Personalentwicklung

Systemische Aufstellung: In die Haut fremder Menschen schlüpfen

Aufstellungen werden zunehmend als Mittel der Personalentwicklung eingesetzt. Etwa wenn Entscheidungen anstehen oder Probleme gelöst werden müssen. Was genau steckt dahinter? Ein Selbsterfahrungsbericht.

Es war die Neugier, die mich dazu trieb, an einer Aufstellung teilzunehmen. Mehrere Leute hatten mir von dieser Methode erzählt. Der Tenor: Oft komme bei einer Aufstellung vieles in Gang, emotionales Chaos ordne und Probleme lösten sich, schwierige Situationen würden geklärt.

Bei einer Aufstellung wählt die «aufstellende» Person aus dem Kreis der anwesenden Gruppe Stellvertreter – sogenannte Repräsentanten – für die Menschen in ihrer persönlichen Situation inklusive eines Stellvertreters für sich selbst. Dann weist sie diesen Personen entsprechend der realen Situation einen Platz im Raum zu.

Speziell ist, dass nun die Repräsentanten Empfindungen wahrnehmen sollen, wie sie auch die Personen in der realen Situation empfinden. Oder die Repräsentanten nehmen zumindest Dinge wahr, die auf Knackpunkte der realen Situation hinweisen. Zum Beispiel Gefühle der Kälte, des Erstarrtseins, ein Kribbeln im Magen, Traurigkeit etc. Entsprechend diesen Wahrnehmungen wird dann das «Anfangsbild», also die Ist-Situation, verändert, zum Beispiel werden die Repräsentanten neu gruppiert. Das dauert so lange, bis sich für die Repräsentanten die ursprünglich negativen Wahrnehmungen neutralisiert haben und die aufstellende Person eine Antwort auf ihre Fragestellung gefunden hat.

Der springende Punkt bei der Aufstellung ist auch ihr wunder Punkt: Viele Menschen bezweifeln, dass diese Wahrnehmungsübertragung funktioniert. Wie ist es möglich, dass man die Emotionen eines Menschen spürt, den man noch nie gesehen hat, der nicht anwesend ist, von dem man nichts weiss? Auch ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.

Weiterhin in der Geschäftsleitung? Eine Entscheidung ist gefragt

Und so besuchte ich einen Aufstellungstag bei Elisabeth Vogel, Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin mit Doktortitel und mehreren Coach-Ausbildungen. Sie bietet systemische Strukturaufstellungen an (siehe dazu Kasten). 

Neben der Aufstellungsleiterin sind wir sieben Personen, mehrere davon «aufstellungserprobt», wie die Vorstellungsrunde zeigt. Sandra (Name geändert) – es duzen sich hier alle – macht die erste Aufstellung. Zuerst gibt sie einige Informationen zu ihrer Situation: Sie ist in der Geschäftsleitung einer grossen Institution und fühlt sich durch äussere Umstände zu einer Entscheidung gedrängt, mit der sie sich schwertut. Diese Entscheidung hat mit ihrem Verbleib im Unternehmen zu tun.

Dann wählt Sandra Repräsentanten: Sie fragt mich, ihre persönliche Stellvertreterin zu sein; eine weitere Person übernimmt die Rolle «Vorsitz», die für Sandras Engagement in der Geschäftsleitung steht; eine Person übernimmt die  Rolle «Tanz», die Sandras kreative, verspielte Seite darstellt, die sie in eine andere berufliche Richtung führen könnte; eine Person verkörpert die «Unternehmung».

Und plötzlich verabschiedet sich das Gleichgewicht

Als alle wichtigen Rollen besetzt sind, führt Sandra jeden einzelnen Repräsentanten an einen Ort im Raum. Sie entscheidet, wie weit diese voneinander entfernt stehen, ob sie einander zu- oder abgewandt sind etc. Sandra selbst ist nicht Teil dieser Anordnung, sie steht im weiteren Verlauf ausserhalb und beobachtet.

Kaum hat Sandra mir einen Platz zugewiesen – ich stehe mit dem Rücken zum restlichen Geschehen – passiert tatsächlich etwas: Mein Gleichgewicht macht sich aus dem Staub. Ohne bewusstes Zutun – und wohl auch, weil ich mich nicht dagegen wehre — verlagert sich mein Gewicht auf die Fussballen, ich bin wacklig, schwanke nach links und rechts, ohne Unterlass. Interessant ...

