HR Today Nr. 7&8/2016: Debatte

Anonymisierte Lebensläufe?

Anonymisierte Bewerbungen verhindern Diskriminierungen in der Personalselektion, meint Bildungs
experte Ralf Margreiter. Claus-Peter Sommer, CEO des Recruiting-Process-Anbieters Serendi, hinterfragt dagegen die Praxistauglichkeit in der Realität und plädiert für transparente Bewerbungsunterlagen.

Ralf Margreiter

Personalselektion ist ein vielschichtiges Geschäft und der Erfolg alles andere als trivial. Und gleichzeitig sehr einfach: Ich entscheide! Nur: auf welcher Grundlage? Nichts gegen das Bauchgefühl: Das gehört dazu und braucht es auch. Objektivität wird es in Personalentscheiden nie geben. Die Frage ist: Lässt sich die Personalauswahl optimieren, der subjektive Faktor minimieren und wenn ja, wie? Irrationalität will sich ja niemand vorwerfen lassen, kein Recruiter, keine Beraterin, kein Manager.

Anonymisierte Bewerbungsverfahren haben das Zeug dazu, Verzerrungen und blinde Flecke zu eliminieren. Dabei bedeutet Anonymisierung nicht einfach, keine Fotos zu verwenden und keinen Namen aufzuführen, sondern auch, keine Angabe zum Geschlecht und zum Alter zu machen.

In beiden Punkten führten anonymisierte Verfahren dazu, dass «atypische» Bewerbende nicht nur zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurden, sondern tatsächlich den Zuschlag erhielten. In Zeiten, in denen vielfach die Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt beklagt wird, ist dies nicht zu vernachlässigen.

Vor einigen Jahren führte der Kaufmännische Verband einen Pilotversuch mit anonymisierten Lehrstellenbewerbungen durch. Das Resultat: Kompetenzen und Motivation wurden bei anonymen Bewerbungen gegenüber persönlichen Faktoren wie Namen, Herkunft oder Geschlecht statistisch überdurchschnittlich höher gewichtet. Bei gleichem Schulniveau wurden so deutlich mehr Jugendliche aus dem Balkan und aus Südwesteuropa zum nächsten Bewerbungsschritt aufgefordert, als gemäss Zürcher Bildungsstatistik zu erwarten gewesen wäre. Eine solche Einladung ist der erste Schritt zur Lehrstelle. Jenseits von Vorurteilen und Stereotypen. Als Türöffner, um sich mit allen Fähigkeiten und der eigenen Motivation persönlich zu präsentieren, um überhaupt erst eine Chance zu erhalten. Im Ergebnis ein schöner Erfolg mit mehr Zukunftsperspektiven, oder etwa nicht? Einschränkend gilt, dass der Lehrstellenmarkt eine Mischung aus Bildungs- und Arbeitsmarkt darstellt. Für Lehrbetriebe ist der praktische Nutzen in der Regel aber entscheidend, also primär der Arbeitsmarkt. Der betriebliche, volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Nutzen einer möglichst wenig verzerrten Personalselektion sind evident. Diskriminierungen sind auf dem «normalen» Arbeitsmarkt nachgewiesen. Damit werden Ressourcen verkannt. Es gibt nicht nur Branchen mit offenkundigem Fachkräftemangel, wo Betriebe froh sind, überhaupt geeignete Bewerbende zu finden. Potenziale liegen auch anderswo!  Ich plädiere nicht für starre Korsette und Gesetze, sondern fürs Lernen. Anonymisierte Bewerbungen sind administrativ sicher aufwändig und keine Patentlösung. Aber haben Sie’s ausprobiert? Wie begegnet Ihr Unternehmen den bekannten Verzerrungen in der Personal-selektion?  Eine «objektive» Auswahl gibt es zwar nicht, aber sie lässt sich optimieren!

 

Claus-Peter Sommer

Zugegeben, es hört sich verlockend an: Anonyme Bewerbungen verhindern Diskriminierungen. Rückschlüsse auf einen ethnischen, religiösen oder migrationsbezogenen Hintergrund wären so nicht möglich und alle Bewerber würden zumindest auf der ersten Stufe eines Bewerbungsverfahrens gleich behandelt: Ein Mohammed F. hätte die gleiche Chance wie ein Beat R., eine Hürrem Y. die gleiche wie eine Erika H. So lautet zumindest die Theorie.
Wenn man jedoch Chancengleichheit für alle Bewerber möchte, müssten sich alle anonym bewerben. Nur so wären Personalentscheider angehalten, keine Rückschlüsse aus dem Namen des Bewerbers zu ziehen. Um dies zu erreichen, müsste es einen formalen Rahmen geben, beispielsweise durch ein Gesetz, das alle Bewerber faktisch zwingt, sich anonym zu bewerben.

Dies wäre ein Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte jedes Einzelnen,  was zumindest in der Schweiz nicht durchsetzbar wäre.  Somit bleibt nur die Möglichkeit, Bewerber selbst entscheiden zu lassen, ob sie in einer Bewerbung ihren vollen Namen angeben, es mit einem Pseudonym oder ganz anonym versuchen. Damit diskriminiert sich jedoch jeder Bewerber selbst.

Warum verschweigt jemand seinen Namen? Hat er etwas zu verbergen? Es wird ein Misstrauen geschaffen, das der Bewerber selber verursacht. Warum soll ein Personalentscheider jemandem trauen, der sich in der Anonymität versteckt? Ein Recruiter wird bevorzugt jene Bewerber zum Gespräch einladen, bei denen er Klarheit hat, also Bewerber, die sich unter ihrem richtigen Namen bewerben. – Denken wir den Prozess weiter: Heute erfolgen die meisten Bewerbungen inzwischen  elektronisch. Demzufolge müssten sich Bewerber anonyme E-Mail-Adressen zulegen, ihre Kontaktdaten verfremden oder sich über einen Mittelsmann kontaktieren lassen. In wichtigen Bewerbungsunterlagen wie Zeugnissen oder Testaten müssten die Namen vom Bewerber geschwärzt werden: Ein Aufwand, den viele wohl nicht tätigen wollen. Und selbst wenn es ein Bewerber in den nächsten Auswahlschritt zum Interview schafft, trifft Mohammed F. den Personalverantwortlichen von Angesicht zu Angesicht. Hätte der Personalentscheider dann einen diskriminierenden Vorbehalt gegen einen Mohammed, er würde es ihm nicht sagen, sondern Mohammed mit einem Verweis auf seine unzureichende Qualifikation ablehnen.

Die Realität ist heute aber anders: Die Schweizer Volkswirtschaft ist auf Fachkräfte angewiesen. Kein rational denkender Personalentscheider lehnt einen Bewerber aufgrund seines Namens ab, wenn er die gesuchte Qualifikation mitbringt.

In der Schweiz herrscht nahezu Vollbeschäftigung, in vielen Bereichen werden Fachkräfte dringend gesucht. Diskriminierung hat hier keinen Platz. Zudem gehen wir auch sonst freizügig mit unserer Identität um. Bewerber sollten selbstbewusst sein und dazu stehen, was sie zu bieten haben: Fachkenntnisse, Motivation, Fähigkeiten.

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Ralf Margreiter ist Berufs- und Weiterbildungsexperte. 
Er arbeitet an der KV Zürich Business School als Leiter 
Bildungsgänge 
öffentliche Verwaltung.

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Claus-Peter 
Sommer, CEO 
Serendi, ist auf 
Recruitment Process Outsourcing (RPO) und Talent Sourcing spezialisiert und 
europaweit aktiv.

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