Ethik

Spektrum der Angewandten Ethik: Woran können sich Mitarbeiter orientieren?

Die Aufgabe der Unternehmensethik ist es, allen im Unternehmen einen verlässlichen Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie sich sicher bewegen können. Entscheidend dabei ist auch die Wiederentdeckung eines alten Begriffs: der Tugend. Denn ohne Eigenschaften wie Mut, Aufrichtigkeit und Vertrauenswürdigkeit kann ein Unternehmen nicht ethisch handeln.

«Sie wollen Wirtschaftsethik studieren? Entscheiden Sie sich für das eine oder das andere.»
Karl Kraus (1874–1936)

Verinnerlicht man sich dieses Zitat, scheint es offenbar, dass der Ruf der Wirtschaft bereits vor zirka hundert Jahren auch nicht der beste war. Und es sieht so aus, als ob sich viele Unternehmen mit dieser Negativreputation arrangiert haben. Pragmatik oder Suizid? Ein Blick auf die Ereignisse der jüngsten Zeit lässt vermuten, dass es in Richtung unbeabsichtigte Selbstauslöschung geht.

Die Gefährdung des Rufes eines Unternehmens hat sich in unserer Zeit dramatisch intensiviert, und dazu haben zwei Entwicklungen beigetragen, die Karl Kraus nicht miteinbeziehen konnte:

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Zum einen wissen heute Millionen Menschen innerhalb von ein paar Stunden von unethischem Verhalten in Wirtschaftskreisen. Das Internet kann den Ruf einer Firma innerhalb von ein paar Tagen ruinieren. Unternehmen bewegen sich in einem transparenten Umfeld; kritische Konsumenten schauen ihnen auf die Finger, wobei speziell die kaufkräftigen Konsumentinnen zwischen 35 und 60 Jahren unbequeme Fragen stellen und sich nicht mit inadäquaten 
Antworten zufriedengeben.
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Zum anderen wissen inzwischen viele Konsumenten, wie man unethisches Verhalten bestrafen oder bekämpfen kann: Der Bereich der Angewandten Ethik enthält dafür brauchbare, praxisorientierte Hinweise. Zum Glück erleichtert gerade dieser Bereich aber auch die Führung eines Unternehmens nach ethischen Grundsätzen.

«Angewandte Ethik» ist die moderne Form eines philosophischen Konzepts, das uns die Antike hinterlassen hat. Um sich anständig zu verhalten, muss man wissen, was das ist. Und genau da setzt die Ethik ein: Sie denkt über die Bausteine nach, die anständiges Verhalten ausmachen, und gibt Hinweise auf die Art, wie wir handeln sollen. Es ist klar, dass das Dreigestirn «nicht lügen, nicht stehlen, nicht töten» dazu gehört; das ist offensichtlich und steht bereits in den Zehn Geboten. Bei Vorschriften wie «nicht betrügen» oder «nicht diskriminieren» wird es schon undurchsichtiger, und wenn es zu «moralischen Verpflichtungen» kommt, ist die Bandbreite der Argumente, die man dafür oder dagegen aufbringen kann, noch viel grösser.

Moral und Ethik werden beide gerne als Synonyme eingesetzt, obwohl man sie klar voneinander unterscheiden muss:

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Moral ist der Verhaltenskodex gewisser Gruppierungen zu einer gewissen Zeit. Es handelt sich dabei um subjektive Anschauungen eines Einzelnen oder einer Gruppe – so gibt es zum Beispiel eine «Mafiamoral».
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Moral heisst: Überzeugungen haben bezüglich gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht usw., die sich allerdings – je nach Zeitgeist – um 180 Grad ändern können. Vor hundert Jahren wurde Homosexualität gesellschaftlich geächtet, vor hundertfünfzig Jahren sogar strafrechtlich verfolgt (Beispiel: der englische Dramatiker Oscar 
Wilde); heute können gleichgeschlechtliche Paare Ehen schliessen und Kinder aufziehen.
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Moral sind innere Beweggründe, die unser Tun und Lassen bestimmen. Neonazis haben ein anderes Bild von ihrem Land und seinen dort daseinsberechtigten Bewohnern als beispielsweise Sozialdemokraten.

