HR Today Nr. 12/2019: Praxis – Zeitmanagement

«Wir müssen uns komplett neu erfinden»

Nach der gesetzlichen Revision der Arbeitszeiterfassung 2016 war das Zeitmanagement medial omnipräsent – zwischenzeitlich ist es ruhig darum geworden. Drei Experten unterhalten sich über branchenspezifische Vorlieben, die Ansprüche des HR sowie über künftige Entwicklungen und Trends.

Obwohl die Zeiterfassung gesetzlich geregelt ist, erfassen bis heute nicht alle Unternehmen die Arbeitsstunden ihrer Mitarbeitenden. Sei es, weil sie auf Vertrauensarbeit setzen oder weil sie Mitarbeitende haben, die mehr als 120 000 Franken im Jahr verdienen. Wie nehmen Sie den Markt wahr?

Adrian Hofmann: Wir beobachten, dass es noch immer Betriebe gibt, die sich in der Grauzone bewegen und die Stunden ihrer Mitarbeitenden nicht oder nur unzureichend dokumentieren. Aber die gesetzlichen Kontrollen haben zugenommen. So überprüfen kantonale Inspektoren auch die Zeiterfassung. Wir erhalten regelmässig Anrufe aus Betrieben, die eine Kontrolle im Haus hatten und nun eine Lösung von uns brauchen …

Max Keller: … auch die Pausenkontrollen nehmen zu. Tatsache ist, viele Betriebe können die Pausenbezüge ihrer Mitarbeitenden nicht ausweisen – was zu Bussen führen kann.

Cristian Cescon: Die Zeiterfassung ist nicht nur aus gesetzlicher Sicht wichtig. Sie wird auch von den Mitarbeitenden gefordert. Vor allem die jüngere Generation schätzt es, belegen zu können, wie viel sie effektiv gearbeitet hat. In der Regel ist das ja meist mehr als gefordert.

Keller: Viele Mitarbeitende, die über 120 000 Franken im Jahr verdienen, wünschen sich eine Zeiterfassung. Das zeigen verschiedene Studien. Bei einer mir bekannten Firma haben Mitarbeitende dieser Kategorie erst kürzlich einen Antrag gestellt, damit die Zeiterfassung wieder eingeführt wird.

Hofmann: In den 90er-Jahren ging der Trend in eine ganz andere Richtung. Ich erinnere mich an ein Plakat der ABB mit einer durchgestrichenen Stempeluhr und dem Slogan: «Wir vertrauen unseren Mitarbeitenden.» Dabei war die Zeiterfassung schon damals gesetzlich vorgeschrieben.

Sie haben Mitarbeitende erwähnt, die sich die Zeiterfassung zurückwünschen. Inwiefern unterscheiden sich die Ansprüche der Branchen beim Zeitmanagement?

Hoffmann: Banken, Versicherungen und andere Grossbetriebe wehren sich häufig mit Händen und Füssen gegen ein Zeitmanagement oder eine Zeiterfassung …

Cescon: … das hat seine guten Gründe. In diesen Branchen fürchtet man sich davor, dass die Zeit­erfassung transparent aufzeigt, wie viele Überstunden im Unternehmen effektiv geleistet werden. Das sind Stunden, die gesetzlich entlöhnt und in der Buchhaltung rückgestellt werden müssen. Man sucht deshalb Mittel und Wege über Kaderpositionen und hohe Löhne, diesen gesetzlichen Anforderungen zu entgehen. Dienstleistungsorientierte Betriebe schätzen indes die Zeiterfassung, weil sie die geleisteten Arbeitsstunden für Projektabrechnungen den Kunden ohnehin rapportieren müssen.

Keller: Zur Zeiterfassung hinzugekommen ist die Leistungserfassung – und die gefällt ebenfalls nicht allen.

Cescon: Das ist verständlich. Eine reine Zeiterfassung ist meist ein Plus für einen Mitarbeitenden, weil sie belegt, dass er die geforderten Stunden vor Ort war. Wenn die Zeiterfassung aber an eine Leistungserfassung gekoppelt ist, will der Arbeitgebende zusätzlich wissen, was der Mitarbeitende in dieser Zeit geleistet hat. Das kann für den einen oder anderen ungemütlich werden, wenn er beispielsweise unterbelastet ist oder seine Stunden in diesem Sinne «unproduktiv» absitzt.

