Ulrich von Känel
Die Vorteile älterer Arbeitnehmer muss man doch ausnützen – man wird ohnehin schon häufig genug als «für den Arbeitsmarkt nicht attraktiv genug» taxiert. Zwar ist das Alter keine Qualifikation für oder gegen eine bestimmte Tätigkeit, doch habe ich als Recruiter erst ab einem bestimmten Alter genügend Lebenserfahrung, um mein Gegenüber als Mensch, als Persönlichkeit und als Charakter richtig einzuschätzen.
Es braucht einfach ein gewisses Alter, um mit der nötigen Gelassenheit und Seniorität auftreten zu können. Nur jahrelange Erfahrung lehrt mich, zwischen den Zeilen zu lesen und im Gespräch auf Zwischentöne zu hören. Und nur selbst gemachte oder beobachtete Fehler und Niederlagen bewahren mich davor, diese zu wiederholen oder andere in die gleichen Fallen treten zu lassen. Was zwischen Menschen funktioniert und nicht funktioniert, ist keine exakte Wissenschaft, sondern hat sehr viel mit ausprobieren zu tun. Die Erkenntnis, welche Menschen in welcher Lebenssituation zusammen ein erfolgreiches Team abgeben, oder welcher Bewerber sich als Vorgesetzter für das bestehende Team eignet, kommt aus der Erfahrung heraus und nicht aus «übereinstimmenden Merkmalen der Persönlichkeitsprofile».
Ich brauche Erfahrung – und die nicht zu knapp –, um mich in mein Gegenüber hineindenken und hineinfühlen zu können und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für die Stellenbesetzung zu treffen. Nur das Wissen um den perfekten Rekrutierungsprozess wird mir nicht helfen, diesen gewinnbringend in der Praxis anzuwenden. Wie will ich aus der Vielzahl von möglichen Fragen die richtigen stellen, wenn mich nicht mein Gespür und meine Erfahrung leiten, wo ich die Prioritäten legen soll? Oder glaube ich, dass ich mit der Frage zu Stärken und Schwächen ein komplettes Bild des Bewerbers erhalte? Wird etwa behauptet, Recruiting sei nur das konsequente Anwenden von Persönlichkeitstests und das Durchführen von strukturierten Interviews, die dann in eine Excel-Tabelle münden, wo eine Zahl ausgespuckt wird, die mir anzeigt, welchen Bewerber ich zu wählen habe?
Glaubt wirklich jemand, dass die Arbeit als Recruiter zukünftig von Apps durchgeführt werden kann und dass die industrielle Revolution den Menschen in diesem Bereich überflüssig macht? Voraussetzung für alles soeben Geschriebene ist natürlich, dass ich mein Leben wirklich dazu nutze, um mir Weisheit angedeihen und nicht einfach die Zeit verstreichen zu lassen. Die Früchte, die mir das Leben schenkt, muss ich auch aktiv ernten und ich darf nicht erwarten, dass sie mir mühelos in den Schoss fallen. Ein selbstkritischer und reflektierender Umgang mit mir selbst ist unabdingbar für eine Reife, die nur mit dem Alter kommt. Offen bleibt nur die Frage, wie ich denn all diese Erfahrungen als Recruiter sammeln kann, wenn ich nicht schon mit 20 damit beginne.
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