Moral befasst sich also, kurz gesagt, mit moralischen Überzeugungen; die Ethik hingegen versucht, Kriterien für eine allgemeine Gültigkeit solcher Überzeugungen zu finden.

Die antike Ethik, insbesondere wie sie 
Aristoteles (384–322 v. Chr.) formuliert hat, orientiert sich an der Frage: «Worauf ist das menschliche Leben strebend bzw. wollend ausgerichtet?» Sie gipfelt in der Neuzeit in dem (zu) viel zitierten «Kategorischen Imperativ» von Immanuel Kant (1724–1804): «Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.» Das ist jedoch nicht nur schwierig zu verstehen, sondern auch für uns Heutige nicht adäquat.

Die moderne Ethik – applied ethics – kommt aus den USA und definiert sich durch den Versuch, komplexe Fragen des Zusammenlebens in einer demokratischen Gesellschaftsordnung zu erkennen, deren Ursachen zu orten und eine Diskussion darüber in Gang zu bringen; sie stellt eine andere Frage: «Was ist es, was ich mit Bezug auf die anderen soll?» Mehr und mehr setzt sich dabei die Erkenntnis einer Interdependenz durch – spätestens seit der derzeitigen Finanzkrise. In einer globalen und komplexen Wirtschaft sind die früheren starken Trennungen zwischen Süd und Nord, Schwarz und Weiss, Frau und Mann weitgehend relativiert worden.

Die Angewandte Ethik ist entstanden aus der Praxis für die Praxis. Drei Entwicklungen haben dabei Pate gestanden:

  1. 
die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA der Sechzigerjahre
  2. 
ein ökologisches Bewusstsein als Begleiterscheinung des ersten Erdöl-Schocks der frühen Siebzigerjahre
  3. 
der allgemeine technisch-wissenschaftliche Fortschritt, der Probleme kreiert, die bis anhin unbekannt waren

Angesichts der Vielfältigkeit der Themen ist die Angewandte Ethik in sogenannte Bereichsethiken aufgegliedert: Rechtsethik, Medizinethik, Tierethik, Medienethik und, trotz Karl Kraus, Wirtschaftsethik oder Unternehmensethik. Dieser Bereich umfasst drei Teile:

  • Makro-Ebene: Die Gestaltung der allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (Staat, Verbände usw.).
  • Meso-Ebene: Ein Unternehmen ist für sein Tun und Lassen moralisch verantwortlich und hat die Konsequenzen zu tragen.
  • Mikro-Ebene: Werte und Handeln des Individuums – von der Spesenabrechnung über Nutzung der Arbeitszeit für Privates bis hin zur sexuellen Belästigung (siehe auch Kolumne auf Seite 53 dieser Ausgabe).

Als HR-Verantwortliche eines Unternehmens sind für Sie die Meso- und die Mikro-Ebene von Interesse, zum Beispiel die Aufgaben der Unternehmensethik:

  1. 
Ethische Problemstellungen, denen sich eine Unternehmung gegenübersieht, zu beschreiben und zu analysieren.
  2. 
Möglichkeiten zu skizzieren, wie solche Probleme gelöst werden können und welche Konsequenzen sich daraus für das 
unternehmerische Handeln ergeben.
  3. 
Konzepte zu erstellen, mit denen ethisches Handeln analysiert, formuliert und implementiert werden kann.

Daraus entstehen nämlich gewichtige Fragen zu Themen wie

  • Produktionsstandorte (Kinderarbeit, Korruption, Fair Trade)
  • Sicherheitsvorkehrungen (Bophal, Seveso)
  • 
Umgang mit einem Super-GAU (Johnson & Johnson, Bankenkrise)
  • 
Diversity (multikulturelle Mitarbeiterstruktur, pluralistische Gesellschaft, ungleicher Lohn für gleichwertige Arbeit)