Elisabeth Vogel befragt nun die einzelnen Repräsentanten, welche Wahrnehmungen sie haben. Ich weise auf meine Balance-probleme hin. Eine Repräsentantin in meinem Rücken sagt, dass es sie ärgert, dass ich so derart abgewandt sei, nicht am Geschehen teilnehme.

Dann nimmt die Aufstellungsleiterin, in Absprache mit Sandra und den jeweiligen Repräsentanten, Veränderungen an der Situation vor. Die entsprechenden Handlungen sind immer freiwillig: Wenn sich etwas für einen Repräsentanten nicht gut anfühlt, braucht er es natürlich nicht zu tun. Ich werde unter anderem gebeten, mich umzudrehen und auf andere Repräsentanten zuzugehen. Oder ein Repräsentant sagt: «Ich fühle mich nicht wohl so nahe bei dieser Person, ich möchte lieber von hier weg und mehr zu jener Person hin.» So ergeben sich neue Konstellationen, und immer klärt Elisabeth Vogel durch Nachfragen ab, ob dadurch ein Unterschied wahrgenommen wird. 

Eineinhalb Stunden dauert das. Für die «echte» Sandra ist der Prozess sichtlich bewegend. Die Schlussposition aller Repräsentanten scheint für sie zufriedenstellend. Ich bin immerhin wieder in Balance.Doch ich verstehe überhaupt nicht, was hier passiert ist. Die Infos zu Beginn waren mir zu spärlich, um dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen. Auch war ich unsicher, weil ich den Ablauf nicht verstand. Darum ist meine Erinnerung an diese Aufstellung fragmentiert (siehe dazu Kasten «Sandras Interpretation».)

Die systemische Strukturaufstellung

Ursprünglich vor allem als Familienstellung bekannt, um Konflikte im Familienbeziehungssystem zu lösen, wird die Aufstellung zunehmend fürs Berufsleben eingesetzt. Etwa, um Beziehungen zwischen Unternehmen, Lieferanten und Kunden aufzuzeigen, um Probleme in Teams zu lösen, Möglichkeiten neuer Produkte zu erkennen, Projekte zu begleiten oder Strategien festzulegen.

Die Aufstellungen unter der Leitung von Elisabeth Vogel basieren auf dem Ansatz der systemischen Strukturaufstellung nach Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer. Vogel: «Dieser Aufstellungsart liegt eine Grammatik zugrunde, mit der praktisch beliebige Inhalte bearbeitbar sind. Die Aufstellungsleitung arbeitet lösungsfokussiert und wertschätzend. Sie interpretiert und wertet die Bilder nicht, denn das innere Wissen der Aufstellenden verarbeitet die Bilder schon richtig.»

Es können Menschen, aber auch abstrakte Elemente aufgestellt werden, etwa die zukünftige Aufgabe oder der unbekannte Aspekt, der auch noch eine Rolle spielt. Die Repräsentanten benötigen keine Informationen, für was sie genau stehen. Die Wahrnehmungen und Empfindungen stellen sich auch ohne inhaltliche Vorinformationen ein.

Mehr Infos: www.wissenswert.ch -> Porträt -> 
Arbeitsweise -> Systemische Strukturaufstellungen

Bei der zweiten Aufstellung bin ich immerhin schon etwas lockerer. Die zweite Aufstellende, eine Abteilungsleiterin, kommt mit einem ihrer Teams gut, mit dem anderen weniger gut klar. Anweisungen geben ist ein zentrales Thema. Die Aufstellende erkennt im Verlauf des Prozesses, dass die Schwierigkeiten daher rühren, dass sie sich beim Anweisungengeben manchmal unklar ausdrückt. Sie ist mit diesem Ergebnis zufrieden, hier kann sie nun in der Realität ansetzen.  

Am Nachmittag steigt auch meine Zufriedenheit. Ich verstehe jetzt das Prinzip, habe begriffen, dass man hier nichts falsch machen kann, und beginne sogar, die Aufstellungen zu geniessen. Bei einer dritten Aufstellung spüre ich einen Klumpen im Hals, der sich während des Prozesses auflöst. Bei einer vierten verkörpere ich eine Person, von der die Aufstellende offensichtlich glaubt, dass sie hilfebedürftig sei, dass sie ihr helfen müsse. Doch ich fühle mich pudelwohl in dieser Rolle. Die Aufstellende realisiert, dass sie ihre eigene frühere Hilfsbedürftigkeit auf diese Person projiziert. 

