Die Stimmgeräusche aus dem Computerlautsprecher erinnern an eine Audio-Aufnahme in ultrahoher Fastforward-Geschwindigkeit: «Wenn ich es im Normaltempo laufen lasse, geht es mir mit der Zeit auf die Nerven», sagt Gianluca Stoob (17), während er die Screen-reader-Software auf seinem Computer demonstriert. Stellt der Informatik-Lernende der Sonova AG diese Software auf normales Tempo ein, versteht man auch als Ungeübter die Stimme, welche die Textzeilen wiedergibt, die auf seinem Bildschirm erscheinen. Gianluca Stoob kann diese Zeilen nicht lesen. Er ist blind. Für die Sonova kein Hinderungsgrund, ihn als IT-Talent zu engagieren und entsprechend zu fördern.
Auch Corina Jaussi wurde von ihrem Lehrbetrieb als ausserordentliches Talent identifiziert und entsprechend umworben. Die Website der Noser Young Professionals AG (NYP) trug zu ihrer Entscheidung bei, sich für eine Ausbildung zu bewerben. Sie verglich die NYP-Webseite mit der anderer Lehrstellenanbieter. Dabei fiel ihr auf, «dass bei NYP ein weniger grosser Zeitdruck herrscht als bei anderen Firmen». Bei NYP hat das System: Lernende sind schon sehr früh an Projekten beteiligt, und das gefiel ihr. Der moderate Zeitdruck hat damit zu tun, dass «Informatik komplex ist, und da dauert es schon eine gewisse Zeit, bis Lernende produktiv arbeiten können», erklärt Adrian Krebs, Geschäftsführer der Noser Young Professionals und verweist auf Maurer- oder Bäckerlehrlinge, die bereits vom ersten Tag an produktiv sein können und müssen.
Neue Wege der Nachwuchsförderung
So verschieden die Ausgangslagen bei Gianluca Stoob und Corina Jaussi sind, so haben ihre Arbeitgeber eines gemeinsam. Sie gehen neue Wege bei der Suche nach jungen Talenten: Die 2010 gegründete Noser Young Professionals AG ist ein eigens für die Ausbildung gegründetes eigenständiges Unternehmen, das einerseits Lernende für die Verbundsfirmen der Noser Gruppe ausbildet, andererseits mit diesen produktive Dienstleistungen erbringt – auch für externe Kunden.
Die Sonova AG ist derweil bereit, für Lernende mit einem Handicap ihre Infrastruktur anzupassen. «Junge Menschen bringen inspirierende Ideen mit, und die Fachabteilungen brauchen gute Leute, darum engagieren wir uns sehr in der Nachwuchsförderung», erklärt Sarah Kreienbühl, Group Vice-President Corporate HRM & Communications bei der Sonova AG. Eine Behinderung des Lernenden ist dabei nebensächlich. Beim weltweit führenden Anbieter von Hörsystemen qualifizieren folgende Kriterien junge Talente für einen Ausbildungsplatz: «Motivation, Interesse, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, und gute Noten», erklärt Kreienbühl. All das habe Gianluca Stoob mitgebracht. «Er ist ein IT-Talent und hat uns durch sein Fachwissen, seine Zielstrebigkeit und seine offene Persönlichkeit beeindruckt. Das wollen wir fördern.»
Unterschätztes Potenzial
Entsprechend war Sonova auch bereit, für ihr Nachwuchstalent in die Infrastruktur zu inves-tieren. Screenreader-Software und eine zusätzliche Braille-Zeile für den Computer am Arbeitsplatz waren ein erster Schritt. Um Gianluca Stoob auch die selbständige Bewegungsfreiheit im Gebäude am Hauptsitz in Stäfa zu erleichtern, hat seine Arbeitgeberin zwischen den einzelnen Arbeitsstätten, den Büros und der Cafeteria ein taktiles Leitsystem eingeführt. Weitere Modifikationen sind notwendig, «denn diesen Sommer wird ein Lernender mit körperlichem Handicap seine Ausbildung bei uns beginnen», so Kreienbühl. Ein Engagement, das bei Sonova Tradition hat: Bereits 2015 hat man – nicht zum ersten Mal – einen Lernenden mit Hörverlust eingestellt.
