Ventilklausel führt zu Rekrutierungsproblemen

Arbeitskräftemangel: economiesuisse-Chef Gentinetta warnt vor Einwanderungs-Stopp

Bundesbern debattiert über die Aktivierung der Ventilklausel. Würde das Einwanderungs-Ventil geschlossen, dürften Arbeitgeber für rund ein Jahr kein Personal mehr aus der EU rekrutieren. Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse sieht die Notwendigkeit, die Folgen der Zuwanderung politisch aufzufangen, ist aber gegen die kurzfristige, populistische Massnahme der Ventilklausel. Sie erschwert die Rekrutierung, gefährdet die Wirtschaft und belastet das Verhältnis zur EU.

Die Zuwanderung aus den Ländern der Europäischen Union in die Schweiz hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen.

Als attraktiver Wirtschaftsstandort mit hoher Lebensqualität bietet unser Land nicht nur Unternehmen, sondern auch deren Arbeitnehmern gute Perspektiven. Und diese Attraktivität steigt, je länger die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise in den umliegenden Ländern auf sich warten lässt. Währenddessen wächst die Schweizer Wirtschaft weiter, doch das kann sie mittel- und langfristig nur, wenn sie die dafür benötigten, gut qualifizierten Arbeitskräfte rekrutieren kann – im In- wie auch im Ausland.

Die Zuwanderer helfen deshalb mit, auch für Schweizerinnen und Schweizer neue Jobs zu schaffen. Und weil mehrheitlich jüngere Personen zu uns kommen, wirkt die Zuwanderung zusätzlich der Überalterung der Bevölkerung entgegen, was sich positiv auf die Finanzierung der Sozialwerke auswirkt.

Die Kehrseite des Wirtschaftswachstums: Volle S-Bahnen, Staus und teure Wohnungen in den Agglomerationen

Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Die mit dem Wirtschaftswachstum verbundene, rasche Zunahme der Einwohnerzahl zeitigt auch negative Begleiterscheinungen und weckt Ängste. Wenn sich mittelständische Familien im Umfeld der grossen Wirtschaftszentren kaum mehr eine Wohnung leisten können oder sich vor der Kriminalität fürchten, sind das ernst zu nehmende Probleme. Wenn die Strassen immer öfter verstopft und die öffentlichen Verkehrsmittel in den Stosszeiten überfüllt sind, besteht Handlungsbedarf. Objektiv gesehen hat es in der Schweiz zwar noch viel Platz – doch nützt dies einem Pendler, der sich morgens um Sieben in eine voll besetzte S-Bahn quetschen muss, herzlich wenig.

Die Debatte über die künftig erfolgreiche Zuwanderungspolitik der Schweiz ist in vollem Gang. Wahrscheinlich werden die Stimmberechtigten bereits im kommenden Jahr ihre Meinung darüber an der Urne zum Ausdruck bringen können. Für die Schweizer Wirtschaft ist es absolut zentral, dass der Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt offen bleibt. Denn eines ist klar: Trotz aller Anstrengungen (Förderung der MINT-Fachkräfte, duales Bildungssystem) wird es nicht möglich sein, den anhaltenden Fachkräftemangel nur im Inland zu decken. Schon gar nicht, wenn nun die geburtenreichen Jahrgänge der «Baby-Boomer» ins Pensionsalter kommen.

Die Personenfreizügigkeit mit der EU zu kündigen, hiesse zudem, die gesamten Bilateralen Abkommen I über Bord zu werfen – obwohl wir in den vergangenen zehn Jahren von diesen Verträgen enorm profitieren konnten.

Was also ist zu tun? Als kurzfristige Massnahme bietet sich die sogenannte Ventilklausel an. Das Instrument, das eine Kontingentierung der Zuwanderung aus den EU-25-Staaten ermöglicht, steht der Schweiz noch bis zum 31. Mai 2014 zur Verfügung. Demnächst wird der Bundesrat entscheiden müssen, ob er die Klausel anwenden will. Die Bedingungen dafür werden voraussichtlich knapp erfüllt. Weiter ist zu klären, ob die Ventilklausel wie bereits seit dem Frühling 2012 nur für die osteuropäischen Staaten oder neu für die gesamte EU gelten soll.

economiesuisse und andere Wirtschaftsverbände haben sich nach eingehender Prüfung der Sachlage gegen die Anwendung der Klausel ausgesprochen. Dies bedeutet keineswegs, dass sie die Augen vor den genannten Problemen verschliessen. Eine zwölfmonatige Beschränkung der Zuwanderung ist jedoch keine nachhaltige Politik, sondern Augenwischerei. Die erhoffte innenpolitische Wirkung würde als Strohfeuer schnell verpuffen und möglicherweise gar kontraproduktiv wirken.

Fällt nämlich die Beschränkung kurz vor der Volksabstimmung über die SVP-Initiative «gegen Masseneinwanderung» definitiv weg, wird der Anreiz für eine erneute Kontingentierung der Zuwanderung umso grösser sein.

Ventilklausel führt zu Rekrutierungsproblemen

Auch aussenpolitisch würde die Anrufung der Ventilklausel durch die Schweiz ihre Wirkung nicht verfehlen – allerdings im negativen Sinn. Die ohnehin schon anspruchsvollen Verhandlungen über weitere bilaterale Abkommen mit der EU würden noch zäher, die Durchsetzung der Schweizer Interessen in Brüssel noch schwieriger. Die allermeisten EU-Länder sehen sich heute mit einer hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert. Aus ihrer Sicht gibt es erst recht keinen Grund, warum die Schweiz mit ihrer europaweit tiefsten Arbeitslosenquote den Arbeitsmarkt weiter abriegeln sollte.

Zu Recht befürchten manche Branchen wie beispielsweise das Gesundheitswesen oder die Landwirtschaft, bei einer Anwendung der Ventilklausel mit Rekrutierungsproblemen konfrontiert zu werden. Es ist auch keineswegs klar, auf welche Länder die Kontingente letztendlich verteilt würden. Ganz zu schweigen vom bürokratischen Aufwand, der entsteht, wenn man ein eingespieltes System für die Dauer von zwölf Monaten auf den Kopf stellen muss.

Die Kumulation dieser negativen Auswirkungen hat economiesuisse und weitere Verbände dazu gebracht, von einer Anrufung der Ventilklausel abzuraten. Ein «weiter wie bisher» darf es allerdings nicht geben. Die Schweizer Bevölkerung akzeptiert die Personenfreizügigkeit auf Dauer nur, wenn Politik und Wirtschaft die damit verbundenen Herausforderungen anpacken und lösen können. Ziel muss deshalb sein, eine nachhaltige Zuwanderungspolitik für alle zu schaffen, ohne dabei die Lebensqualität des Einzelnen markant zu beeinträchtigen: Über eine intelligente Siedlungsentwicklung, eine verursachergerechte Finanzierung des erforderlichen Infrastrukturausbaus, einen schonungsvollen Umgang mit Natur- und Naherholungsräumen, die konsequente Bekämpfung der Ausländerkriminalität sowie eine wirksame Integrationspolitik.

Die Lösungen für diese Punkte sind komplex und müssen teilweise zuerst noch gemeinsam ausgearbeitet werden. Doch diese Investition lohnt sich, denn im Gegensatz zu den Initiativen von SVP und Ecopop, wird damit auch für zukünftige Generationen die Basis für langfristigen Wohlstand, gesunde Sozialwerke und hohe Lebensqualität gelegt.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Pascal Gentinetta ist Vorsitzender der Geschäftsleitung von economiesuisse.

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