Welche Ansprüche hat das HR an ein modernes Zeitmanagement beziehungsweise Zeiterfassungs-Tool?

Keller: Die Ansprüche sind sehr hoch. Es müssen immer mehr anverwandte Bereiche in die Zeiterfassung integriert werden. Gerade die Zeiterfassung wird von verschiedenen Software-Herstellern als Zusatzmodul angeboten. Das ist eine grosse Herausforderung und wird uns noch eine längere Zeit beschäftigen. Zusammengefasst wünscht sich das HR für Mitarbeitende wie für Vorgesetzte ein einfaches und intuitives Werkzeug zur Präsenz- und Abwesenheitszeiterfassung sowie zur Leistungserfassung. Dank der einfachen Erfassung können Eingabefehler verhindert und die HR-Abteilungen kann dadurch entlastet werden.

Cescon: Wir beobachten, dass HR-Teams vor allem eines wollen: Prozesse digitalisieren, dezentralisieren und die Verantwortung an die Mitarbeitenden und Vorgesetzten abgeben. Gesucht werden deshalb Systeme, die als Führungsinstrument eingesetzt werden können und Employee-Self-Service-Funktionalität bieten. Das HR wünscht sich zudem aufwandarme und intuitive Lösungen. Das heisst, einen minimalen Tagesaufwand für alle Anspruchsgruppen und keinen Schulungsaufwand bei den Endanwendern.

Hofmann: Ein Zeiterfassungssystem soll die Arbeitszeiten und Absenzen korrekt kalkulieren. Das System soll die im Betrieb vorgesehenen Prozesse, Workflows und Visierungen zudem abbilden und das HR mit Kontrollmöglichkeiten unterstützen.

Ist Excel ein Auslaufmodell?

Hofmann: Nein. Es gibt nach wie vor zahlreiche Unternehmen, die Excel nutzen. Beispielsweise jene, die zu klein für eine professionelle Lösung sind. Wobei auch kleinere Unternehmen beispielsweise mit einer SaaS-Lösung (Software as a Service; Anm. d. Red.) optimal bedient wären.

Keller: Das nehmen wir ähnlich wahr. Für eine simple Zeiterfassung ist Excel für viele Betriebe immer noch ausreichend.

Cescon: Auch wenn Excel nach wie vor omnipräsent ist, bin ich der Meinung, dass es ein Auslaufmodell ist. Die Gründe liegen auf der Hand. In Excel fehlen Punkte wie Plausibilität, Mobilität sowie der übergeordnete Gedanke hinsichtlich Datenzusammenführung, und sobald andere Systeme hineinspielen, sind die Möglichkeiten im Bereich Schnittstellen bei Excel gleich null.

Was war bislang der aussergewöhnlichste Wunsch, mit dem ein Unternehmen an Sie herangetreten ist?

Cescon: Ich würde nicht sagen, dass der Wunsch aussergewöhnlich war, aber vielen Unternehmen ist einfach nicht bewusst, wo die Grenzen eines Zeitmanagement- oder Absenzenmanagement-Systems liegen. Die derzeit erhältlichen Zeiterfassungssysteme können sehr viel leisten. Wenn mich ein Unternehmer jedoch fragt, ob er mit unserem System durch die Zeit- und Leistungserfassung auch noch eine Rechnung generieren kann, geht das für unser System zu weit. Diese Anforderung muss ein Unternehmen mittels ERP- (Enterprise-Resource-Planning; Anm. d. Red.) oder Auftragsbearbeitungs-Software lösen. Auch der Wunsch, mit unserem System Stellenausschreibungen generieren zu können, tauchte schon auf. Aber auch hier: Das zählt nicht zu unseren Kompetenzen.

Keller: Könnten wir all diese Zusatzwünsche noch integrieren, wäre das natürlich eine Chance für uns. Ich bin davon überzeugt, dass wir über kurz oder lang unseren Service erweitern müssen. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass ein Zeiterfassungsmanagement in fünf Jahren anderes aussehen wird als heute.

Inwiefern ist es für Ihre Kunden wichtig, dass ein Schweizer Anbieter hinter den Produkten und den Tools steht?

Cescon: Es gelangen immer wieder Betriebe an uns, die ein deutsches Produkt haben, das für sie nur suboptimal funktioniert. Ein Grund ist unter anderem, dass die Gesetzgebung in der Schweiz in vielen Bereichen anders ist als in den deutschsprachigen Nachbarländern. Die Deutschen verfolgen mit Zeitmanagement-Systemen zudem einen ganz anderen Ansatz. Während für uns vor allem die gesetzliche Komponente wichtig ist, ist das System in Deutschland Mittel zum Zweck, um korrekte Lohnabrechnungen erzeugen zu können.

