Im Gespräch

Talent Management ist in der 
Unternehmensführung angekommen

Gefragt nach den wichtigsten Herausforderungen eines Unternehmens, antworten viele Führungskräfte derzeit mit «Fach­kräftemangel», «Kompetenzen erkennen und Leistungsträger fördern», «Nachfolge planen» oder schlicht mit dem Oberbegriff 
«Talent Management». Einige Unternehmen haben darauf reagiert und Talent Management auch als Position in ihrer 
Organisa­tion verankert – nicht mehr nur als eine Domäne des Personalbereichs, sondern als General-Management-Thema.

Der Begriff Talent Management wird durchaus unterschiedlich interpretiert: Er ist vielseitig – und damit teilweise auch unpräzise. Eine Vielzahl der Unternehmen reduziert 
Talent Management auf erweiterte Führungskräfte-Entwicklung. Andere sehen hier die erweiterte Personalbeschaffung. Die aus unserer Sicht richtige, kombinierte Sicht auf Personalbeschaffung und -entwicklung ist zumindest im deutschsprachigen Raum noch wenig verbreitet, wie eine Studie der FH Wiesbaden (Prof. Dr. Wolfgang Jäger, Vortrag beim Jahresforum Personal & Wirtschaft 2007) zeigt.

Auch Anbieter von HR-Software haben die Zeichen der Zeit erkannt. Kaum ein System, das nicht als «Talent Management Suite» bezeichnet wird. Dabei unterscheiden sich Verpackung und Inhalt oft stark voneinander, auch hier ist der Begriff mehr als ungenau: Talent Management ist alles und nichts – sowohl 
E-Recruiting-Systeme als auch Lösungen für Performance Management oder für betriebliche Weiterbildung werden unter diesem Label verkauft. Tatsächlich gibt es bisher kaum einen Systemanbieter, der ein durchgängiges Talent Management unterstützen kann.

Um der Beliebigkeit der Nutzung des Begriffs eine klare inhaltliche Beschreibung entgegenzusetzen, kann man ihn aus den Erfahrungen unterschiedlicher Projekte wie folgt definieren:
Talent Management bedeutet grundsätzlich, Schlüsselpositionen im Unternehmen mit Leistungsträgern stabil zu besetzen.

Damit beinhaltet ein ganzheitlich verstandenes Talent Management alle zur Erreichung dieses Ziels nötigen Einzel-Aufgabenstellungen und Prozessanforderungen:

  • 
Identifikation: Die grundsätzliche Verfügbarkeit leistungsstarker und -bereiter Mitarbeitender muss sichergestellt werden (intern und extern).
  • 
Beurteilung: Bei der Beurteilung von Leistung und Potenzial ist eine hohe Validität Voraussetzung für den Erfolg der nachgelagerten Talent-Management-Prozesse.
  • 
Gewinnung: Die identifizierten Talente innerhalb und ausserhalb des Unternehmens müssen gewonnen und an das Unternehmen gebunden werden.
  • 
Entwicklung: Das persönliche Potenzial der Leistungsträger muss genutzt und zielgerichtet weiterentwickelt werden.
  • 
Integration: Damit die Synergien von Talent Management nicht durch eine Einzelbetrachtung der Komponenten verschenkt werden und entscheidend wirken können, müssen die Faktoren Identifikation, Beurteilung, Gewinnung und Entwicklung zu einer integrierten Aufgabe der Unternehmensführung zusammengefügt werden.

Talent Management als grundlegende Philosophie

Talent Management ist mehr als ein neues – wenn auch integriertes – Personalinstrument. Entscheidend ist der direkte Bezug zur Unternehmensstrategie.

Hat sich beispielsweise ein Automobilhersteller zum Ziel gesetzt, den eigenen Marktanteil durch den Verkauf von Fahrzeugen mit alternativen Antriebssystemen zu erhöhen, stellen sich ganz neue Anforderungen an die benötigten Berufsbilder. Das Unternehmen benötigt dann für Wasserstoff-,  Hybrid- oder Elektroantriebe zusätzlich zu den klassischen Motorenentwicklern für Otto- oder Dieselaggregate auch Chemiker oder Elektrotechniker, um entsprechende Motoren bauen zu können. Sind diese Spezialisten im Unternehmen nicht vorhanden und sind sie auch nicht in angemessener Zeit zu beschaffen, kann das Unternehmen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Unternehmensstrategie bekommen.

Gutes Talent Management erkennt diese Trends frühzeitig und versorgt das Business durch strategische Personalgewinnung und Entwicklung mit den benötigten Ressourcen. Talent Management setzt damit genau bei den Wechselwirkungen zwischen Unternehmensstrategie und Personaleinsatz an und muss somit eng in die Planung der Unter
nehmensziele eingebunden sein. Funktioniert dies gut und stehen die benötigten Qualifikationen immer rechtzeitig zur Verfügung, wird der Wertbeitrag von HR als Stellschraube besonders deutlich. Leider setzt sich diese 
Erkenntnis in der Praxis häufig erst dann durch, wenn der Beitrag nicht geleistet wird: In der jüngeren Vergangenheit ist hierfür vor allem das Beispiel Airbus in Erinnerung geblieben: Als Verzögerungen bei der Auslieferung des neuen A380 offenkundig wurden, stand vor allem Missmanagement bei der 
Beschaffung der benötigten Ingenieure und Fachkräfte im Mittelpunkt der Kritik.

