HR Today Nr. 5/2018: Work-Life-Balance

Aussergewöhnlich familienfreundlich

Die Migros Aare hat letzten Herbst eine aussergewöhnliche Familienunterstützung 
für ihre Mitarbeitenden eingeführt: Sie übernimmt 50 Prozent der Betreuungskosten 
für Kinder. Die Projektleiterin zeigt im Gastbeitrag auf, wie das Projekt entstanden ist und vier Migros-Aare-Mitarbeitende geben Einblick, wie sie Familie und Beruf vereinbaren.

Die Kinder um 6.00 Uhr in die Kita bringen? Oder sie erst um 19.30 Uhr abholen? Fehlanzeige! Die Betreuungszeiten von Schweizer Kitas decken sich nicht mit der Personaleinsatzplanung der Wirtschaft, insbesondere nicht mit jener des Detailhandels. Deshalb findet bei den Arbeitgebern nun mehr und mehr ein Umdenken statt. Auch bei der Genossenschaft Migros Aare stand das Thema in den letzten Jahren auf der Agenda. Obwohl die Migros – ganz im Sinne ihres Gründers Gottlieb Duttweiler – seit jeher eine familienfreundliche Personalpolitik verfolgt, sahen wir bezüglich Kinderbetreuung weiteren Handlungsbedarf.

Seit dem letzten Herbst bietet die Migros Aare ihren Mitarbeitenden nun eine umfangreiche Familienunterstützung an: Sie übernimmt 50 Prozent der Betreuungskosten für Kinder bis zwölf Jahre, wenn die Betreuung in einer Kita, Tagesschule oder durch Tageseltern erfolgt. Zudem profitieren die Mitarbeitenden von kostenlosen Beratungsdienstleistungen bei der Fachorganisation Familienservice. Diese hilft zum Beispiel dabei, einen Krippenplatz zu finden. Ausserdem berät sie bei Fragen zur Betreuung betagter Eltern und zu Unterstützungsangeboten für den eigenen Haushalt.

Nicht nur für untere Lohnklassen

Die rund 12 000 Mitarbeitenden der Migros Aare haben zusammen mehr als 3000 Kinder im Alter von bis zu zwölf Jahren. Wo sich ein Elternteil nicht in Vollzeit um sie kümmert, sind sie alle in irgendeiner Form auf Betreuung angewiesen. Haben die Eltern unregelmässige Arbeitszeiten oder Einsätze am frühen Morgen, abends oder gar nachts, wird die Herausforderung der Betreuung noch grösser. Bei der Migros sind in den Bereichen Detailhandel, Gastronomie, Freizeit und Logistik überdurchschnittlich viele Mitarbeitende tätig, die sich in einer solchen Situation wiederfinden.

Eine Personaleinsatzplanung, welche die vollkommene Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewährleistet, ist im Tagesgeschäft kaum praktikabel. Auch bei bestmöglicher Organisation und allem guten Willen ist die totale Flexibilität schlicht nicht möglich. Diese Erkenntnis hat eine Filialleiterin dazu veranlasst, den Vorschlag einer «Migros-Kita» in den internen Ideenwettbewerb einzubringen. Die Idee wurde von einem HR-Fachteam weiterverfolgt, mit weiteren Ansätzen ergänzt und danach im Auftrag der Geschäftsleitung in einem Projekt konkretisiert.

Von Beginn an lautete die Vorgabe, nicht nur Mitarbeitende der unteren Lohnklassen zu unterstützen, sondern explizit auch einen Anreiz für Fachkräfte höherer Lohn- und Kaderstufen zu bieten. Die Förderung von Teilzeitmodellen – gerade auch für Männer – ist eines der Nebenziele des Projekts. Kurz: Die offenen Stellen sollen einfacher besetzt werden können, weil die Migros Aare als attraktive, familienfreundliche Arbeitgeberin gilt.

300 Standorte als Knacknuss

Der Erfahrungsaustausch mit Fachexperten und anderen Unternehmen sowie Gespräche mit Mitarbeitenden hatten unsere Einschätzung bestätigt, dass der bevorzugte Betreuungsort der Wohnort ist. Für Familien ist es jedoch oft schwierig und zeitraubend, freie Kita-Plätze in ihrer Region zu finden. Nicht subventionierte, private Krippenplätze sind zudem sehr teuer. Dass die Migros Aare in ihrem Wirtschaftsgebiet (Kantone Aargau, Bern, Solothurn) insgesamt beinahe 300 Standorte betreibt, stellte sich bald als Knacknuss im Projekt heraus. Denn unabhängig von ihrer geografischen Lage sollten möglichst alle Mitarbeitenden von einer Unterstützung profitieren können. Nur in der Betriebszentrale in Schönbühl (BE) eine Kita zu betreiben, kam aus Gründen der Fairness nicht in Frage.

