Im Gespräch

«Am Schluss sind alle Angestellten mit allen Entscheidungen einverstanden»

Soziokratie und gewaltfreie Kommunikation: Diese beiden Methoden möchte die Betriebswirtschafterin Suna Yamaner vermehrt im Berufsleben bekannt machen. Als effiziente Managementtools für Führung und Entscheidungsfindung können sie allen beteiligten Menschen einen sinnstiftenden Platz geben und den Unternehmen Gewinn bringen.

Frau Yamaner, Sie setzen sich für Soziokratie und gewaltfreie Kommunikation ein. Ist unsere Sprache gewalttätig?

Suna Yamaner: Wenn allgemein bekannt wäre, wie machtvoll Sprache ist, müsste man einen Waffenschein lösen, wenn man auf die Welt kommt. Sie kann verletzen und unterdrücken, aber auch motivieren und beglücken. Gewaltfreie Kommunikation trägt dieser Tatsache Rechnung, sie gestaltet mit der Sprache Beziehungen auf Augenhöhe. Dabei geht es um die Gleichwertigkeit unter Menschen. Keiner ist mehr oder weniger wert als ein anderer, auch wenn es Strukturen und Hierarchien gibt.

Also ist gewaltfreie Kommunikation eine Kommunikationsform?

Nicht nur. Sie ist mehr. Sie ist ein Beziehungsgestaltungsmodell, das sich an der Sprache orientiert. Wenn wir auf der Sach- oder Beziehungsebene als gleichwertige Personen reden, muss man nicht mehr jedes Wort auf eine Goldwaage legen. Dann ist es  möglich, dass der Büezer mit der Generaldirektorin oder dem Generaldirektor über Hierarchiegrenzen hinweg offen und vertrauensvoll kommuniziert. So tut Letzterer gut daran, Erfahrungen und Know-how der Einzelnen ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Das trägt wesentlich zur Qualität seiner Entscheidungen bei. Gewaltfreie Kommunikation ist eine gute Voraussetzung für soziokratische Prozesse.

Soziokratische Prozesse sind Grundlagen für Entscheidungen. Wie funktionieren sie?

Jeder Mensch will möglichst seine Bedürfnisse befriedigen und einen sinnvollen Beitrag zum Gelingen eines übergeordneten Ganzen leisten. Darauf basiert das Menschenbild der beiden Methoden. Im soziokratischen Prozess findet genau das statt. Dabei geht es nicht wie bei einer demokratischen Abstimmung darum, dass der Wille der Mehrheit bestimmt, sondern darum, dass alle mit dem vorgeschlagenen Ergebnis leben können. Wichtig ist also nicht der Konsens, die Übereinstimmung, sondern der Konsent, abgeleitet vom englischen «consent» für «Einwilligung» oder «Einverständnis». Wir arbeiten daher mit einer «Range of Tolerance». Das heisst: Person A hat eine Meinung, ebenso wie B, C und D. Auch wenn diese Meinungen verschieden sind, innerhalb der Grenzen eines Schnittbereichs sind alle einverstanden, also konsent. Liegt die vorgeschlagene Lösung in diesem Bereich, ist keiner überstimmt und der Entscheid kann im Einverständnis aller umgesetzt werden. Falls sich nicht alle konsent entscheiden, wird ein neuer Lösungsansatz gesucht.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?

In einer Abteilung der Firma XY wird eine neue Software eingeführt. Um eine Schnellbleiche innerhalb eines halben Tages zu vermeiden – diese bietet der Hersteller zum Kennenlernen der Software an –, will die Personalleiterin zwei Personen aus ihrem Team zu einem umfassenden Weiterbildungskurs schicken. Diese zwei sollen das gesamte Team später schulen und werden in einem soziokratischen Prozess evaluiert: Die Personalleiterin beruft als Moderatorin einen so genannten Circle mit allen Betroffenen ein. Jede einzelne der interessierten Personen muss kurz erläutern, warum gerade sie oder ein anderer aus dem Team geeignet ist, diese Weiterbildung zu besuchen. Nach dieser Runde verteilt die Moderatorin Wahlzettel.

Damit das Verfahren transparent wird, schreibt jeder seinen eigenen Namen sowie die Namen der zwei Personen auf, die er nach Anhören aller Voten für die geeignetsten hält. Die Zettel werden gesichtet und die Personen mit den meisten Stimmen vorgeschlagen. Nun wird jeder in der Runde gefragt, ob er mit der Wahl konsent sei oder ob ein schwerwiegender Einwand vorliege. Wer damit leben kann, sagt «konsent», und wer dagegen ist, meldet «Einwand». Diesen muss er nach der Konsent-Runde erläutern. Das Verfahren wird wiederholt, bis alle konsent sind. Die Gewählten besuchen die Weiterbildung und geben ihr gewonnenes Wissen über die neue Software ans Team weiter.

Ist der Zeitaufwand für einen Circle nicht enorm?