Welche Voraussetzungen müssen für ein solches Engagement gegeben sein? «Es braucht eine gute Planung, ausserdem ist die Einbeziehung und eine enge Zusammenarbeit mit dem Umfeld sehr wichtig», erklärt Kreienbühl. «Unsere Ausbilder wurden fachlich geschult, damit sie optimal auf die Lernenden eingehen können. Ausserdem haben wir auch unsere Ausbildungsmaterialien entsprechend angepasst.»
Die Erfahrungen hätten jedoch gezeigt, dass die Anstellung Lernender mit Handicap einen positiven Einfluss auf die Kultur und die Stimmung unter den Mitarbeitenden habe: «Sie bringen wertvolle Impulse und der soziale Zusammenhalt im ganzen Unternehmen wird gefördert. Das Potenzial von Lernenden mit Handicap ist viel höher, als manche vielleicht vermuten», so Kreienbühl.
Praxis statt «Simulationswerkstatt»
Während Lernende bei der Sonova AG einen kleinen Teil der Belegschaft ausmachen, stehen bei der Noser Young Professionals AG sieben festangestellte Mitarbeitende 59 Lernenden gegenüber. «Unser Modell ist keine Simulationswerkstatt. Dozenten an einer Hochschule sind eher Theoretiker, unsere Ausbilder hingegen vereinen Theorie und Praxis, das motiviert und kommt den Lernenden entgegen», erklärt Adrian Krebs. «Bei uns sollen die Lernenden schon im ersten Jahr einzelne Arbeiten in den Verbundsfirmen übernehmen können.» Dabei sei die benötigte Arbeitszeit sekundär. «Das Aufsetzen einer Website dauert im Normalfall eine Woche. Wenn wir es durch einen Lernenden machen lassen, dauert es vielleicht zwei Monate – dafür besteht für die Lernenden auch weniger Zeitdruck.» Habe es ein externer Kunde jedoch eilig, übernehme einer der festangestellten und ausgebildeten Ingenieure den Auftragsabschluss.
Weitere Vorteile des Modells sieht NYP-Geschäftsführer Adrian Krebs im Mehrwert, der für die Nachwuchsplanung der Verbundsfirmen innerhalb der Noser Gruppe geschaffen werde: «Gerade beim Recruiting neuer Mitarbeitenden sind die Kosten für die Verbundsfirmen sehr hoch», erklärt Krebs. «Viele NYP-Lernende bleiben nach der Ausbildung der Gruppe als ausgelernte Fachleute erhalten.» So herangezogene Nachwuchsmitarbeitende seien flexibler einsetzbar und bereits mit der Unternehmenskultur und den Arbeitsvorstellungen vertraut – im Gegensatz zu extern rekrutierten Mitarbeitenden. «Fast 100 Prozent unserer Lernenden können wir nach der Ausbildung einen Job anbieten», erklärt Krebs.
Non-Profit-Inhouse-Ausbildung
Das Ausbildungsmodell der Noser Gruppe bringt hohe Kosten mit sich. «Daher brauchen wir Projekte, um Einnahmen zu generieren», erklärt Krebs. Zwar biete man im Rahmen des sozialen Engagements auch kostenlose Projekte an, sei aber auch auf zahlende Kunden angewiesen. Inzwischen bietet NYP als weitere Einnahmequelle das Basislehrjahr auch externen Unternehmen an: «Sechs Firmen haben das Angebot bereits angenommen – darunter auch Coop/Interdiscount – und wir hoffen, dass es demnächst acht sein werden», so Krebs.