Akteur, nicht Aktion

Und die Mikro-Ebene? Woran können sich Menschen in einer immer komplexer werdenden Unternehmenswelt verlässlich orientieren? Es geht um die Wiederentdeckung eines ziemlich veralteten Begriffs: der Tugend bzw. der Tugendethik, wie sie der amerikanische Ethiker Robert S. Salomon (1942–2007) so überzeugend formuliert hat. Beim moralischen Handeln kommt es nämlich nicht auf die Anwendung allgemeiner moralischer Prinzipien an, sondern auf moralisch wertvolle Charaktereigenschaften wie Mut, Aufrichtigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, und zwar bei allen Mitarbeitenden eines Unternehmens. Der Schwerpunkt liegt nicht auf den Motiven oder Konsequenzen 
einer Handlung, sondern beim Charakter 
der Handelnden, bei ihren Tugenden eben. Solomon liefert dazu die entsprechenden 
Kriterien, wie zum Beispiel die folgenden:

Gemeinschaftsbewusstsein (polis)

Das Unternehmen ist zuallererst eine Gemeinschaft, im Sinne der Polis in der griechischen Antike. Die Interessen Ihrer Mitarbeiter sollten weitgehend mit den Interessen dieser Gemeinschaft übereinstimmen. Doch Polis bedeutet mehr als Stadt oder Staat – es ist ein way of life, auf den man stolz ist. Salomon rät daher: «Wenn du ein glückliches Leben haben willst, such dir eine anständige Firma.» Das Hauptinteresse der Bürger Athens waren Grösse und Glanz der Stadt, und jeder Bürger leistete seinen Beitrag dazu.

Frage: Wie sieht es damit in Ihrem Unternehmen aus?

Exzellenz (arete)

Sich tugendhaft verhalten heisst sein Bestes geben, über sich selbst hinauswachsen – nicht einfach nur regelkonform verhalten oder sich aus allem heraushalten.
Frage: Fördern Sie diese Haltung, indem Sie beispielsweise mithelfen, ein angstfreies Klima zu schaffen?

Urteilsfähigkeit (phronesis)

Bei einem ethischen Dilemma suchen Mitarbeitende nach verlässlichen Kriterien für eine Güterabwägung. Leider gibt es kein Patentrezept für den Entscheidungsprozess in Bezug auf Gerechtigkeit. Was hier gefragt ist, ist die Fähigkeit, auszugleichen, widersprüchliche Gesichtspunkte abzuwägen und eine faire Lösung anzustreben.

Frage: Wie oft erleben Sie solche Situationen, und wie geht man bei Ihnen damit um?

Wie bei allen wichtigen unternehmerischen Entscheiden gilt auch hier: Die Treppe muss man von oben fegen! Es genügt nicht, ein (ethisches) Leitbild erarbeiten zu lassen; solch ein Leitbild muss in den Köpfen Ihrer Mitarbeitenden verankert und die darauf basierende Unternehmenskultur jeden Tag neu vorgelebt werden – auf allen Ebenen, ganz sicher aber an der Unternehmensspitze. Schliesslich könnte dies für Ihr Unternehmen lebensrettend sein, wie der Super-GAU von Johnson & Johnson Anfang der Achtzigerjahre gezeigt hat. Dazumal hat sich James E. Burke, Chairman & CEO, nicht auf die Rechtsabteilung der Firma oder auf professionelle PR-Berater verlassen, sondern sich selbst um das Überleben des Unternehmens gekümmert, wobei er sich auf loyale Mitarbeitende, den makellosen Ruf der Firma und das in vielen Jahrzehnten erworbene Wohlwollen und Vertrauen der Öffentlichkeit verlassen konnte.

Frage: Könnte der/die CEO Ihres Unternehmens das auch?

Er hat das in der Rückschau so kommentiert: «Unsere Unternehmenskultur war das Ausschlaggebende. Sie hat uns während der Tylenol-Tragödie (1) zusammengebracht und -gehalten. Ohne sie hätten wir die Krise nicht so gut bewältigen können, wie wir das getan haben.»

Und Krisenbewältigung wäre wohl auch heute ein Stichwort, oder?

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Dr. Monique R. Siegel ist Germanistin und Wirtschaftsethikerin. Sie schreibt regelmässig für Kolumnen für HR Today.

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