Dabei – und das machen die Beispiele deutlich – liegt der Fokus für Talent Management immer auf Schlüsselzielgruppen beziehungsweise besonderen Leistungsträgern. Der Talent-Management-Prozess ist, wie oben beschrieben, zwar eine aufwändige Integration verschiedener Einzelprozesse, beschäftigt sich aber immer nur mit jenem Teil der Mitarbeiter, der für die Umsetzung der Geschäftsstrategie kritisch ist. Diese Art der Differenzierung ist in Europa noch nicht verbreitet und steht häufig im Ruch der negativ angehauchten «Elitenbildung» – der amerikanische HR-Experte Dave Ulrich bezeichnet dies als «Equality versus Equity». Amerikaner haben weit weniger Mühe zu akzeptieren, dass bestimmte Zielgruppen in höherem Mass zum Geschäftserfolg beitragen als andere, und setzen dies konsequent in ihren Personal
instrumenten um.

Beispiel Microsoft: Microsoft integriert bereits seit Jahren konsequent Personalbeschaffung und -entwicklung. Die Grundlage hierfür bilden durchgängige Karrieremodelle und ein einheitlicher Kompetenzkatalog. Talent Management ist zudem fest in der Unternehmenskultur verankert und direkt mit den definierten Unternehmenswerten verbunden. Die Verantwortung für die Umsetzung von Talent Management liegt bei Microsoft per Definition nicht nur beim HR-Bereich, sondern ganz bewusst auch beim Top Management der Linie. Die Zielgruppenfokussierung  ist unter anderem hinsichtlich demografischer Belange ausgerichtet: Massnahmen werden spezifisch für die jeweiligen Mitarbeitergenerationen (Traditionalisten, Baby Boomers, Generation X, Generation Y) definiert.

Beispiel Google: Google ist ein Pionier der Zielgruppenfokussierung. Das auf hohen Personalbedarf ausgerichtete Recruiting beispielsweise ist hinsichtlich der benötigten fachlichen Anforderungen segmentiert (Mitarbeitende Technik, Mitarbeitende Vertrieb etc.). Zusätzlich – und das ist das Besondere – ist der Prozess auf Direct Sourcing und den Aufbau von langfristigen Beziehungen zu Talenten ausgerichtet. Dazu hat Google zusätzlich zu den Recruitern eine eigene Research- und Sourcing-Abteilung eingerichtet, die spezifische Quellen und Zielunternehmen recherchiert, Talente identifiziert und an echte Direktansprache-Spezialisten (interne Personalberater und Vertriebsprofis) weiterleitet, die interessante Kandidaten kontaktieren. Google setzt zudem ganz bewusst auf die Aussenwirkung der guten Arbeitsbedingungen, kommuniziert diese gezielt und kombiniert so relativ unaufwändig Recruiting und Employer Branding mit der Bindung der eigenen Mitarbeitenden.

Auch weil ein voll integriertes Talent Management in den wenigsten Unternehmen ad hoc zu implementieren sein wird, benötigt Talent Management in jedem Fall frühzeitig die 
organisatorische Anbindung an die klassischen HR-Kernprozesse wie Recruiting, Nachfolgeplanung, Performance Management, Kompetenzmanagement, Talent Review, Personal- und Führungskräfte-Entwicklung, Personalmarketing, Talent Relationship 
Management (TRM) und Vergütung. Massenprozesse müssen dabei zunächst effizient gemacht werden, um Zeit und Budget für die Talente zu gewinnen. Der Beginn einer Talent- Management-Initiative kann damit durchaus die Optimierung und Differenzierung des Recruitingprozesses sein. Die Kriterien zur Identifikation von Talenten – abhängig von der Unternehmensstrategie – erhalten damit in der Regel bereits Einzug in die Organisation. Mit der Ausrichtung auf schlecht verfügbare Zielgruppen wird in Kombination mit einer guten Kommunikationsstrategie Wertschätzung nach innen und aussen transportiert, was die Akzeptanz und Wirksamkeit von Massnahmen steigern kann.

TRM ist ein Querschnittsthema

Talent Management beinhaltet immer die 
fokussierte Auseinandersetzung mit internen und externen Kräften, was je nach Strategie auch Freiberufler, Zeitarbeiter oder externe Dienstleister/Berater einschliessen kann. Kritische Positionen können grundsätzlich von innen oder aussen besetzt werden – was 
ökonomisch sinnvoller ist, hängt immer von den Rahmenbedingungen des Unternehmens und der Zielgruppe ab. Wer sich jedoch nur auf interne oder nur auf externe Kandidaten beschränkt oder die Stossrichtungen unabhängig voneinander betrachtet, kann nie eine Gesamtsicht der Situation erreichen.

