Management-Diagnostik

Megatrends als Wegweiser in die Zukunft des Assessment Centers

Obwohl im Berufsfeld Management-Diagnostik ein grundlegender Wandel prophezeit wurde, veränderte sich in der Praxis wenig. Wieso das so ist, und wie die Analyse von Megatrends dabei helfen kann.

«Prognosen sind eine schwierige Sache – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen» (Mark Twain).

Wer sich trotzdem schon heute Gedanken zur Personalselektion und Management-Diagnostik der Zukunft macht, landet nach der Suche nach möglichen Antworten schnell bei Digitalisierungsstrategien: Chatbots, AI gepowerten Selektionsalgorithmen oder automatisierte Persönlichkeitsanalysen durch Stimm- oder Video-Analysen sollen angeblich schon bald den Alltag von Diagnostikerinnen und Diagnostikern bestimmen. Und mit Schlagwörtern wie Virtual Reality und Gamification sollen die Hoffnungen der Futuristen endlich eingelöst werden.

Doch wenn diese Technologien etwas gemeinsam haben, dann ist es die hohe Diskrepanz zwischen den Versprechen und dem tatsächlich eingelösten Nutzen: Beispielsweise machen diskriminierende Algorithmen, bereits heute regelmässig Schlagzeilen – da kaum prognostisch valide oder nicht datenschutzkonform.

Das Assessment der Zukunft

Wie sonst also können wir uns ein Bild von der Diagnostik der Zukunft machen? Eine mögliche Antwort darauf liefern die vorherrschenden gesellschaftlichen Megatrends.

Definition von Megatrends – Lawinen in Zeitlupe

Megatrends bezeichnen tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und sind definiert durch folgende Kriterien:

  • Dauer: Megatrends haben eine Dauer von mindestens mehreren Jahrzehnten.
  • Ubiquität: Megatrends zeigen Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen: in der Ökonomie, im Konsum, im Wertewandel, im Zusammenleben der Menschen, in den Medien, im politischen System und so weiter.
  • Globalität: Megatrends sind globale Phänomene. Auch wenn sie nicht überall gleichzeitig und gleich stark ausgeprägt sind, so lassen sie sich doch früher oder später überall auf der Welt beobachten.
  • Komplexität: Megatrends sind vielschichtige und mehrdimensionale Trends. Sie erzeugen ihre Dynamik und ihren evolutionären Druck auch und gerade durch ihre Wechselwirkungen.

 

Am Diagnostikkongresses des Instituts für Angewandte Psychologie (IAP) im Zürcher Volkshaus wurden die Anwesenden während des Vortrages «Das Assessment der Zukunft» über die Zukunft der Management-Diagnostik befragt. Die rund 50 Anwesenden (die Mehrheit davon professionell in der Diagnostik tätig) wurden dazu befragt, welcher der 12 aktuell vorherrschenden Megatrends ihrer Meinung nach das Berufsfeld Diagnostik am meisten beeinflussen werde. Das Resultat des Live-Votings ist in Abbildung 1 dargestellt.

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Abb. 1: Antwort der Umfrage am Diagnostik-Kongress zur Frage «Welche Megatrends werden die Management-Diagnostik am meisten beeinflussen?»

Platz 1: New Work – Grenzen zwischen Arbeit und Leben verschwimmen

Die Personalselektion der Zukunft dürfte geprägt sein durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeit. Die klassische Karriere hat ausgedient und Sinnfragen stehen zunehmend im Vordergrund, die Grenzen zwischen Leben und Arbeiten verschwimmen. Die weiter oben beschriebenen Digitalisierungsversuche stehen zwar noch am Anfang und liefern noch nicht die gewünschte Qualität in der Vorhersage, doch vielleicht ist schon bald der Einsatz von Bio-Markern, AI gestützter Analyse von Verhaltensweisen, Nano-Bots im Blutstrom und Roboter tatsächlich weniger weit entfernt als gedacht.

