HR Today Nr. 5/2022: HR FESTIVAL europe

Mehr Sichtbarkeit

Martin Gaedt nutzt Provokation und Unterhaltung, damit seine Inhalte beim Zuhörenden hängenbleiben. Ein Gespräch über HR-Innovation, langweilige Stellenanzeigen und den Mythos Fachkräftemangel.

Sie nennen sich Provotainer. Was tun Sie genau?

Martin Gaedt: Stellen Sie sich vor: Wenn 300 Menschen vor Ihnen sitzen, muss kein einziger zuhören. Menschen sind zu 100 Prozent mit ihrem Alltag ausgelastet, denken an anstehende Aufgaben im Job, Einkaufslisten, Geburtstagsfeiern und den letzten Sex. Mit genau dieser Fülle an Gedanken konkurrieren Seminare und Vorträge. Provokation und Unterhaltung führen deshalb dazu, dass Inhalte hängenbleiben. Ich überrasche mit erstaunlichen Fakten und Entwicklungen, steige auf Leitern. Zusammen sprechen wir den Schwur der Spinner.

«Rock Your Work» ist Ihr neuestes Buch. Was wollen Sie mit dem Titel sagen?

Rocken bedeutet für mich, in Bewegung zu kommen, anzupacken und die Arbeit so zu gestalten, dass sie passt. Mit 461 Beispielen zeige ich, wie Menschen und Firmen ihre Arbeit rocken. Das sind 461 gute Nachrichten, die jeder kopieren kann.

Das tönt positiv, aber auf die gesamte Arbeitswelt gemünzt, ist das ein Bruchteil...

Das stimmt leider. Aktuell sind 17 Millionen Erwerbstätige in Deutschland wechselwillig, also 37,5 Prozent. Das wird in der Schweiz ähnlich sein. Die Gründe dafür liegen bei den aktuellen Arbeitgebenden, bei mangelnder Wertschätzung, ungelösten Konflikten und unterschiedlichen Lohnvorstellungen.

Was können Unternehmen dagegen unternehmen?

Arbeit muss regelmässig ausgemistet werden, sonst wird sie hirntötend und überfordert den Einzelnen. Wer hat schon mal Wasser in ein volles Glas gegossen? So wie das Glas überläuft, läuft unsere Arbeit über, wenn immer mehr dazu kommt. Wer 100 Prozent ausgelastet ist, hat keinen Platz für Neues – auch nicht für eine Veränderung oder ein spannendes Recruiting. Mein Rat ist deshalb: streichen. Veränderung gelingt nicht im Zu-viel-von-allem-Erstickungstod, sondern braucht freien Platz. Streichen wirkt auch in der Personalgewinnung kreativ und schafft Raum. Bewerbende haben Ansprüche wie beim Online-Shopping. Das bedeutet, komplizierte Bewerbungsverfahren auszumisten, da die besten Bewerberinnen und Bewerber ein Online-Bewerbungsverfahren abbrechen, weil es zu lange dauert.

«Schluss mit langweiligen Stellenanzeigen, Standardfragen im Bewerbungsgespräch und eingefahrenen Hierarchien – Recruiting braucht ein Umdenken voller Kreativität, Ideenfitness, Mut und Provotainment.» Was heisst das konkret?

Ein Beispiel? Der Postbote klingelt. Sie bekommen ein Päckchen, allerdings ist Ihnen der Absender unbekannt. Weil es Sie anlächelt, reissen Sie es auf. Darin liegt ein Modell des neuesten Smartphones. Darunter klebt ein Post-it: «Rufen Sie uns an, wir sind Ihr neuer Arbeitgeber.» Die Bewerbung wurde kreativ umgedreht. Statt passiv auf Bewerbungen zu warten, recherchierte diese Firma, wer zu ihr passt, und überraschte die interessantesten 20 Personen mit diesem Päckchen. Letztlich sagten fünf von zwanzig zu. Somit waren die Kandidaten bereits durch die Vorauswahl als sichere Volltreffer qualifiziert. Fakt ist: Die wenigsten Wechselwilligen suchen aktiv nach neuen Arbeitgebenden. Sie spüren keinen Zeitdruck und warten auf ein besseres Angebot. Daher sind umgedrehte Bewerbungen sehr wirkungsvoll. Das setzt allerdings voraus, dass Firmen wissen, wer interessant für sie ist.

Innovationen und Ideen von HR-Seite seien gut, wenn sie nicht von der Linie, den Vorgesetzten torpediert würden. Wie kann HR sich durchsetzen?

