Wissenschaft und Praxis

Anomalien verleiten Menschen zu 
rational verzerrten Entscheidungen

Was wir einmal haben, geben wir so schnell nicht mehr her – auch wenn das rational betrachtet die bessere Lösung wäre. 
Dass Menschen in bestimmten Situationen nicht mehr rational entscheiden, liegt an den so genannten Entscheidungsanomalien. Eine Studentengruppe der Universität Zürich untersuchte in unserer Miniserie deren Einfluss.

Menschen treffen tagtäglich Entscheidungen: unbedeutende wie «Was esse ich zum Frühstück?» oder wichtige wie «Bei welchem Unternehmen soll ich arbeiten?». Doch es sind nicht nur die eigenen Entscheidungen, die unser Leben beeinflussen, sondern auch die Entscheidungen anderer. Diese wechselseitige Abhängigkeit besteht naturgemäss auch in Unternehmen. Mitarbeiter treffen Entscheidungen, die Auswirkungen für den ganzen Betrieb haben, Unternehmensleitungen treffen Entscheidungen, die den einzelnen Mitarbeiter beeinflussen. Solange dabei alle rational entscheiden, ist ihr Verhalten vorhersehbar und damit lenkbar. Doch was, wenn Menschen nicht rational denken und handeln?

Tatsächlich tun sie es nicht. Vielmehr sind rational verzerrte Entscheidungen – so genannte Entscheidungsanomalien – eher die Regel als die Ausnahme. So handeln Menschen beispielsweise nach dem Motto «Was ich einmal besitze, gebe ich nicht wieder her» – ein Phänomen, das als Besitztumseffekt (BE) bezeichnet wird. Oder sie sagen: «Ich mache das lieber so wie immer; wer weiss, ob die neue Methode wirklich besser ist» und erliegen damit dem Status Quo Bias (SQ), also der Neigung zum Bestehenden. Auch die Aussage «Das neue Produkt hat uns bisher nur Verluste eingebracht, also müssen wir noch mehr Geld in das Produkt stecken, damit es kein Flop wird» ist irrational und kennzeichnet die so genannte Verlustaversion (VA).

Eintrittspforten für Entscheidungsanomalien im HRM

Die betriebswirtschaftlich negativen Konsequenzen solcher nicht rationalen Entscheidungen können immens sein. Das Beispiel zur Verlustaversion weitergedacht, könnte in einer Unternehmenspleite enden. Fest steht: Wo Menschen sind, können solche Entscheidungsanomalien (EA) auftreten. Für Unternehmen ist es daher wichtig zu wissen, in welchen Situationen das Auftreten besonders wahrscheinlich ist. Daher wurden HR-Experten befragt, in welchen Bereichen ihrer Erfahrung nach Entscheidungsanomalien besonders häufig sind und welche Konsequenzen sich daraus für das HRM ergeben.

Es sollten Eintrittspforten für Entscheidungsanomalien in den folgenden sechs HR-
Bereichen lokalisiert werden: HR-Strategie, Beschäftigung, Beurteilung, Anreizsystem, Entwicklung und Administration. Der Befragung zufolge sind nicht alle HR-Bereiche gleich anfällig für Entscheidungsanomalien: 90 Prozent der Befragten gaben an, dass Entscheidungen im Bereich Beschäftigung besonders anfällig für alle drei genannten Anomalien (SQ, BE und VA) seien.

In allen Bereichen sei insbesondere auf den Status Quo Bias zu achten, da alle Befragten diese Anomalie am häufigsten und bereichsunabhängig beobachtet haben. So würden beispielsweise bei der Neubesetzung von Positionen gern Charaktere oder äussere Merkmale, die dem Charakter oder den äusseren Merkmalen des bisherigen Stelleninhabers entsprechen oder ähnlich sind, bevorzugt. Typisch sei auch, dass sich die aktuelle Leistungsbeurteilung stark an der vorherigen orientiere – etwa nach dem Motto «Wer einmal gut bewertet wurde, der bleibt gut». Eine Aversion gegenüber Neuem zeige sich auch im Verhalten bestehender Mitarbeiter gegenüber neuen: 50 Prozent der Experten beobachteten bereits, dass neue Mitarbeiter, die nicht in das bestehende Gruppenbild passten, von der Gruppe ausgeschlossen wurden, weitere 40 Prozent hielten ein solches Verhalten für sehr wahrscheinlich.

Im Bereich Anreizsysteme wurde der Besitztumseffekt als zentraler Einflussfaktor erkannt: So sollte man es sich vorher lieber zweimal überlegen, bevor man Mitarbeitern eine grosse Lohnzulage bietet. Will man sie später wieder streichen oder kürzen, könnten sich daraus Probleme ergeben, denn ein Schritt zurück ist meist schmerzhaft. Rund 90 Prozent der Experten bestätigten, dass Mitarbeiter auf die Wegnahme von Fringe Benefits mit Unzufriedenheit reagierten. Und zwar auch dann, wenn ihnen dafür ein gleichwertiger monetärer Ersatz geboten wurde.

Entscheidungen im administrativen Bereich wurden eindeutig als am wenigsten anfällig benannt. Die Verlustaversion wurde grundsätzlich nicht als entscheidender Effekt erachtet. Verstärkt auftreten könne sie nach Meinung der Experten im Bereich Entwicklung: So könnte ein Vorgesetzter dazu tendieren, einen fähigen, qualifizierten Mitarbeiter aus Angst, seine eigene Position zu gefährden, nicht zu befördern.

Grössere Komplexität begünstigt verzerrte Entscheidungen

Entscheidungsanomalien scheinen also aus Expertensicht in einigen HR-Bereichen weniger wahrscheinlich zu sein als in anderen – der Beschäftigungs- und der Beurteilungsbereich gelten im Gegensatz zum administrativen Bereich als besonders anfällig. Diese Diskrepanz könnte in der unterschiedlichen Komplexität der Entscheidungen begründet sein, die in diesen Bereichen getroffen werden. Während im administrativen Bereich eher standardisierte Abläufe zu erwarten sind, ist beispielsweise der Beurteilungsbereich durch viele Freiheitsgrade im Entscheidungsprozess gekennzeichnet.

Demnach wächst mit der Komplexität auch die Gefahr von Fehlentscheiden in Folge von Entscheidungsanomalien. Je nachdem, in welchem HR-Bereich diese auftreten und ob auf Seiten der Mitarbeiter oder des Managements, hat das HRM unterschiedliche Möglichkeiten, um den negativen Konsequenzen entgegenzuwirken. So können beispielsweise externe Spezialisten für die Rekrutierung neuer Mitarbeiter beauftragt werden.

Das beste und zugleich günstigste Mittel gegen durch Entscheidungsanomalien hervorgerufene Fehlentscheide ist jedoch, dass sich jeder Entscheidungsträger der Möglichkeit des Auftretens von Anomalien bewusst ist und sein eigenes Verhalten regelmässig daraufhin hinterfragt.

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