08.09.2014

Lese- und Schreibschwäche: Mehr Unterstützung für Betroffene

780 Millionen Menschen weltweit können weder lesen noch schreiben – das ist fast jeder Sechste. Das Ziel aus dem Jahr 2000, die Alphabetisierungsrate bis 2015 zu halbieren, wurde nicht erreicht, stellt die Unesco zum Welttag der Alphabetisierung vom Montag fest.

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Bern (sda). Auch in der Schweiz kann längst nicht jeder Erwachsene lesen und schreiben. Rund 800'000 Erwachsene sind hierzulande gemäss Bundesamt für Statistik nicht in der Lage, einen einfachen Text zu lesen und zu verstehen – trotz Schulbildung. Es handelt sich aber nicht um Analphabeten, die per Definition nie eine Schule besucht haben.

Defizit meist unerkannt

Beinahe die Hälfte der Betroffenen ist in der Schweiz geboren und hier zur Schule gegangen, schreibt der Verein Lesen und Schreiben in einer Medienmitteilung. Betroffen seien Personen aus fast allen Berufen und sozialen Schichten.

Das Defizit bleibe aber meist unerkannt, weil sich viele nicht getrauten, über ihre Schwäche zu sprechen. Viele wüssten nicht einmal, dass sie Lesen und Schreiben auch im Erwachsenenalter lernen könnten und dass es entsprechende Angebote gibt.

Um dies zu ändern, kommen sogenannte Vermittlerpersonen zum Einsatz. So werden etwa Berufsberater speziell geschult, damit sie erkennen, wenn eine Person mit einer Lese- oder Schreibschwäche die Beratung aufsucht. Die Vermittlerperson kann dann das Thema ansprechen und helfen, ein passendes Weiterbildungsangebot zu finden. Rund 3000 Personen entscheiden sich pro Jahr, als Erwachsene besser lesen und schreiben zu lernen.

30 Millionen gefordert

Der Verein kritisiert, dass heute zu wenig Mittel für entsprechende Angebote zur Verfügung stünden. Bereits am Freitag hatte der Dachverband für Weiterbildung (SVEB) mehr Mittel für nationale Sensibilisierungskampagnen und flächendeckende Kursangebote gefordert.

Die Ausgaben müssten von heute 2 Millionen auf 30 Millionen Franken pro Jahr aufgestockt werden. Mit dem Weiterbildungsgesetz, das 2017 in Kraft tritt, bestehe dafür nun eine gesetzliche Grundlage.

Am Weltalphabetisierungstag wird mit verschiedenen Aktionen in der Schweiz auf das Thema aufmerksam gemacht. In Bellinzona eröffnet eine Fotoausstellung, in vier Westschweizer Städten wird an Informationsständen auf Kursangebote hingewiesen. Deutschschweizer finden auf der Webseite des Vereins Lesen und Schreiben kurze Videoclips und Infoblätter.

Lernprozess wird blockiert

Doch wie kommt es, dass jemand eine ganze Schulkarriere durchlaufen kann, ohne richtig lesen und schreiben zu lernen? Eine Seh- oder Hörschwäche, Legasthenie oder auch eine schwierige Familiensituation könnten am Anfang der Entwicklung stehen, schreibt der Verein Lesen und Schreiben auf einem Informationsblatt.

Der schwierige Prozess des Lesen- und Schreiben-Lernens könne in der Folge nicht reibungslos verlaufen. Das Lesen und Schreiben wird zunehmend zur Belastung. Die ständigen Misserfolge drücken auf das Selbstwertgefühl, der Unterricht wird zur Qual.

Betroffene versuchen Lese- und Schreibsituationen möglichst zu vermeiden – der Lernprozess wird dadurch erst recht blockiert. Nach der Schulzeit entwickeln viele Alternativstrategien und vergessen so das wenige in der Schule erlernte.

Ausweichmöglichkeiten gibt es viele. Muss ein Formular ausgefüllt werden, sagt die Betroffene einfach, sie sei in Eile und erledige das zu Hause. Gilt es an der Arbeitsstelle einen Rapport zu schreiben, bietet sich die Person an, währenddessen das Aufräumen zu übernehmen.

Einige leeren den Briefkasten einfach nicht mehr oder entsorgen die Post ungelesen. Oft haben sie eine Vertrauensperson – Kinder, Eltern oder Freunde – die wichtige Aufgaben für sie übernimmt.

Dauerstress

Auch wenn sich der Alltag so einigermassen bewältigen lässt: Für viele Betroffene ist die Situation ein Dauerstress. Bekannte und Verwandte haben oft wenig Verständnis, wenn sie die wahren Beweggründe für gewisse Verhaltensweisen nicht kennen.

Vorgesetzte haben zum Beispiel das Gefühl, ein Mitarbeiter sei faul, weil er sich vor entsprechenden Arbeiten drückt. Kinder denken, ihr Vater interessiere sich nicht für sie, weil er bei den Hausaufgaben nicht hilft. Bei Sozialdiensten fallen Betroffene als unkooperative oder aggressive Klienten auf.

Gemäss einer Studie des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) aus dem Jahr 2007 haben Personen mit einer Lese- oder Schreibschwäche ein doppelt so hohes Risiko, arbeitslos zu werden wie der Durchschnitt der Erwerbstätigen.