Recruiting Guide 2017

Potential 45+ – Wo künstliche Intelligenz an Grenzen stösst

55+, 50+, 45+ – immer früher erfahren Arbeitsuchende, dass sie zu den Älteren, weniger Gefragten gehören. Überzeugt, dass Erfahrungen im Fachbereich, der Führung und im Teaming wertvoll sind und ihr «Vermögen» darstellen, fühlen sich Bewerber diskriminiert von Absagen auf Positionen, für welche sie sich mehr als 100 Prozent befähigt glaubten. – Alles nur eine Fehlinterpretation?

«Unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital», «Bei uns trägt jeder Einzelne entscheidend zum Erfolg bei», «Am Anfang stehen unsere Mitarbeitenden», «Als Mitarbeitende sind Sie ein wichtiger Teil von uns» – so beschreiben sich Firmen auf ihrer Karriereseite. Die Recruiter tragen demnach eine riesige Verantwortung, entscheiden doch sie als Erste bei einer Bewerbung über das Rechts (go) oder Links (no-go). Innert weniger Minuten machen sie eine Triage, ob Bewerbende das Potential für einen Vermögenszuwachs darstellen oder nicht.

Recruiter sind Systemen überlegen

Eine Umfrage bei Personalverantwortlichen durch P-Connect* hat ergeben, dass die Mehrheit für eine erste Triage 3-5 Minuten aufwendet. Wirklich unpassende Bewerbungen können sogar innert 1 Minute aussortiert werden. HR Business Partner und Recruiter kennen die gesuchten Profile, die fachliche und soziale Umgebung einer Position. Sie erleben die Mitarbeitenden im Alltag und lernen die Fach- und Führungsthemen kennen. Mit diesem Hintergrund beurteilen sie Aussagen in Bewerbungen gesamtheitlicher und in Zusammenhängen, erkennen Mehrwerte, welche im Jobprofil bzw. Inserat zu wenig oder nicht berücksichtigt wurden. Dadurch steigt die Qualität der Triage stark und übertrifft die systemischen Scanner, welche für ihre Analyse allerdings nur 1 Sekunde brauchen. Die Fehlerquote «Anzahl interessante Bewerbende fälschlicherweise aussortiert» liegt bei den Recruitern sicher weit tiefer als bei der systemischen Analyse.

Künstliche Intelligenz ist zu stur

Jeder Recruiter hat seine eigene Meinung über eine ideale Bewerbung bzw. deren Form und Inhalt. Im Gegenzug scheint aus Sicht der Bewerbenden nichts richtig genug zu sein. Immer fehlt etwas, ist etwas zu unklar formuliert, fehlt ein ganz bestimmtes Zertifikat, welches die langjährige Praxis unterstreicht (bei eigentlich vernünftigen Bewerbungen). Die Aufgabe und zugleich Kunst der Recruiter besteht in der gesamtheitlichen Beurteilung von Bewerbungen. Die modernen Bewerber-Managementsysteme mit künstlicher Intelligenz sind dagegen stur: Absage für falsche Altersgruppe, Absage bei fehlenden Schlüsselwörtern, Absage bei Mehrwerten, welche das System nicht erkennt.

Speziell bei älteren Bewerbern stimmen oft die Begrifflichkeiten im Lebenslauf nicht mit dem gesuchten Profil überein. In vielen Branchen modernisieren sich Begriffe über Zeit und beschreiben Konzepte oder Strategien, welche früher anders genannt wurden, inhaltlich aber im Wesentlichen nur eine logische Weiterentwicklung darstellen. Dies gilt auch für Hightech und Informatik. Bewerber würden hier gerne etwas schummeln, wenn sie sich damit nicht unglaubwürdig machen würden. Hier sind gedankliche Übersetzungen nötig, und es ist Aufgabe der Recruiter, ihr eigenes Wissen so aufzuarbeiten, dass sie auch frühere Begriffe kennen und diese Übersetzung schaffen.

Weg mit Vorurteilen und Vorbehalten!

Während im Profil die geforderten Erfahrungen locker auf ein paar Zeilen Platz finden, sind diese in Lebensläufen verteilt über verschiedene Aussagen und nur in Kombination zu ermitteln, da sie ja in anderen Zusammenhängen entstanden sind. Teamfähigkeit und Sozialkompetenzen sind unseres Erachtens sogar nur im Gespräch eruierbar, da hier das Fremdbild relevant ist.

Besonders ältere Bewerbende fühlen sich stark von Vorurteilen und Vorbehalten benachteiligt. Sie kämpfen gegen Attribute wie: teuer, langsam, unflexibel, fett und träge. Natürlich treffen diese auf eine Gruppe von Oldies zu, tun sie aber auch auf eine Gruppe von Junioren. Die heutigen 50+-er sind allerdings häufig fitter, engagierter, identifizierter, überlegter, flexibler, lernwilliger, energiegeladener als Jüngere und darüber hinaus auch beim Lohn gerne zu Konzessionen bereit – und bringen erst noch Lebenserfahrung mit.

«Wildcard» für suboptimale Bewerbungen

Als Executive Searcher ist unser Alltag von Beurteilungen von Bewerbungen, Empfehlungen oder Social-Media-Profilen geprägt. Obwohl wir in der Outplacement-Beratung unsere Klienten bei der idealen Bewerbung coachen, lehrt uns die Praxis im Executive Search, mit suboptimalen Bewerbungen zu leben. Als externe Berater sehen wir unsere Rolle darin, den Fächer an Kandidaten breiter zu legen als dies interne Recruiter vielleicht tun. In Projekten laden wir darum ganz bewusst ein paar Bewerbende mit einer Art «Wildcard» ein, die aus dem gesetzten Suchprofil ausscheren – egal, ob betreffend Alter, Branche, Erfahrung, unklarem Fit mit dem Profil, unglücklich formulierten CVs etc. – Wir sind fast jedes Mal positiv überrascht, wieviel interessanter die Menschen im Vergleich zu ihrem CV in Tat und Wahrheit sind. Wenn man Fülle und Dimensionen eines Menschen in seiner ganzen Vielfalt im Gespräch erfährt, ist er meist weit attraktiver als sein 2-3-seitiges CV und ein interessanterer Vermögenswert als erwartet. Ein Blick zwischen die Zeilen lohnt sich also öfter als man denkt.

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Christoph Hilber ist Betriebswirtschafter lic.oec.publ. Universität Zürich und seit 10 Jahren Headhunter mit seiner eigenen Firma P-Connect – Executive Search & Outplacement mit Fokus auf Industrie (MEM), Informatik, Telekom und Positionen Geschäftsleitungen/Kader, Spezialisten und Verwaltungsräte. Vorgängig war er in leitenden Linienfunktionen bei NCR/AT&T, diAx und Siemens tätig. Christoph Hilber ist auch Ko-Moderator der Gruppe «Xing Informatiker 50+».

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