14.01.2016

Segen oder Fluch des Strukturwandels in der Schweiz

Der geplante Stellenabbau bei Alstom im Aargau zeigt einmal mehr, dass die Schweizer Wirtschaft in einem komplexen Anpassungsprozess steckt. Die Beschäftigung in der Industrie sinkt, während sie im Dienstleistungssektor zunimmt. Segen oder Fluch – da sind sich Arbeitsökonom George Sheldon und Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart uneinig.

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Bern (sda). «Bis zu 1300 Stellen» will die amerikanische General Electric GE in der aargauischen Industrie streichen. Diese Mitteilung traf Angestellte und Politiker am Mittwoch wie ein Hammerschlag. Und: Dieser Stellenabbau in der Industrie ist ein neuer Tiefpunkt in der gegenwärtigen Entwicklung der Schweizerischen Arbeitslandschaft. 31'360 Stellen sind von 2008 bis 2015 in der Industrie verschwunden.

Im selben Zeitraum sind aber auch 261'700 Stellen geschaffen worden, fast alle im Dienstleistungsbereich. Das ist ein Plus von 6,6 Prozent. 178'500 dieser neuen Stellen sind in sogenannt staatsnahen Diensten entstanden, im Gesundheitswesen, im Sozialwesen oder im Bereich Erziehung und Unterricht.

Schweiz als Nischenanbieter auf dem Weltmarkt

Das sei eine ganz normale Begleiterscheinung hochentwickelter, moderner Industrienationen, sagt George Sheldon, Arbeitsökonom an der Universität Basel. Er beklagt also nicht eine allfällige Deindustrialisierung, sondern betrachtet diese Entwicklung positiv. Auch wenn die Bereiche Gesundheitswesen oder Bildung, in denen die neuen Stellen mehrheitlich geschaffen wurden, in der Schweiz als staatsnah gelten, sind sie dennoch produktiv.

Es entspreche einem Charakteristikum der Schweiz, dass diese Branchen staatsnah organisiert seien – im Unterschied beispielsweise zur USA, wo diese Bereiche verstärkt in privater Hand seien. Auch dort habe ein Wandel von der Industrie zu Bildung oder Gesundheitswesen stattgefunden. Bildung sei ein Wachstumsmotor – in der Schweiz wie in den USA, sagt Sheldon.

Das Bildungswesen sei eine überaus wichtige Investition in die Zukunft der Schweiz, gerade weil die Schweiz eine kleine und damit exportabhängige Volkswirtschaft sei. Sheldon verweist darauf, dass die Schweiz traditionell als qualitativ hochstehender Nischenanbieter auf dem Weltmarkt positioniert sei. «Um in dieser Positionierung kompetitiv zu bleiben, müssen Schweizer Unternehmen innovativ sein und um innovativ sein zu können, braucht es ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau», sagt Sheldon.

Vor diesem Hintergrund sei der angekündigte Stellenabbau im Aargau für die Betroffenen zwar äusserst schmerzhaft, aber im Verlauf der Wirtschaftsgeschichte durchaus normal. Sheldon verweist volkswirtschaftlich betrachtet auf den Unterschied zwischen Beschäftigung und Wachstum. «Wenn sich nämlich Beschäftigung verlagert von der Industrie in die genannten Bereiche, heisst das nicht, dass deshalb das Wachstum der Schweiz gefährdet ist», sagt Sheldon.

Industrie braucht immer weniger Beschäftigte

Denn Beschäftigung bildet ab, wo die meisten Arbeitnehmenden gebraucht würden. Gerade in den Bereichen Bildung oder Gesundheitswesen können die Beschäftigten nicht weggespart werden, ohne die Leistung zu gefährden. Die Industrie hingegen erhält oder steigert ihre Produktivität, mithin ihre Wettbewerbsfähigkeit, über Innovation und dieser Prozess geht einher mit Rationalisierungen. Wachstum werde in beiden Bereichen generiert, mit Dienstleistungen – im Gesundheitswesen oder in der Bildung – wie mit der Industrie, sagt Sheldon. Aber die Industrie brauche dafür immer weniger Beschäftigte, während der Dienstleistungssektor immer mehr Beschäftigte brauche.

Diese professorale Sichtweise lässt jedoch die persönliche Situation der Arbeiter und Angestellten in der Industrie ausser Acht, die Situation all jener, die ihre Stelle verlieren. Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Seco, hat letzte Woche bei seinem Rückblick auf die Arbeitslosigkeit 2015 auf die Flexibilität des Schweizerischen Arbeitsmarkts verwiesen.

Die Arbeitslosenstatistik zeigt, dass im Durchschnitt ein Arbeitsloser nach dem Verlust der Stelle 6,5 Monate lang arbeitslos ist. Statistisch betrachtet haben junge Arbeitslose nach 3,5 Monaten wieder eine Stelle, während ältere Arbeitslose nach durchschnittlich 9 Monaten wieder beschäftigt sind.

Ausgehöhlter Export gefährdet Einkommen

Diese Zahlen weist Daniel Lampart, Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB, nicht von der Hand. «Der Schlüsselfaktor ist aber das Alter der Stellensuchenden», sagt er. Von denjenigen, die in nächster Zeit im Aargau ihre Stelle verlieren werden, werden die Jüngeren wohl rasch wieder eine Stelle finden, aber bei den Älteren wird es schwierig, wie der Gewerkschaftsökonom sagt. «Für diese Mitarbeitenden brauchen wir einen Kündigungsschutz», sagt er im Hinblick auf die anstehenden Konsultationsverfahren mit dem Arbeitgeber GE.

Den Optimismus des Wirtschaftsprofessors Sheldon, was den Strukturwandel weg von der Industrie hin zum Bereich der Dienstleistungen anbetrifft, will Lampart nicht teilen. «Wir sehen, dass der Wertschöpfungsanteil der Industrie in der Schweiz abnimmt.» Es frage sich, welche Auswirkungen das auf die Gesamtsubstanz, das BIP, habe.

«Die Gefahr besteht, dass in der mittleren Frist die Firmen zu wenig erwirtschaften um in Produktionsmittel und Forschung investieren zu können», sagt der Gewerkschaftsökonom. Dann wird die Schweiz auf ihren weltweiten Absatzmärkten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. «Wenn in einer kleinen Wirtschaft wie der der Schweiz der Export ausgehöhlt wird, dann stehen die Einkommen unter Druck.»