Meiner Erfahrung nach ist es möglich, selbst in Konfliktsituationen innerhalb etwa einer halben Stunde zwei Personen zu benennen, mit denen alle einverstanden sind. Der Vorteil des Verfahrens ist, dass auch die Unterlegenen es als faire und positive Sache erleben. Jeder geht einen halben Meter grösser aus der Versammlung. Denn ihnen wird Vertrauen von vielen Kolleginnen und Kollegen ausgesprochen, die gute Gründe angeben, warum sie sich eignen würden. Es gibt kaum Unstimmigkeiten, die Menschen werden eher aufgebaut. Spannend ist auch, dass ganz selten Hardliner gewählt werden, die meisten vertrauen ihnen nicht.

Antipathien und Sympathien spielen demnach keine Rolle?

Höchstens insofern, als dass man seine Idealperson vorschlägt. Wird aber eine andere gewählt, liegt sie entweder in der Range of Tolerance oder es gibt einen schwerwiegenden Einwand. Dann muss ein neuer Kandidat, eine neue Kandidatin kommen. Manipulieren geht nicht, alle müssen konsent sein.

Als Wahlprozedere leuchtet mir das soziokratische Verfahren ein. Wie aber lässt es sich als Führungstool verwenden?

Circles lassen sich auf jeder Stufe für jede anstehende Entscheidung einrichten. Wenn beispielsweise der Verwaltungsrat Entscheidungen gegen den Willen der Geschäftsleitung durchboxt, kommt es nicht gut, auch wenn das Resultat mehrheitlich abgestützt ist. Bei dem soziokratischen Prozess nehmen zwei Vertreter der Geschäftsleitung an den VR-Sitzungen teil. Den einen bestimmt der VR, der andere ist von der GL soziokratisch gewählt. Nun werden die anstehenden Pläne vorgelegt und bei allgemeinem Konsent verabschiedet. Folgerichtig passiert das auf jeder Ebene: In der GL-Sitzung sind wiederum zwei Vertreter der Abteilungsleiter, auf der nächsttieferen Hierarchiestufe ebenfalls. Am Schluss sind sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Firma mit allen Entscheidungen konsent, denn in jedem Circle auf jeder Stufe ist die untere Stufe vertreten.

Der Vorteil liegt auf der Hand, alle Mitarbeitenden können Entscheide nachvollziehen und mittragen.

Ja, alle ziehen zum Wohl der Firma an einem Strick und sind motiviert, sich einzusetzen. Das Argument «Die da oben machen eh, was sie wollen» entfällt, schliesslich ist jede und jeder einverstanden. Dank des Konsents jeder einzelnen Person vertreten alle die Umsetzung einer Strategie und stehen voll dahinter. Das trägt entscheidend zur Effizienz und zum Erfolg einer Firma bei. Die Seele jeder Firma sind engagierte und mitdenkende Mitarbeitende, die auf gleicher Augenhöhe behandelt werden.

Muss eine gesamte Unternehmenskultur diesem Prinzip gehorchen oder kann beispielsweise eine HR-Verantwortliche diese Entscheidungsform einführen?

Es ist ein Konzept, das man nicht über das Ganze stülpen muss. Man kann beispielsweise in gewissen Bereichen beginnen, in denen die Involvierung der Mitarbeitenden entscheidend ist. Betrachtet man das moderne Wissensmanagement einer Firma, findet man explizites Wissen, das nachgelesen werden kann, und das viel wichtigere implizite Wissen, das nur zugänglich ist, wenn die qualifizierten Leute bei Entscheidungsprozessen einbezogen werden. Denn es ist ja nicht so, dass Einzelne nach ihrer Meinung gefragt werden und dann eine Entscheidung fällt. Sondern, dass die Mitarbeitenden bei der Fragestellung und der Entscheidungsfindung fest integriert sind, denn sie repräsentieren gewisse Ziele und Bedürfnisse einzelner Gruppen.

Fassen wir zusammen: Was sind die Vorteile von soziokratischen Prozessen?

Da niemand eine Patentlösung hat, sind folgende drei Punkte wichtig. Erstens verfügt Soziokratie über eine menschliche Struktur, die allen einen sinnstiftenden Platz gibt. Bei der Komplexität der Problemstellung ist es eine Überlebensfrage, dass breites Wissen und vielfältige Erfahrungen in Entscheide einfliessen. Zweitens ist sie friedenstiftend. Wo jede Person einen anerkannten Platz hat, arbeitet sie nicht gegen etwas, sondern ist zufrieden und motiviert. Und drittens ist sie effizient. Je mehr Selbststeuerung in eine Gruppe von Menschen gegeben wird, umso effizienter können sie arbeiten. Wird zu viel geregelt und gesteuert, sterben Mut und Dynamik der Mitarbeitenden ab, sie sind nicht mehr interessiert, innovative Wege auszuprobieren und ihr Bestes zu geben. Selbstverantwortung ist ein Garant für das erfolgreiche Fortkommen eines Unternehmens.

Suna Yamaner

ist Betriebswirtschafterin MBA, Betriebsausbildnerin SVEB II und 
zertifizierte Trainerin für Non-violent Communication. Die selbständige Unternehmensberaterin ist zusammen mit Regula Langemann Inhaberin der Metapuls, Gesellschaft für Unternehmenskultur und Frauenförderung in Zürich, mit Schwerpunkt Kommunikationstraining, gewaltfreie Kommunikation, innerbetriebliche Schulungen und Coaching.
www.metapuls.ch

 

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Text: Guy Lang
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