Potenzialanalyse

Toleranz von Ungewissheit: Basiskompetenz für zukünftige Leader

Der Umgang mit Unsicherheit gehört zu den Kernkompetenzen einer Führungskraft. In diesen ungewissen Zeiten ist es bei der Rekrutierung von Führungskräften wichtiger denn je, die Ambiguitätstoleranz einschätzen zu können.

«Nicht nervös werden, es ist ja bloss die Mehrdeutigkeit!» Diese Aufforderung mag in jetzigen Zeiten grosser Veränderungen etwas skurril oder gar grotesk tönen. Wie kann man nur gelassen sein, wenn alles ungewiss erscheint? Mehrdeutigkeit bedeutet Stress, die Komplexität des Arbeitslebens scheint oft die Grenze des mit gesundem Menschenverstand Wahrnehmbaren zu übersteigen. Ein klarer und eindeutiger Überblick fehlt, alles ist mit allem vernetzt und von allem abhängig. Schlimmer noch – die globale Wirtschaft erscheint heute so fragil und verletzlich wie ein Kartenhaus. Ratlosigkeit, Ungewissheit und Hilflosigkeit machen sich vielerorts breit.  Der Umgang mit Mehrdeutigkeit ist individuell geprägt.

Es gibt Menschen (und Kulturen), die mit Unsicherheiten und Unklarheiten in viel stärkerem Mass als andere zurecht kommen müssen. Es sind dies aber auch Menschen, die in Berufen oder Positionen arbeiten, wo Unsicherheit dominiert, beispielsweise bei einem Wertschriftenhändler, der täglich Wertpapiere in dreistelliger Millionenhöhe kauft und verkauft und den die ständige Ungewissheit über Kursentwicklungen begleitet, oder bei einem Manager, der sein Unternehmen durch die Marktturbulenzen und den wachsenden Preis- und Konkurrenzdruck navigiert, ohne das wahre Problem und noch weniger die richtige Lösung genau zu kennen.

Wie machen es diese Menschen nur, dass sie die beschriebenen Situationen meistern können? Ihre Reaktionen und Verhaltensweisen sind durchaus individuell: Einige Menschen reagieren mit Aktionismus oder werden sehr kommunikativ, andere wiederum scheinen den Stress zu bagatellisieren, wieder andere fangen plötzlich mit detaillierter Planung an und gewisse Menschen reagieren mit Passivität. Die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zu meistern, nennt man Ambiguitätstoleranz oder auch Komfortzone. Sie ist eine der wichtigen Basiskompetenzen von Führungskräften, weil Führung immer das Meistern von unsicheren, unklaren, vagen Situationen bedeutet.

Ambiguität im Arbeitsumfeld

Tätigkeiten können auf einem Kontinuum von stabil bis mobil beschrieben werden. Einige Menschen fühlen sich in einem geordneten, strukturierten und stabilen Umfeld wohl. Eine stabile Arbeitsumgebung hat klare Grenzen, viele Parameter bleiben unveränderlich und konstant, und die Arbeit wird hauptsächlich in derselben Umgebung ausgeführt. Andere Menschen wiederum bevorzugen ein mobiles und dynamisches Arbeitsumfeld, welches mit Ungewissheiten, Risiken oder Ortswechsel verbunden sein kann. Solche umgebungsbezogenen Faktoren und das damit zusammenhängende individuelle Wohlbefinden können bei der Stellenbesetzung zum zentralen «Driver» avancieren.

Aus dieser Perspektive betrachtet hat die Arbeitsumgebung selektiven Charakter. Die Leistungsmotivation einer Person, die offen ist für Neues, die Veränderungen, ein dynamisches Umfeld und Abwechslung sucht, würde kaum in einem statischen und überstrukturierten Umfeld richtig zur Geltung kommen. Personen dagegen, welche Konstanz schätzen, fühlen sich in stabiler Umgebung wohl und sollten folgerichtig nicht in einem schnell wechselnden und dynamischen Umfeld eingesetzt werden, da ihre Komfortzone die Selbstverwirklichung nicht unterstützt. Auch für die Organisation würde eine solche Massnahme keinen Mehrwert bringen. Sehr nützlich dagegen kann so ein «Cross-move» sein, wenn dieser als eine Entwicklungsmassnahme im Sinne einer Job Rotation im Rahmen eines Talent-Management-Programms geschieht.

Ambiguitätstoleranz muss gefördert werden

In den heutigen Führungsschulungen werden die unterschiedlichsten Bereiche der Unternehmensführung in lehrreichen Fallstudien behandelt, um die Führungskräfte für ihre anspruchs- und verantwortungsvollen Aufgaben als Entscheidungsträger der Zukunft vorzubereiten. Die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten effektiv umzugehen, ist schwierig zu erwerben. Sie ist eine stabile Grundeinstellung eines Individuums. Zu einem bestimmten Grad ist die Kompetenz in der konkreten Praxis aber lernbar. Die Lebens- und Arbeitserfahrung ist eine wichtige Quelle dieser Kompetenzentwicklung.

Bei der Rekrutierung von Führungskräften ist es also wichtig, deren Ambiguitätstoleranz einschätzen zu können. Sie ist jedoch nicht ganz einfach erfassbar und beobachtbar. Es gibt aber moderne Testmethoden, die die Ambiguitätstoleranz direkt erfassen, wie der Ausschnitt aus einem Testprofil zeigt. Das Konstrukt lässt sich aber auch durch andere Kompetenzen abbilden, wie beispielsweise solche, die die mentale und soziale Agilität, die Offenheit für Neues, Optimismus oder den Umgang mit Komplexität messen.

Heute wissen wir nicht genau, welche Herausforderungen in der Wirtschaft, in der Unternehmensführung oder in Umweltfragen auf uns zukommen. Aber wir haben eine Ahnung davon, welche Kompetenzen die zukünftigen Führungskräfte brauchen, um mit diesen neuen Herausforderungen effektiv umzugehen. In Zukunft werden Führungskräfte mehr und mehr daran gemessen werden, wie flexibel und wendig sie sind, wie kompetent sie mit unterschiedlichen Menschen, Kulturen und Konflikten umgehen. Die Qualität der Entscheidungen und Aktionen werden dabei massgebend sein. Es lohnt sich also, im Umgang mit Führungskräften diesen Aspekt zu beachten – es wird sich auszahlen.

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Harri Eriksson

Harri Eriksson ist Psychologe und Managing Partner von Eriksson & Associates, einem Beratungs- und Coachingunternehmen für internationales Leadership Development in Zürich.

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