Die Reaktionen am Ende des Tages sind durchwegs positiv: «Das hat mir sehr geholfen» oder «Das ist die schnellste, einfachste Art, Probleme zu lösen». Elisabeth Vogel meint dazu: «Etwa 85 Prozent der Klienten sind mit den Aufstellungen zufrieden bis sehr zufrieden.»

Nicht immer kann ein Problem sofort gelöst werden: «Manchmal kommen die Einsichten erst einige Tage oder Wochen nach der Aufstellung. Und manchmal muss vor dem Finden einer Lösung eine zweite, tiefere Ebene – etwa eine Prägung aus der Kindheit – behandelt werden.»

Warum die Methode funktioniere, lasse sich (noch) nicht wissenschaftlich beweisen, so Elisabeth Vogel. «Sicher ist jedoch, dass unsere Wahrnehmung weiterreicht, als uns bewusst ist.»

Sandras Interpretation ihrer eigenen Aufstellung

Einen Monat später frage ich bei Sandra nach. Sie erklärt ihre berufliche Situation und interpretiert ihre Aufstellung:

«Mein Plan war, in eineinhalb Jahren zu entscheiden, ob ich weiterhin Geschäftsleitungsmitglied bleiben oder in eine neue Richtung gehen möchte. Kürzlich wurde mir aber von meiner Unternehmung zusätzliche Verantwortung für neue Bereiche angetragen. Diese zu übernehmen, bedeutete für mich ehrlicherweise auch, noch eine längere Zeit dort zu bleiben, denn nur schon die seriöse Einarbeitung dauert ein Jahr.

Deshalb fühlte ich mich unter Druck, mich jetzt schon für oder gegen den langfristigen Verbleib im Unternehmen entscheiden 
zu müssen. Bei dieser Entscheidung sollte mir die Aufstellung helfen. Auch wollte 
ich wissen: Wenn ich nicht im Unternehmen bleibe, wohin soll es dann gehen?

Die Aufstellung hat mir die Augen für mehrere Dinge geöffnet. Im Schlussbild befanden sich die Repräsentanten ‹Vorsitz› und ‹Tanz› hinter meiner persönlichen Repräsentantin, und zwar etwas weiter weg. ‹Vorsitz› stand ja bildlich für meinen Verbleib in einem sehr seriösen, männlich geprägten Geschäftsumfeld, ‹Tanz› für die Richtungsänderung hin zu einem emotionaler geprägten Beruf. Das In-den-Hintergrund-Rücken dieser beiden machte mir klar, dass ich meine Entscheidung nicht jetzt fällen müsse. 
Ich hatte mich in dieser Frage aufgrund der äusseren Umstände unnötig unter Druck gesetzt. Ich kann die neuen Bereiche übernehmen, und es wird sich zur rechten Zeit weisen, wie es weitergehen soll.  

Auch standen der ‹Vorsitz› und der ‹Tanz› im Schlussbild nahe beieinander. Sie fühlten sich so ganz wohl. Das zeigte mir, dass es nicht ein Entweder-oder sein muss. Es wird Lösungen geben, welche die scheinbaren Gegensätze zusammenführen.

Die Figur, die am Schluss der Aufstellung am nächsten bei meiner eigenen Repräsentantin stand, war ein abstraktes Element, das die Kursleiterin im Verlauf der Aufstellung eingefügt hatte, nämlich ‹Was ich alles geschafft habe›. Zum Schluss habe ich die Stelle meiner eigenen Repräsentantin eingenommen, und die Nähe zu diesem Element gab mir stärkende Gefühle: Ich habe erkannt, wie viel ich erreicht habe, dass ich beruflich weit gekommen bin und gleichzeitig gut für meine Familie sorge, indem ich etwa vor der Arbeit das Mittagessen für die Kinder vorkoche – auf all das darf ich stolz sein. Die Aufstellung hat mir gezeigt, dass es jetzt um Selbstvertrauen geht und darum, mit mir selbst im Reinen zu sein.»

 

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Franziska Meier ist Redaktorin und Produzentin mit langjähriger Erfahrung im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Als Chefredaktorin des Magazins «fit im job» sowie als Fachredaktorin der Zeitschrift «HR Today» hat sie sich auf das Thema «Mensch, Arbeit & Gesundheit» spezialisiert. Zu ihren journalistischen Schwerpunkten gehören insbesondere Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Stressprävention und betriebliches Gesundheitsmanagement. Achtsamkeit praktiziert sie manchmal im Schneidersitz, öfter jedoch auf ihren Spaziergängen rund um den Türlersee.

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