Beispiel Succession Management: Die Nachfolgeplanung im Top Management ist ein gutes Beispiel für die häufig realisierte Verzahnung von interner Entwicklung und externem Recruiting. Die meisten Unternehmen besitzen für Vorstandspositionen bereits Nachfolgelisten, auf denen häufig neben internen Kandidaten auch Führungskräfte anderer Unternehmen zu finden sind. Gelingt es Unternehmen, diese Philosophie auf alle kritischen Positionen zu übertragen, ist dies sehr nahe an der Philosophie eines ganzheitlichen Talent Management.

Nicht nur hinsichtlich der Zielgruppen ist Talent Management übergreifend, sondern auch bei der Durchführung ein Querschnittsthema und braucht daher die Mitarbeit von Management, Linie, HR und Mitarbeitern/Kandidaten. Gerade die Einbindung der Fachbereiche ist unabdingbar, hat er doch die grösste Nähe zu internen und zum Teil sogar externen Talenten. Gerade in sehr speziellen Zielgruppen haben es die Personalbereiche sehr schwer, enge Bindungen aufzubauen: Von Spezialist zu Spezialist ist dies häufig kein Problem, meistens können sogar bestehende Verbindungen in Richtung Talent Management genutzt werden.

Viele Unternehmen nutzen dies punktuell, etwa bei Karrieremessen, zu denen Fachexperten mitgenommen werden. Wird diese Philosophie ausgebaut, ist dies ebenfalls ein Schritt zu übergreifendem Talent Management. So können Fachkräfte über die Teilnahme an weiteren Events, Seminaren oder Kongressen auch in längerfristige Relationship-Management-Massnahmen mit dem Ziel der Personalgewinnung eingebunden werden.

Der Weg zum Talent Management

Wenn ein Unternehmen heute am Anfang seiner Talent-Management-Bemühungen steht und die Vorgehensweise planen will, sollte es einige Themen im Sinne einer «Talent Management Roadmap» beachten:

  • 
Ausgangspunkt ist zunächst die Entwicklung einer Talent-Management-Strategie. Dabei muss die Unternehmensleitung eingebunden sein, um die Verbindung zu den Unternehmenszielen sicherzustellen. Das Management setzt dabei auch den Rahmen für die Ausrichtung der HR-Instrumente und bestimmt, in welchem Umfang Talent Management die Organisation und Kultur verändern soll.
  • 
Die Talent-Management-Strategie sollte 
Impulse geben, beispielsweise den Kundengedanken etablieren, Differenzierung schaffen oder den Weg von reaktivem zu aktivem Vorgehen weisen. Sie sollte in die Zielvereinbarung für Führungskräfte 
einfliessen, um Talent Management als 
Bestandteil der Führung zu verankern.
  • 
Organisatorische Basis – und damit häufig ein erster Anknüpfungspunkt für die 
Integration – ist in der Regel ein zentrales Skill-/Kompetenzmodell als gemeinsame Grammatik aller HR-Kernprozesse, möglichst verbunden mit einer abgestimmten Jobarchitektur.
  • 
Als weitere Komponente verschafft eine strategische Personalplanung Klarheit über den Bedarf an Mitarbeitenden in den kritischen Zielgruppen. Abgeleitet davon können Bedarfsdeckungsstrategien entwickelt werden, die je nach Zielgruppe und Unternehmenssituation Personalbeschaffungs- oder Personalentwicklungsinstrumente 
erfordern. Diese können dann sukzessive 
realisiert, kombiniert und auf die be
nötigten Zielgruppen ausgerichtet werden.

Mit Hilfe einer solchen Roadmap werden die Voraussetzungen für Talent Management in der Organisation geschaffen und bestehende Instrumente in den Zusammenhang eingeordnet. Darauf aufbauend können Initiativen gestartet werden, um die Strategie in Prozesse, Massnahmen und Systeme umzusetzen. Mit einer solchen Basis kann vermieden werden, was heute in vielen Unternehmen Praxis ist: parallele Initiativen, die unsynchronisiert sind und zu isolierten Personalinstrumenten führen. Eine konsequent umgesetzte Talent Management Roadmap dagegen schafft Effizienz in den Massenprozessen und Exzellenz in den talentnahen Prozessen.

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Kai Anderson ist Gründungspartner der Promerit AG. Er verantwortet den Geschäftsbereich Management Consulting. Als Coach und Projektpartner begleitet er in internationalen Organisationen die (Neu-)Ausrichtung des HR-Managements von der Strategie bis zur Umsetzung.
www.promerit.ch

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Michael Eger ist Senior Consultant bei Promerit, verfügt über umfangreiche Erfahrung im internationalen Recruiting- und Personalmarketingbereich und ist Spezialist für Talent Relationship Management.

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