Arbeitsplatzorganisation

Kunst des Wegwerfens

Ordnung ist das halbe Leben, sagt man. Während sich viele Arbeitskräfte an diesen Grundsatz halten, fühlen sich andere im Chaos wesentlich wohler. Doch wie viel Ordnung ist notwendig, damit die Arbeitsproduk­tivität nicht leidet? Wir haben drei Aufräumexperten gefragt und ­einen ­Selbstversuch gewagt.

Auf dem Schreibtisch stapeln sich Papierberge an allen Ecken und Enden. Dazwischen lugt ein buntes Post-it hervor. Um Locher, Stapler oder Büroklammern wiederzu­finden, ist eine zeitraubende Schatzsuche angesagt. Alltagsszenen, die Willy Knüsel, Geschäftsleiter der Knüsel Trainings AG, oft auch bei so namhaften Klienten wie der Roche, der Luzerner Kan­tonalbank oder der Stadt Zürich antrifft: «Ich weiss genau, wo ich was finde, das ist mein System», habe kürzlich ein IT-Projektleiter in einer Coaching-Sitzung, die er aufgrund einer HR-Intervention erhalten hatte, im Brustton der Überzeugung verlauten lassen. In diesem Moment habe das Telefon geklingelt: Der Anrufer erkundigte sich nach einem Brief, den er ihm vor Tagen zugesandt hatte. Die Suche dauerte und dauerte. Der IT-Leiter musste den Anrufer schliesslich vertrösten. Symp­tome einer Überforderung, die beinahe in einer Kündigung mündete, denn die verpassten Projekttermine kumulierten sich und seine Mitarbeitenden fühlten sich zunehmend vernachlässigt.

Für Christa Beer, Buchautorin und Aufräumexpertin für überfüllte Schreibtische, ist nicht die Zahl und Höhe der Papierstapel für die fehlende Übersicht entscheidend, sondern die nicht vorhandene Struktur: «Ein Papierstapel ist eben nicht einfach nur ein Papierstapel», findet Christa Beer. «Wer sich inmitten seiner Stapel pudelwohl fühlt und das benötigte Dokument in Sekundenschnelle hervorzuzaubern vermag, arbeitet im Gegensatz zum genannten Projektleiter strukturiert», erläutert sie. Als ehemalige «Unsortierte» kennt sie sich mit dem «Bermuda-Dreieck-Schreibtisch» aus eigener Anschauung auch bestens aus und weiss, wovon sie spricht: «Es gibt einfach Menschen, deren Schreibtische chaotisch wirken, obwohl durchaus eine Struktur dahinter steckt.»

Sibylle Jäger, die an der Kantonalen Berufsschule für Erwachsenenbildung Zürich Arbeitstechnikkurse anbietet, glaubt sogar, dass manche Menschen in chaotischen Umständen kreativer sind: «Was zählt, ist, was der jeweilige Mensch empfindet, der an diesem Pult arbeitet», erläutert sie. Kommen Gefühle der Hilflosigkeit ins Spiel, sei jedoch eine Änderung angezeigt, sind sich Christa Beer und Sibylle Jäger einig. Ein latentes Unwohlsein und die Frage «Schaffe ich das alles noch?» seien erste Anzeichen für eine Überforderung, die im schlimmsten Fall sogar in Handlungsunfähigkeit münde.

Meist seien es veränderte Arbeitsbedingungen, die vom geordneten Chaos zur Orientierungslosigkeit führten, sagt  ­Sibylle Jäger: Wenn sich zum Beispiel das Berufsbild des Betroffenen sehr stark verändert und die eingeschliffenen Arbeitsstrategien nicht mehr greifen, kann schon die Einführung eines neuen Computerprogramms ein jahrelang funktionierendes Ordnungssystem über den Haufen werfen. Viele Mitarbeitende übernähmen aber auch einfach die Ablageordnung ihres Vorgängers oder fänden sich mit Unternehmensprozessen ab, die in sich nicht stimmig sind.

Sichtbar werde eine Überforderung spätestens dann, wenn sich Arbeitsvorgänge ohne jede Systematik kreuz und quer auf dem Pult abbilden, Informationen auf Vorrat gehortet werden und nicht mehr zwischen «wichtig» und «unwichtig» unterschieden wird, ­sagen die drei Aufräumexperten übereinstimmend. Am Ende fehlt dann meist sogar die Zeit, um die Papierstapel nach benötigten Dokumenten zu durchforsten, wie es das Beispiel des IT-Projektleiters veranschaulicht. Was aber tun in einer solchen Situation?

Mut zur Lücke

Das A und O einer guten Struktur liegt in der Kunst des Wegwerfens, so die einhellige Expertenmeinung. Ist die Übersicht verloren, gilt es sich zu fragen: Brauche ich das noch oder könnte ich es gebrauchen? Geschieht ein Unglück, wenn ich diese Information nicht mehr habe? «Was tatsächlich noch gebraucht wird, sollte sofort abgelegt werden. Alles andere kann ruhigen Gewissens weggeworfen werden», rät Christa Beer. Dabei sei allerdings auch der Mut zur Lücke gefragt. Eine ähnliche Meinung vertritt Willy Knüsel: «Wenn Sie den Nutzen eines Dokuments nicht glasklar sehen, werfen Sie es ganz einfach weg und hören Sie auf zu sammeln.» Im Zeitalter von Google & Co. suche man sowieso immer zuerst im Web und könne sich viele Informationen wieder beschaffen.