Platz 2: Individualisierung – neue Ebenen der Wahrnehmung freischalten

Auch das wichtiger werdende Credo der Selbstverwirklichung und die Zunahme persönlicher Wahlfreiheiten hat das Potenzial, die Personalauswahl der Zukunft mitzubestimmen. Dieser Trend könnte auch dazu führen, dass die Einnahme von sogenannten kognitiven Verstärkern auch hierzulande gang und gäbe wird. In den Vereinigten Staaten ist beispielsweise die Einnahme von Aderal (ein leistungssteigerndes Amphetaminsalz) bereits weit verbreitet. Oder die Transkraniale Magnetstimulation gibt es bald schon im Taschenformat (sogenannte «Brain Caps») und verwandelt Normalbürger in wandelnde Genies. Medikamentös oder technologisch optimierte (kognitive) Leistungsfähigkeiten von ganzen Bevölkerungsschichten dürften nicht spurlos am Berufsfeld der Managementdiagnostik vorbeiziehen – wenn sich dieser Trend manifestieren sollte.

Aber auch auf die grundlegende Selektionslogik könnte dieser Megatrend einen Einfluss haben: Schon heute gibt es ganze Branchen (beispielsweise IT), in denen nicht die Unternehmen eine Auswahl unter den Interessierten treffen, sondern gezwungen sind sich so zu positionieren, dass sie unter den wenig verfügbaren Expertinnen und Experten mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit gewählt werden. Ob dann wenig geliebte Test-Instrumente, wie  kognitive Leistungstest noch angewendet, oder ob diese Datenquelle überhaupt noch genutzt werden, wird sich zeigen.

Platz 3: Silver Society – die Karten werden neu gemischt

Auch der demografische Wandel dürfte die Selektionsinstrumente der Zukunft mit beeinflussen: Menschen werden immer älter und sind länger fit. Zusammen mit einer neuen Einstellung zum Altern machen sich heute viele Unternehmen Gedanken dazu, wie sie Mitarbeitende über das Rentenalter hinaus binden und beschäftigen können. Plattformen wie Rent-a-Rentner oder Seniors @ Work erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Hier scheint die Frage berechtigt, ob unsere Selektionsinstrumente wirklich bereit sind, um den Anforderungen von Bewerbenden in der Alterskategorie 65+ gerecht zu werden.

Fazit

Egal welche der Megatrends die Selektionsinstrumente 30 Jahren in der Zukunft prägen werden: Es ist notwendig, dass Ansprüche in der Diagnostik weit über die Digitalisierung hinaus gehen. Ziel müssen hochvalide Selektionsinstrumente sein, die Prognosen nicht nur verbessern, sondern auch vereinfachen. Zudem sollten sie fair, objektiv und verzerrungsfrei funktionieren und erschwinglich sein in der Anwendung, damit möglichst viele Unternehmen von den Vorzügen professioneller, wissenschaftlich geprüfter Management- und Personal-Diagnostik profitieren können – mit entsprechendem Nutzen für Unternehmen und Talente gleichermassen.

Die Digitalisierung wird zumindest bei diesem letzten Punkt hoffentlich bald einen spürbaren Vorteil bringen und durch Automatisierung nicht nur die Kosten senken, sondern auch die Fairness erhöhen. Es gibt also viel zu tun für amtierenden und künftigen Diagnostikerinnen und Diagnostiker – denn «die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet» (Alan Kay).

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Dr. Silvan Winkler, Leiter Diagnostik und Projekte bei der Jörg Lienert AG, ist Experte in den Bereichen Personalselektion und -diagnostik. Davor war er als HR-Berater bei PwC und in einer HR-Stabsfunktion bei der Credit Suisse tätig. Als promovierter Organisationspsychologe verfügt er über Erfahrungen in leitender Funktion in den Bereichen Management-Diagnostik, Mitarbeiter- und Organisationsforschung sowie People Analytics.

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