Gefragt war deshalb eine dezentrale Lösung, die, einmal lanciert, einfach zu handhaben ist. Betreuungsfragen beschränken sich ausserdem nicht auf Kinder: Auch wenn die eigenen Eltern – unter Umständen von einem Tag auf den anderen – krank werden, ist die arbeitstätige Generation oft einer Mehrfachbelastung ausgesetzt. Bei der Gestaltung der Angebote berücksichtigten wir deshalb von Anfang an auch die Bereiche Eldercare (Betreuung älterer Menschen) und Homecare (Unterstützungsangebote für den eigenen Haushalt).

Kosten vs. Nutzen

Im Laufe der Ausgestaltung des Angebotspakets liessen sich die Kosten Schritt für Schritt genauer kalkulieren. Diesen auf den ersten Blick hohen Beträgen stand ein nicht zu beziffernder Nutzen gegenüber. Eine höhere Mitarbeitendenzufriedenheit und Arbeitgeberattraktivität sowie eine positive Beeinflussung von Image und Reputation waren unbestritten die Wirkungen, die mit dem Projekt erreicht werden sollten. Dank sorgfältig aufbereiteter Argumentation und einer offenen Diskussionskultur gelang es uns, die Entscheidgremien von der Lösung zu überzeugen.

Das neue Angebot ist eingebettet in ein Gesamtpaket fortschrittlicher Konditionen für Familien, zum Beispiel den dreiwöchigen Vaterschaftsurlaub und einen um vier Wochen längeren Mutterschaftsurlaub als gesetzlich vorgeschrieben (siehe Kasten).

So profitieren Mitarbeitende mit Familie bei der Migros Aare:

Mutterschaftsurlaub

  • 18 Wochen mit 100 Prozent Lohnfortzahlung

Vaterschaftsurlaub

  • 3 Wochen bezahlt (100 Prozent Lohn), auf Wunsch zusätzlich bis zu 2 Wochen 
unbezahlter Urlaub

Adoption eines Kindes

  • 
3 Wochen bezahlt (100 Prozent Lohn), 
auf Wunsch zusätzlich bis zu 2 Wochen 
unbezahlter Urlaub

Geburtenzulage

  • 600 Franken bei einer Beschäftigung 
von 60 oder mehr Stunden im Monat, 
300 Franken bei einer Beschäftigung 
von weniger als 60 Stunden im Monat

Familienunterstützung

  • 
Beteiligung an Betreuungskosten für 
Kinder bis 12 Jahre: 50 Prozent Kostenübernahme für Kitas, Tagesschulen, Tageseltern. Es ist nur jene Dauer der Fremdbetreuung gedeckt, die maximal dem 
jeweiligen Beschäftigungsgrad entspricht. Beispiel: Jemand ist 40 Prozent 
angestellt, die Fremdbetreuung dauert jedoch drei Tage. Die Migros Aare übernimmt 50 Prozent der Kosten für zwei Fremdbetreuungstage
  • Kostenlose Beratung bei der Fachorganisation Familienservice zu den 
Themen Childcare, Eldercare und 
Homecare
  • Förderung von Teilzeitmodellen

Abwicklung per Smartphone

Ein halbes Jahr nach der Einführung nahmen rund 350 Mitarbeitende mit 410 Kindern die finanzielle Unterstützung für ihre Kinderbetreuung in Anspruch. Der Antrag wird auf einer Website ausgefüllt, die auch via Smartphone einfach bedienbar ist. Die eingereichten Daten werden vom Team HR-Services geprüft. Nach der Freigabe können die Mitarbeitenden monatlich ihre Rechnungen für die Kinderbetreuung hochladen, als PDF oder Foto. Die Auszahlung erfolgt nach jeweiliger Prüfung mit der Lohnüberweisung des Folgemonats.

Die grösste Herausforderung bei der Abwicklung besteht darin, dass viele unserer Mitarbeitenden mit digitalen Prozessen noch nicht vertraut sind und sich unsicher fühlen, ob sie alles richtig machen. Bei einem Unternehmen wie der Migros Aare, in dem nur ein Drittel der Beschäftigten über einen eigenen PC und ein persönliches E-Mail-Konto verfügt, nimmt die Begleitung der Antragsteller einen besonders hohen Stellenwert ein. Das HR-Team steht als Anlaufstelle zur Verfügung und auch die Vorgesetzten oder Teamkollegen unterstützen bei der Online-Anmeldung.