Hofmann: Dass ein Schweizer Produzent hinter dem Produkt steht, ist vor allem bei Cloud-Lösungen wichtig. Ein Server muss sich in der Schweiz befinden, etwas anderes wird von unseren Kunden nicht akzeptiert. Grundsätzlich erfüllen auch Produkte aus dem Ausland die Basisfunktionen, doch müssen für die Schweizer Anforderungen sehr viele Anpassungen gemacht werden. Das ist sehr kostenintensiv und vor allem für KMU nicht ratsam. Zudem gilt es zu bedenken, dass Supportleistungen nur effizient erbracht werden können, wenn man die Schweizer Eigenheiten kennt und die Landessprachen spricht.

Wie wichtig sind Cloud-Lösungen bei der Zeiterfassung?

Keller: Vor allem ausländische Unternehmen wünschen sich vermehrt Cloud-Lösungen. Einen Trend zur alleinigen Cloud-Lösung haben wir aber bislang noch nicht gespürt.

Cescon: Bei uns hat die Nachfrage nach Cloud-Lösungen in den letzten Jahren markant zugenommen. Die Verteilung Cloud versus lokale Installationen beträgt heute 50 zu 50 Prozent.

Hofmann: Bei uns sind es eher kleinere Betriebe, die auf eine Cloud-Lösung setzen, weil sie keinen eigenen Server oder Infrastruktur besitzen. Bei grösseren Kunden haben wir praktisch niemanden, der eine Cloud-Lösung nutzt.

Stichwort DSGVO: Inwiefern tangiert die Zeiterfassung das EU-Datenschutzgesetz?

Hofmann: Beim Thema Datenschutzverordnung müssen wir aufpassen, dass wir als Schweizer Anbieter nicht den Anschluss verlieren. In der Schweiz ist die DSGVO zwar noch nicht akut, aber es geht nicht mehr lange und wir werden in der Schweiz ähnliche oder noch schärfere Bestimmungen haben …

Keller: … wir haben ja schon einen ersten Eindruck von der DSGVO durch Unternehmen, die im Ausland tätig sind oder mit ausländischen Betrieben zusammenarbeiten.

Cescon: Ich glaube ebenfalls, dass wir bald davon betroffen sind. Das Thema Datenschutz ist extrem heikel, gerade in Bereichen wie dem Absenzenmanagement. Da ist es essenziell, dass nur die «Richtigen» Zugang zu diesen Daten haben.

Was sind die Trends in Sachen Zeiterfassungs-Tools und Zeitmanagement?

Hofmann: Das ist schwierig vorherzusehen. Gesellschaftliche und politische Entscheide haben einen Einfluss auf Zeitmanagement-Lösungen und die Art und Weise, wie die Systeme eingesetzt werden. Aktuell zeichnen sich aber keine nennenswerten Veränderungen ab. Zu sagen bleibt, dass moderne Zeiterfassungssysteme in der Lage sind, gesetzliche Vorgaben und Bedürfnisse der Betriebe abzubilden. Technische Entwicklungen wie der Einsatz von Smartphone-Apps oder Cloud-Lösungen werden unterstützt. Hersteller von Zeitmanagement-Systemen werden wohl in erster Linie an der Perfektionierung ihrer aktuellen Lösungen arbeiten.

Cescon: Es wird erwartet, dass Hersteller mobile Aspekte und den Cloud-Gedanken mit einer möglichst tiefen Preisgestaltung berücksichtigen. Gefragt sind moderne Module, die die Prozesse maximal digitalisieren. Das Ganze soll dabei einfach in der Anwendung sein und den Bedienungsaufwand auf ein Minimum reduzieren.

Keller: Die Anforderungen an die Systeme steigen, diverse Systeme können und müssen deshalb abgelöst werden. Zudem werden immer mehr Erweiterungen gefordert, beispielsweise Spesenerfassung, Absenzenplanung, Einsatzplanung oder eigenständige Leistungserfassung ohne Schnittstellen. Im Auge behalten müssen wir, dass ERP-Systeme auch immer mehr in den Zeiterfassungsbereich vordringen. Das stellt uns vor neue Herausforderungen.

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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