Einfach machen und die Fakten sprechen lassen. So kaufte eine Personalleiterin mit ihrem Budget Heavy-Metal-Tickets für das Wacken-Festival. «Wir verlosen unter allen Bewerbungen Tickets», stand in der nächsten Stellenanzeige. Es kamen bessere Bewerbungen denn je, da die Tickets längst ausverkauft waren. Risiko: Ticketkosten. Ein zweites kreatives Beispiel: Ein Unternehmen suchte händeringend nach 30 Elektrikerinnen und Elektrikern. Sie fragten sich: Wo treffen wir diese garantiert? Die Antwort: in den Baumärkten der Region. Dort hinterlegten die HR-Verantwortlichen zwischen Kabelbindern folgende Zettel: «Suchen Sie eine Arbeit im Trockenen? Kommen Sie zu uns!» Viele schweissgebadete oder nassgeregnete Facharbeitende, die von der Baustelle kamen um Kabelbinder zu kaufen, bewarben sich. Innerhalb von 15 Tagen wurden 30 Stellen besetzt. Kosten dieser Werbekampagne: 2000 Schwarz-Weiss-Kopien. Spannend ist auch dieser Ansatz: Müssen Buchhalter überzeugende Bewerbungen schreiben können oder im Bewerbungsgespräch glänzen? Nein! Kernkompetenzen sind Gründlichkeit und Ehrlichkeit. Eine Firma hat auch hier die Bewerbung umgedreht. Wurden Rechnungen bezahlt, überwiesen sie jeweils drei Cents zu viel. Wer ruft an oder mailt? Wer ist so gründlich und meldet die Differenz? Wer anrief, bekam ein Jobangebot. Einsatz der Firma: wenige Euros.

Braucht HR mehr Selbstvertrauen?

Es braucht vor allem mehr Sichtbarkeit. HR kann sich viel beim Vertrieb abschauen – beispielsweise durch die aktive Kundenansprache und wie sie als Firma sichtbar werden. Die meisten Unternehmen kennt ja keiner. Das Unternehmen Glaser Sterz filmte sich beispielsweise auf den Baustellen und steigerte mit diesen Videos seine Bekanntheit auf Facebook. Ihr Video zur Lernendensuche 2018 ging viral: Diverse Zeitungen berichteten. So konnte Herr Sterz unter vielen Bewerbungen drei Lernende auswählen. Um sichtbar zu werden, können Unternehmen auch Jobpartys veranstalten. Schon das Wort Party löst Begeisterung aus, anders als Bewerbungsverfahren oder Vorstellungsgespräche. So feierte eine Tischlerei ihre Jobparty in Baumhäusern. Eine Kfz-Werkstatt lud zum Carrera-Wettrennen in der Werkshalle ein. Oder wie wäre es mit einem Radtour-Recruiting? Unternehmen laden Menschen ein, die gerne Radfahren und ein passendes berufliches Profil haben. Zeigt sich auf der Radtour, dass jemand zum Unternehmen passt, bekommt er oder sie ein Job-Angebot.

Wer sucht, der findet?

Warum ist Fachkräftemangel nicht so peinlich wie Kundenmangel? Über Kundenmangel klagt keiner öffentlich. Warum? Fachkräftemangel ist nichts anders als ein Kundenmangel, nur mit einer besonderen Zielgruppe. In beiden Fällen geht es um ein Angebot, um das Marketing und den Vertrieb. Unternehmen, die vergeblich nach Fachkräften suchen, sollten überlegen, ob ihr Angebot attraktiv ist, ihre Unternehmenskultur magnetisch anzieht, sie auf Bewerbungen schnell und wertschätzend reagieren und ihre Suche den neuen Rahmenbedingungen angepasst ist. Über Fachkräftemangel wird seit 1984 geklagt. Tatsächlich gibt es einen absoluten Rekord an Fachkräften, gar einen Fachkräfte-Reichtum im DACH-Raum in absoluten Zahlen, aber die arbeiten halt vielleicht woanders.

Was tun?

Die wichtigste Frage: Wisst Ihr, wer sich nicht bei euch bewirbt? In allen Branchen und Unternehmen: immer die Mehrheit. Die Mehrheit potenzieller Fachkräfte hat sich noch nie in einer Firma beworben. Somit liegt der Ball beim Unternehmen, für Bewerbungen zu sorgen.

Was wünschen Sie sich für das HR der Zukunft?

Mehr gegenseitige Wertschätzung und Respekt. Unternehmerinnen und Unternehmer, die mutig etwas machen und ein Risiko eingehen, bekommen zu wenig Anerkennung für ihre Leistung, Arbeitsplätze zu schaffen. Gleichzeitig vermissen viele Angestellte den Respekt ihrer Vorgesetzten. Zudem: Personalgewinnung geht kreativer und günstiger. Das Rocken der Work ist trainierbar. Diese Erkenntnis wünsche ich mir für HR.

Zur Person

Martin Gaedt ist Provotainer, Unternehmer, Keynote­ Speaker und Autor der Bücher «Mythos Fachkräftemangel», «Rock Your Idea» und «Rock Your Work».

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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