenzen gestossen und froh, wenn sie die Lehrabschlussprüfung bestehen, was dann auch nicht allen gelingt.

Wo haben die Lernenden heute mehr Mühe als früher?

Sie sind etwas weniger zielgerichtet. Sie lassen Zukunftsfragen an sich herankommen und entscheiden relativ kurzfristig. Sie kommen mir teilweise unentschlossener vor, entscheiden spontaner, intuitiver.

Was erwarten die Lernenden von ihrem Ausbildungsunternehmen?

Die Lernenden fühlen sich dort wohl, wo sie verstanden werden. Die zwischenmenschliche Beziehung ist für sie enorm wichtig. Weiter möchten sie, dass ihre Anliegen aufgegriffen werden, sie erwarten Verständnis, Geduld und eine gute fachliche Einarbeitung.

Was bedeutet das für die Lehrlingsverantwortlichen?

Es muss jemand sein, der einen guten Draht zu Jugendlichen hat. Ich höre von Lernenden, dass sie es gut getroffen haben mit ihrem Chef. Oder aber sie beklagen sich, dass die Chefin «alt» sei, ihre Anliegen nicht verstehe und fachlich nicht auf dem neusten Stand sei. Oft ist das Lehrlingswesen in grösseren Firmen professionell aufgebaut und es kommt weniger zu Reibereien, weil die Lernenden verschiedene Ansprechpersonen haben. In KMU, hingegen hängt es stark von der Persönlichkeit des Lehrlingsverantwortlichen ab, wie die Lehrzeit empfunden wird.

Welches sind die Hauptgründe, wenn ein Lehrvertrag aufgelöst wird?

Die Gründe sind unterschiedlich. Es kommt auch darauf an, ob man den Lehrlingsverantwortlichen oder den Lernenden fragt. Ersterer nennt oft mangelndes Interesse und ungenügende Leistungsbereitschaft sowie allgemeine Überforderung. Lernende hingegen geben zwischenmenschliche Gründe an, wie etwa, dass es mit dem Lehrmeister nicht klappt oder man ihnen zu wenig Verständnis entgegenbringt.

Richten sich Unternehmen nach der Generation Y aus oder müssen sich die Jugendlichen anpassen?

Dort, wo regelmässig Standortgespräche stattfinden – wie es die Bildungsverordnung verlangt –, werden die Jugendlichen mehr miteinbezogen und können ihre Bedürfnisse äussern. Zudem erhalten sie bessere Einblicke in die Abläufe und Prozesse, was das selbständige Denken fördert. Auch scheint mir, dass vernetztes Denken und vernetzte Kompetenzen vermehrt gefördert werden. Im Gastgewerbe etwa wird der Fremdsprachenunterricht mit dem Fachunterricht gekoppelt.

Haben sich die Anliegen der Lernenden, die bei Ihnen Rat suchen, in den letzten zehn Jahren verändert?

Hauptanliegen sind nach wie vor der Umgang mit Geld und Freizeit und wie sie sich mit all den neuen Eindrücken und Kontakten zurechtfinden können. Ebenso werden Weiterbildungen und Stellensuche thematisiert. Weitere Fragen betreffen andere Szenarien, die nach der Lehre möglich sind, etwa Auslandsaufenthalte, Reisen, Sprachkurse.

Der Wunsch, nach der Lehre etwas anderes zu machen, ist verständlich. Aber wie oft wird er auch verwirklicht?

Aus der TREE-Studie der Uni Basel weiss man, dass ein Jahr nach Lehrabschluss rund 81 Prozent auf dem Arbeitsmarkt sind, 68 Prozent sogar im Lehrberuf erwerbstätig und nur etwa 3 Prozent gaben an, auf Reisen zu sein oder einen Sprachaufenthalt zu machen. Was auch gerne gewählt wird, ist die Berufsmaturität.

Wie viele Lernende bleiben nach dem Abschluss in ihren Lehrbetrieben?

Etwa die Hälfte. Oft haben sie vor der Lehrabschlussprüfung keine Zeit, eine Stelle zu suchen, weil sie lernen müssen. Es ist daher eine Erleichterung für sie, wenn ihnen die Firma anbietet, noch für ein halbes oder ganzes Jahr zu bleiben. Der Vorteil ist, dass sie in der Firma schon vieles kennen und nun das Gelernte vertiefen und Berufserfahrung sammeln können. Ungünstig ist jedoch, wenn sie das Lehrlingsimage behalten. Sie sollten daher eine neue Rolle erhalten und Verantwortung übernehmen.

Welche Ansprüche haben die Jugendlichen an ihre Zukunft?

Sie haben oft noch keine gezielten Zukunftsvorstellungen, eher diffus im Sinne von «Ich habe eine gute Ausbildung gemacht, nun will ich auch eine gute Stelle».

Was bedeutet eine «gute Stelle»?

Eine anspruchsvolle Arbeit, bei der sie Verantwortung übernehmen können. Auch der Lohn ist ein Thema, wobei sie oft erstaunt sind, dass der weniger hoch ist, als sie annahmen.

Machen sich die Jugendlichen auch Gedanken zur Work-Life-Balance?

Sie überlegen schon, wie sie Beruf und Hobbys unter einen Hut bringen können. Weniger Gedanken machen sie sich, wie sie später Arbeit, Partnerschaft und Familie vereinbaren können. In dieser Thematik versuchen wir sie ebenfalls zu sensibilisieren. Junge Erwachsene brauchen Anstösse, damit sie sich mit diesen Fragen auseinandersetzen.

Tony Mehr arbeitet beim Laufbahnzentrum Zürich 
und leitet einen Fachbereich, der sich um die 
Lernenden kurz vor Abschluss der Lehre kümmert.

Bücher zum Thema

Ewald Schamel: Das betriebswirtschaftliche Praktikum als 
Instrument zur Personalauswahl. Gabler Verlag, 2010. 192 Seiten, Taschenbuch, CHF 70.90

Detlev Kern: Der MBA Guide. Luchterhand Verlag, 2011, 10. aktualisierte und 
erweiterte Auflage. 424 Seiten, Taschenbuch, CHF 41.90

Anders Parment: Die Generation Y - Mitarbeiter der Zukunft. Gabler Verlag, 2009. 183 Seiten, gebunden, CHF 57.90

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