Eine Frage der Kommunikation 

Etwas langsamer als die finanzielle Unterstützung lief die Nutzung des Beratungsangebotes der Fachorganisation Familienservice an. Nach einem halben Jahr verzeichneten wir rund 235 Logins auf der Website und zwölf Beratungen. Wir gehen davon aus, dass die Beratungen noch zulegen werden, wenn wir diese Möglichkeit aktiver kommunizieren. Bislang lag der Fokus vor allem auf der finanziellen Unterstützung. In den nächsten Monaten planen wir beispielsweise Informationsveranstaltungen zum Thema «Familie und Beruf», bei denen Experten des Familienservice Impulsreferate halten und die Mitarbeitenden eine Plattform für den Erfahrungsaustausch erhalten.

Ohnehin leistete bei der Lancierung die interne Kommunikation einen wichtigen Beitrag: Dazu gehörten etwa eine Vorinformation an die Führungskräfte, Videos auf der Mitarbeitenden-App und im Intranet, Artikel im Personalmagazin und Plakate für die Anschlagbretter. Auch im weiteren Verlauf wird die Kommunikation von grosser Bedeutung sein. Einerseits gegen innen, im Onboarding-Prozess sowie als regelmässige Erinnerung für bestehende Mitarbeitende. Andererseits gegen aussen, als eine der zentralen Botschaften des Employer Branding. Zum Beispiel auf der Website der Migros-Gruppe Arbeitswelt, im Migros-Magazin, via Social-Media-Kanäle (Linkedin, Xing, Facebook-Seite der Migros, Youtube) und mittels klassischer Medienarbeit.

Vorreiterrolle zahlt sich aus

Wo stehen wir heute, ein gutes halbes Jahr nach der Einführung? Wir sehen klare Signale, dass wir die Arbeitsplatzzufriedenheit steigern und das Image positiv beeinflussen konnten. Ob auch die restlichen Projektziele, nämlich die Senkung der Fluktuation und der Stellenbesetzungskosten, erfüllt werden, können wir erst im Verlauf der nächsten ein bis zwei Jahre abschliessend beurteilen.

Von unseren Mitarbeitenden haben wir zahlreiche positive Feedbacks erhalten. Viele haben bei den Personalverantwortlichen angerufen, sich persönlich für die grosszügige Unterstützung bedankt und mitgeteilt, dass diese das zum Teil arg strapazierte Haushaltsbudget stark entlaste. Auch bei Rekrutierungsgesprächen bewerten die Bewerbenden immer wieder speziell die Familienunterstützung positiv.

In der Tat: Im Vergleich mit anderen Grossfirmen nehmen wir mit diesem Angebot schweizweit eine Vorreiterrolle als familienfreundliche Arbeitgeberin ein. Zurzeit bietet die Migros Aare diese Form der Familienunterstützung als einziges der Migros-Unternehmen an. Dies wird nicht immer auf Anhieb verstanden, denn aus der Aussensicht ist Migros einfach Migros. Wenn wir mit unserer Lösung andere Unternehmen inspirieren, freut uns das – egal, ob sie zur 
Migros-Familie gehören oder nicht.

Ana-Elena Soler, Marktleiterin, Migros Kalchacker

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Stefan Schweizer, Ana-Elena Soler mit Sohn Alejandro und Tochter Luana.

Bei Ana-Elena Soler (34) und ihrer Familie sieht jeder Tag anders aus. Die Marktleiterin der Migros Kalchacker arbeitet 100 Prozent. Tochter Luana ist mit 13 Jahren recht selbständig, doch der Kindergärtler Alejandro (4) wird zwei Nachmittage von einer Tagesmutter betreut sowie abwechselnd von den Grosseltern, von Papa Stefan Schweizer und von der Mama. «Es ist streng, aber machbar», sagt die Spanierin.

Nach der Geburt ihrer Tochter war sie einige Zeit alleinerziehend. Statt Sozialhilfe zu beantragen, hat sie gerackert. «Da wäre ich froh gewesen, hätte es die Familienunterstützung schon gegeben. Es ist toll, dass so vielen Frauen ermöglicht wird, arbeiten zu gehen», sagt sie. «Schliesslich sind im Supermarkt zu 80 Prozent Frauen angestellt.»

Als Marktleiterin ist sie nun flexibler und kann auch mal umdisponieren. Sie kennt Leute, die es nicht gut finden, dass sie so viel arbeitet. «Aber ich hatte damals keine Wahl, vor allem auch, weil meine Eltern vor zehn Jahren nach Spanien zurückgekehrt sind.» Was wiederum etwas Gutes hat: In den Schulferien geniessen die Kinder zwei 
Wochen die Sonne bei den Grosseltern. 
Ana-Elena Soler und ihr Mann kommen 
jeweils später nach.

