Das 360-Grad-Feedback – beliebt, wirksam und objektiv
Ein 360-Grad-Feedback ist nicht nur eine gewöhnliche Befragung, auch wenn die Methode simpel daherkommt. HR Today Special zeigt, was bei der Kompetenzbeurteilung von Nutzen ist und wo die Fallen lauern.

Kompetenzen (und Leistungen) von Fach- und Führungskräften werden mit der Methode des 360-Grad-Feedbacks aus unterschiedlichen Blickwinkeln bewertet, nämlich jenen von Mitarbeitern, Vorgesetzten, Kollegen, Teammitgliedern oder Kunden (Fremdbild). Hinzu kommt die Selbsteinschätzung (Selbstbild). Aus dieser Vielfalt der Meinungen resultiert eine grössere Objektivität. Das dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass sich das 360-Grad-Feedback als eines der wirksamsten und beliebtesten Instrumente der Personal- und Führungskräfteentwicklung weltweit etabliert hat. Schliesslich ist Lernen ohne Feedback kaum möglich.
Das 360-Grad-Feedback wird mit Fragebogen durchgeführt, von denen (nicht nur im Internet) eine unüberschaubare Zahl mit wohlklingenden Fragen existieren. Davon sollte man sich aber nicht leiten lassen. Wichtig ist vielmehr, dass die Fragen aus den strategischen und operativen Unternehmenszielen und den daraus resultierenden Kennzahlen abgeleitet sein müssen. Letztlich wird jede Führungskraft an ihrem Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg gemessen (etwa Rentabilität und Produktivität als Spätindikatoren oder Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit als Frühindikatoren).
Für den Praxisbezug muss daher ein klarer Zusammenhang zwischen (unternehmerischen) Zielen und den dazu notwendigen Fähigkeiten (Management- oder Führungskompetenzen) sichtbar sein. Ansonsten kann es nicht nur bei den Linienmanagern Probleme mit der Akzeptanz geben. Beispiel: Wenn diese Zielgruppe es mit steigenden Kosten, Budgetkürzungen und Preisdruck zu tun hat, was nützt dann Feedback zu Begriffen wie «Flexibilität», «Extraversion» oder «Hilfsbereitschaft»? Die aus den Zielen und der Strategie abgeleiteten Soll-Kompetenzen werden bei der Auswertung mit den Ist-Kompetenzen der Führungskraft verglichen. Aus dem Soll-Ist-Vergleich leiten sich konkrete Massnahmen zur Kompetenzentwicklung ab.
Messbare Kompetenzen erfragen
Man muss immer wieder betonen, dass der Fragebogen Kompetenzen (Verhalten, Erfahrungen, messbare Ergebnisse etc.) und nicht Persönlichkeitsmerkmale, Motive oder Führungsstile ermitteln sollte. So hat sich etwa in einer Studie herausgestellt, dass die in dem populären DISG-Persönlichkeitsmodell beschriebenen Typen (dominant, initiativ, stetig und gewissenhaft) zu 90 Prozent identisch sind mit den Sternzeichen Löwe, Zwilling, Steinbock und Krebs. Abgesehen von der fehlenden Validität kommt ein pragmatischer Aspekt hinzu: Das Verhalten lässt sich wesentlich einfacher verändern als die Persönlichkeit (Charaktereigenschaften) eines Menschen.
Beim Abfragen von Motiven sollte man bedenken, dass ein ausgeprägtes Machtmotiv nichts darüber aussagt, ob diese Person mit Macht verantwortungsvoll umgehen kann. Auch die Relation zwischen dem Leistungsmotiv und der tatsächlichen Leistung ist nach einer Studie der Stanford University in der Praxis nicht nachweisbar: Jedenfalls haben andere Faktoren wie zum Beispiel Zielsetzung und die Selbstwirksamkeitsüberzeugung einen wesentlich grösseren Einfluss auf die Leistung. Deshalb konzentriert man sich zunehmend auf konkrete Management- und Führungskompetenzen.
Die Frage nach Führungsstilen ist ebenfalls problematisch. Ein «Stil» beschreibt bestimmte Merkmale von Personen, die wiederholt beobachtet und meist statistisch ermittelt wurden. Manche Theorien wie zum Beispiel die des «Situativen Führens» behaupten, dass man einen solchen Stil anwenden sollte, um erfolgreich zu sein. Doch gibt es keinen empirischen Beleg dafür, dass man den Stil eines anderen erfolgreich nachahmen kann. Im Gegenteil: Individualität und Authentizität haben sich bei einer Studie der Heilbronn Business School (jetzt GGS) und des Instituts für Management-Innovation über die Erfolgsfaktoren mittelständischer Weltmarktführer (Hidden Champions) als viel wichtiger erwiesen als irgendwelche (theoretischen) