Psychologie in der HR-Praxis

«Gute Führungskräfte können jedes Führungssystem attraktiv gestalten»

Führung ist wieder hierarchischer und autoritärer geworden, beobachtet der Psychologe Stephan Schild. 
Doch mangelnde Freiräume bergen grosses Frustrationspotenzial auf Seiten der Mitarbeitenden. Das können 
sich Unternehmen auf Dauer nicht erlauben.

Herr Schild, was ist, aus psychologischer Sicht, gute Führung?

Stephan Schild: Ich sehe es weniger aus einem psychologischen Blickwinkel, sondern aus rein menschlicher Sicht: Wie möchte ich selber geführt werden? Wichtige Zutaten für das Rezept einer guten Führung sind Wertschätzung, Vertrauen und Sicherheit und die Möglichkeit eines offenen gegenseitigen Feedbacks.

Welche Eigenschaften zeichnen eine überzeugende Führungspersönlichkeit aus?

Ideal wäre ein gewisses Charisma, doch das haben nicht alle Menschen. Notwendig sind Transparenz und Konsequenz beim Entscheiden und Handeln, Souveränität – zum Beispiel auch eigene Fehler eingestehen können – und Selbstvertrauen. Dazu kommen Empathie und gutes Kommunikationsvermögen. Fachexpertise ist zwar hilfreich, steht aber nicht im Vordergrund. Es braucht also vor allem positive Charaktereigenschaften und gute soziale Fähig- beziehungsweise Fertigkeiten. Alle diese Eigenschaften tragen dazu bei, dass eine Führungskraft glaubwürdig und überzeugend wirkt.

Braucht es einen klaren Führungsstil oder eher situatives Führen?

Ich stelle fest, dass in unserer globalisierten Welt die Führung eher wieder hierarchischer und autoritärer geworden ist, obwohl alle von flachen Hierarchien reden. Der klare und konkrete Auftrag beziehungsweise messbare Resultate stehen im Vordergrund. Das ist grundsätzlich nachvollziehbar, da der Zeit- und Resultatdruck in vielen global tätigen Firmen sehr hoch ist. Viele meiner Klienten beklagen sich jedoch darüber, dass sie zu wenig Freiheiten beziehungsweise Gestaltungsspielraum haben, es oft lange dauert, bis Entscheide von allen Gremien bewilligt worden sind, und kritisches Hinterfragen als Behinderung oder gar Auftragsverweigerung ausgelegt wird. Hier wäre die Frage erlaubt, ob nicht im Einzelfall eine mehr auf die Situation abgestimmte Führung besser wäre. 

Für viele ist Management by Objectives (MbO) Realität geworden. Ist das ein gutes Führungsinstrument?

MbO ist aus dem Führungsalltag nicht mehr wegzudenken. Es ist ein sinnvolles Instrument, in der heutigen Arbeitswelt zu führen, und grundsätzlich ein gutes Tool. Die Frage ist mehr, ob dieses in der Tendenz hierarchisch-autoritäre Instrument konstruktiv und motivierend angewendet wird.

Autoritär? Beim MbO ist man doch frei in der Art, wie man sein Ziel erreicht?

Autoritär ist das Instrument deswegen geworden, weil das Ziel in der heutigen Zeit in der Regel festgelegt und weniger in Form eines Aushandlungsprozesses vereinbart wird. Dies kann die Motivation eines Mitarbeiters negativ beeinflussen.

Ein Beispiel?

Ein hochspezialisierter Kadermitarbeiter mittleren Alters aus meiner Klientel bekam vom Vorgesetzten alle Aufträge per SMS aus Amerika und musste später lediglich rapportieren, ob und in welcher Form der Auftrag ausgeführt worden war. Der Mitarbeiter, der seinen Vorgesetzten nie persönlich kennengelernt hatte, empfand dieses Verhalten äusserst verletzend und nicht wertschätzend und war dementsprechend demotiviert. Folge: Kündigung, was für das Unternehmen einenherben Verlust auf fachlicher Ebene darstellte. Hätte dies vermieden werden können? Ich denke, dass mit etwas mehr «personal attitude», Respekt und Wertschätzung gegenüber dem Mitarbeiter dieser Abgang hätte verhindert werden können. Das Eingehen auf das Individuum sollte auch für eine sehr beschäftigte Führungskraft ohne übermässigen Zeitaufwand möglich sein. Diese individuelle Komponente bringt viel: Dank ihr gelingt es guten Führungskräften, auch durchschnittliche Mitarbeiter zu überdurchschnittlichen Resultaten zu motivieren.

Heisst das: MbO plus individuelle Zuwendung gleich zufriedene und folglich leistungsstarke Mitarbeiter?

Nein, denn ein Instrument wie das MbO wird oft pervertiert. Wie bereits angetönt, sollte man bei diesem Instrument frei sein in der Art, wie man sein Ziel erreicht. In der Realität kommt es aber oft zum «Overmanaging»: Es gibt zum Beispiel drei mögliche Wege, das Ziel zu erreichen, doch statt in der Wahl frei zu sein, schreibt einem der Vorgesetzte einen dieser Wege vor. Damit gehen der Gestaltungsspielraum und auch das Potenzial des MbO verloren. Auch ein überzogener Bonus kann die Vorteile des Instruments zunichtemachen.

Inwiefern?

Wenn man versucht, einen möglichst hohen Bonus zu erzielen, können dabei die festgelegten Ziele in den Hintergrund rücken. Im Fokus steht statt des Ziels das Geld, was dazu führt, dass es beim Nachweis der Zielerreichung häufig zu Wortklaubereien beziehungsweise Konfliktsituationen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern kommt. Und schliesslich muss man auch sehen, dass heute oft Ziele festgelegt werden, die gar nicht 
erreichbar sind.

Das Instrument kann also nicht halten, was es verspricht. Gibt es ein Führungsinstrument, das besser funktioniert?

Zum Thema Führung gibt es unzählige, teils sehr nützliche Theorien und in der Praxis gut akzeptierte Instrumente. Ich bin der Meinung, dass es im Grunde nicht so wichtig ist, wie die aktuelle Führungsstrategie aussieht oder welche Tools im Einsatz stehen. Denn den Mitarbeitenden geht es mehr darum, welche Möglichkeiten sie selber in der Organisation haben, ob ihr Beitrag geschätzt wird, wie sicher ihr Arbeitsplatz ist und ob sie von ihrem Vorgesetzten fair beurteilt werden. Es geht also mehr um die Frage, wie menschenorientiert Führung im Einzelfall angewendet wird, und weniger, welches Konzept dahintersteht. Gute Führungskräfte können jedes Führungssystem menschengerecht und attraktiv gestalten. Sie haben dann den grossen Vorteil, sich beim «war of talents» die 
besten Leute aussuchen zu können.

Sie beraten hauptsächlich Menschen, die aus international ausgerichteten Firmen kommen. Welche Fehler machen die Führungskräfte in diesem Umfeld?

Die Jobzufriedenheit bei in ungekündigtem Arbeitsverhältnis stehenden Fachkadern aus grossen und global tätigen Organisationen lässt vielfach zu wünschen übrig. Frage ich nach, erhalte ich negative bis zynische Äusserungen über schwierige Randbedingungen, über unklare Zielsetzungen und Entscheide, aber auch über Führungskräfte, welche ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind. Es besteht ein akuter Vertrauensmangel, der sich negativ auf die Arbeitsmotivation auswirkt.

Woher kommt dieser Vertrauensmangel?

Einerseits wird oft nicht genug kommuniziert, die unteren Chargen wissen nichts über die Gründe der Entscheidungen von oben. Andererseits sind viele nicht mehr sicher, ob sie morgen ihren Job noch haben. Gerade bei internationalen Firmen kann es schnell passieren, dass mit dem Wechsel des Vorgesetzten ganze Teams mit neuen Leuten zusammengestellt werden – die Angst, vielleicht schon morgen kaltgestellt zu werden, führt dazu, dass sich viele zuallererst in ihren Entscheidungen möglichst gut absichern, um keine Fehler zu machen. Eine optimale Arbeitsleistung ist dadurch natürlich nicht mehr möglich.

Wie lässt sich dieser Vertrauensmangel ins Gegenteil verkehren?

Eine regelmässige, offene und ehrliche Kommunikation nicht nur innerhalb des Topmanagements, sondern gegenüber allen Mitarbeitenden führt dazu, dass viele Entscheide nachvollziehbarer, besser abgestützt und mit weniger Misstrauen aufgenommen werden. Ebenso zu einer Vertrauenskultur gehören die Glaubwürdigkeit und die Vorbildfunktion der Unternehmensspitze. Die Vorbildfunktion beinhaltet, zu seinen Fehlern stehen zu können, Verantwortung nicht übermässig nach unten zu delegieren – um bei einem Misserfolg nicht schuld zu sein – und die Mitarbeiter für gute Leistungen zu loben. Exzessive Entlöhnungsformen für das Topmanagement tragen nicht zur Vertrauensbildung bei.

Lob ist immer wieder ein Thema. Warum fällt das vielen so schwer?

Wenn man selbst von oben nichts Positives bekommt, muss man eine starke Persönlichkeit sein, um Gutes nach unten weiterzugeben. Und es wird auch schnell taktisch. Sagt man dem Mitarbeiter: «Diesen Job hast du saugut gemacht!», dann, so glauben viele Vorgesetzte, kommen sie in Erklärungsnotstand, wenn am Ende des Jahres kein Bonus drinliegt. Dabei stünde für viele Berufstätige der Bonus weniger im Vordergrund, wenn sie mehr menschliche Zuwendung erhielten. Die Höhe des Bonus wird nicht selten als eine Ersatz-Messgrösse für mangelndes Lob und Zuwendung betrachtet.

Inwiefern kann das HR die Führungskräfte auf dem Weg zu einer menschlicheren Führungskultur unterstützen?

Qualifizierte Personalfachleute haben grundsätzlich gute Voraussetzungen, dies zu tun. Sie sind vielfach psychologisch geschult, kennen Organisationsdynamiken und haben als Sparringspartner, die nicht in direkter Führungslinie zum Vorgesetzten stehen, etwas Abstand. Damit können sie sich ein differenziertes Bild verschaffen, Probleme frühzeitig erkennen und den Linienmanager sinnvoll coachen. Es gibt viele Unternehmen, wo dies sehr gut funktioniert. Etwas kritisch 
beobachte ich in den letzten Jahren die Entwicklung des HR-Auftrags. 

Warum?

Er hat eine immer stärkere kollektive Ausrichtung bekommen, und prozessgesteuerte und organisationsübergreifende Tätigkeiten wie zum Beispiel Bonus- beziehungsweise Vergütungsprozesse, PE-Controlling usw. stehen zunehmend im Zentrum der HR-Aktivitäten. Effiziente Prozesse sind zwar die Basis einer guten HR-Arbeit, sie dürfen jedoch nicht dazu führen, dass kein Raum mehr für individuelle Betreuungsaufgaben bleibt. Diese Entwicklung, welche auch von vielen HR-Profis kritisch beurteilt wird, begründet sich nicht zuletzt auch in der Tatsache, dass die HR-Leiter häufig nicht im Gremium der Geschäftsleitung vertreten sind und wichtige HR-Anliegen – und dazu gehört zum Beispiel eine professionelle Führungsunterstützung – auf diesem Level zu wenig oder zu spät Gehör finden.

Stephan Schild ist dipl. Psychologe FH/SBAP. Laufbahnberatung, Coaching, Einzel-Assessment, Teamentwicklung und Outplacement sind Schwerpunkte seiner iOSchild, Beratung 
für individuum und Organisation in Zürich. 
Stephan Schild verfügt über langjährige 
operative Erfahrung im HR-Bereich in den Branchen Finanzdienstleistung und 
Informatik sowie über breite Erfahrung im Umgang mit und in der Beratung von 
Führungskräften und Fachkadern in der 
betrieblichen Organisation sowie als 
externer Berater.

www.ioschild.ch

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Franziska Meier ist Redaktorin und Produzentin mit langjähriger Erfahrung im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Als Chefredaktorin des Magazins «fit im job» sowie als Fachredaktorin der Zeitschrift «HR Today» hat sie sich auf das Thema «Mensch, Arbeit & Gesundheit» spezialisiert. Zu ihren journalistischen Schwerpunkten gehören insbesondere Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Stressprävention und betriebliches Gesundheitsmanagement. Achtsamkeit praktiziert sie manchmal im Schneidersitz, öfter jedoch auf ihren Spaziergängen rund um den Türlersee.

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