Adriana Knipp, Administration Marktbearbeitung, Betriebszentrale Schönbühl

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«Es ist streng, aber ich habe mich daran gewöhnt», sagt Adriana Knipp. Im Alltag schafft sie es, ihr Leben als Mama von Luis Santiago (5) und ihr Pensum von 80 Prozent in der Administration der Marktbearbeitung bei der Migros Aare zu vereinen. Seit der Geburt von Luis hatte sie ihr Pensum von 40 auf 80 Prozent erhöht. «Ich bin sehr froh über die Unterstützung der Migros Aare. Es hat unkompliziert geklappt mit der Anmeldung und bald reichen wir die erste Rechnung ein.»

Trotz des finanziellen Zustupfs will sie nicht mehr arbeiten und Luis häufiger in die Tagesschule schicken. «Jetzt ist es gut.» Einen Nachmittag pro Woche bleibt ihr Mann Ken bei Luis, zwei Tage hütet ihn ihre Mutter bei der Familie zu Hause in Ostermundigen. Das ist für Adriana Knipp wertvoll, besonders, weil Luis jeweils müde von der Tagesschule nach Hause komme. Diese besucht er einen Tag sowie einmal vor dem Kindergarten für eine Stunde.

In den Ferien müssen die 34-jährige Kolumbianerin und ihre Familie bei der Betreuung improvisieren. Dann ist die Tagesschule zu. Doch die Schwiegermama hilft dann genauso aus wie Freundinnen, oder das Ehepaar Knipp nimmt frei.

André Huber, Kältetechniker, Facility Management Region AG/SO

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Seit Anfang Jahr arbeitet André Huber 80 Prozent. 
Einmal wöchentlich hat er seinen «Papi-Tag». Auf den Geschmack gekommen war er, als er seinen dreiwöchigen Vaterschaftsurlaub als Einzeltage bezogen hatte. «Das fand ich cool, weil ich viel mehr von meinen Kindern mitbekommen habe», so der 39-Jährige aus Recherswil (SO).

Die drei Kinder – Julian (4) und die Zwillinge Emilia 
und Leonie (2) – werden an einem Tag pro Woche in 
der Kita betreut. Die Mutter arbeitet 50 Prozent, teilweise am Samstag oder im Home-Office.

Die Kita ist flexibel, im Notfall können die Kinder auch an zusätzlichen Tagen gebracht werden. Flexibel sind auch die Vorgesetzten und Kollegen von André Huber und seiner Frau: «Wenn ein Kind krank ist, kann einer von uns kurzfristig freinehmen.» Das Familienleben geniessen Hubers gerne in der Natur – sei es in den Bergen oder im Skiclub-Hüttli «Althüsli» bei Solothurn.

Zu mehr Genuss trägt nun auch die Unterstützung der Migros Aare bei: «Die Anmeldung auf dem Onlineportal hat sehr einfach funktioniert und es ist sehr erfreulich, dass der Lohn meiner Frau nicht mehr komplett durch die Kita-Kosten weggefressen wird.»

Anita Toplanaj, Fleischfachfrau, Migros Westside

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«Es ist wie eine dicke Lohnerhöhung», sagt Anita Toplanaj strahlend, wenn sie auf die Familienunterstützung angesprochen wird. Die gelernte Metzgerin, die seit sechseinhalb Jahren bei der Migros Aare arbeitet, hat drei Kinder. Ihre Zwillinge Damian und David (4) werden von Mittwoch bis Freitag in der Kita betreut. Tochter Diana (7) geht in die Tagesschule. Am Montag und Dienstag ist Anita Toplanaj zuhause, am Samstag kümmert sich ihr Mann um die Kinder.

«Da ich in der Regel lange Schichten arbeite, komme ich in drei Tagen auf die Stunden meines 80-Prozent-Pensums. Die Kollegen und mein Chef, der selber Kinder hat, haben viel Verständnis und unterstützen mich bei der Einsatzplanung. Dafür bin ich sehr dankbar», so Anita Toplanaj.

Ausserdem haben die Toplanajs das Glück, dass ihre Kita nur über Ostern und Weihnachten geschlossen ist. «In diesen Tagen lässt sich die Betreuung in der Familie organisieren.» Der Unterstützungsbeitrag bringt mehr Luft ins Haushaltsbudget: «Wir haben vorher für unsere drei Kinder über 1200 Franken pro Monat für die Kita bezahlt. Nun halbiert sich der Betrag», sagt die 32-Jährige erfreut. So bleibt mehr Geld für das Familienleben übrig.

 

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Karin Aeschbacher ist HR-Projektleiterin bei der Genossenschaft Migros Aare.

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