Wer dieses Vorgehen für zu radikal hält, solle sich einen «Vorpapierkorb» schaffen, mildert Knüsel seine radikale Forderung nach einer blanken Schreibtischfläche ab. Ein «Vorpapierkorb» ist ein Platz, wohin alle Dokumente wandern, die der Kategorie «Vielleicht könnte ich es einmal brauchen» zugeordnet werden. Einmal pro Jahr wird die untere Hälfte des Stapels weg­geworfen. Auch Christa Beers «Rote-Punkte-­Methode» funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip: Die fraglichen Dokumente werden mit einem roten Punkt versehen und in Mappen abgelegt. Sind sie nach drei Wochen immer noch nicht abgearbeitet, werden sie ganz einfach ausgemustert.

Wer effizienter arbeiten will, ordnet «Gleiches zu Gleichem». Zu erledigende Telefonanrufe werden in einer Mappe gesammelt und E-Mails blockweise abgearbeitet. Was nur wenige Minuten in Anspruch nimmt, wird sofort erledigt und kein Dokument ein zweites Mal in die Hand genommen: «Schon beim Lesen einer E-Mail muss ich mich entscheiden, ob ich sie brauche oder nicht. Im Posteingang befinden sich nur noch jene E-Mails, die noch nicht erledigt sind», empfehlen Sibylle Jäger und Willy Knüsel übereinstimmend.

Ähnliche Aufgaben «en bloc» abzuarbeiten lohnt sich auch betriebswirtschaftlich, denn wer dauernd zwischen verschiedenen Aufgaben wechselt oder sich unterbrechen lässt, braucht viel länger, um eine Aufgabe zu Ende zu bringen. «Störungen gehören zwar zum Arbeitsalltag», meint Willy Knüsel, «der Umgang mit ihnen will aber gelernt sein». Es gelte ­zwischen Aufgaben zu unterscheiden, die eine Unterbrechung erlaubten und solchen, die eine länger andauernde Konzentration erforderten. So habe beispielsweise der besagte IT-Leiter angefangen, zwischen sieben und neun Uhr Projektaufgaben zu erledigen und seine Termine zu organisieren. Freitag nachmittags habe er seine Projektkonzepte im Home Office ungestört vorangetrieben. Damit blieb tagsüber wieder Zeit, um seine Führungsaufgaben wahrzunehmen, die unter seiner allgemeinen Über­lastung zunehmend gelitten hatten.

«Jedes Ding an seinen Platz» lautet ein anderes Ordnungsmotto, das in der Fachwelt unumstritten zu sein scheint: So plädieren alle drei Experten dafür, Akten, Ordner und Arbeitswerkzeuge an einem festen Ablageort zu verstauen und zwar immer am selben. «Damit entlastet man sein Hirn und erspart sich viel Stress», sagt Sibylle Jäger.

«Viele Leute sind andauernd damit beschäftigt, sich in Erinnerung zu rufen, wo sich welche Sachen befinden, anstatt sich mit den anstehenden Aufgaben auseinanderzusetzen.»

Eine einmalige Aufräumaktion zu starten oder dauerhaft Ordnung zu schaffen, ist nicht dasselbe: Die Tücken liegen in den sich ansammelnden Papierbergen. Deshalb gilt es, die Papierstapel immer im Auge zu behalten und mindestens einmal im Jahr gründlich aufzuräumen: «Für jedes Neue muss etwas Altes verschwinden», sagt Christa Beer. Es gelte, den Status Quo aufrecht zu erhalten. «Am Schluss dürfen keine unbearbeiteten Dinge mehr herumliegen, sonst funktioniert das Ordnungssystem langfristig nicht.» Für Willy Knüsel hingegen ist die Papiersammelgrenze spätestens dann erreicht, wenn sowieso keine Zeit da ist, um das angestaute Lesematerial durchzuarbeiten.

Für welche Methode man sich auch entscheidet: Das System muss zum Menschen passen, akzeptiert und machbar sein: «Wie viel Freiheit ein Mitarbeitender bei der Arbeitsplatzgestaltung hat, hängt sehr stark von der Unternehmenskultur und von den Rahmenbedingungen ab», sagt Sibylle Jäger. Dass aber viel mehr veränderbar ist, als man anfänglich glaubt, bestätigt auch das Happy End der Geschichte des IT-Projektleiters, der in wenigen Schritten seine Arbeitsorganisa­tion umgekrempelt hat.

Buchtipp

Christa Beer: Bermuda-Dreieck Schreibtisch, Südwest Verlag, 2005, 128 Seiten.

Der Schreibtisch ist ein Bermuda-Dreieck, ein geheimnisvolles Gebiet, in dem Schriftstücke und anderes auf unerklärliche Weise verschwinden. Gerade waren sie noch da, schon sind sie von der ­Arbeitsfläche ­verschluckt. Das Buch ­Bermuda-Dreieck Schreibtisch hilft, Verschwundenes wieder sichtbar zu machen und zeigt mit zahlreichen Checklisten Wege aus dem Chaos auf.

 

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

Weitere Artikel von Corinne Päper

Cela peut aussi vous intéresser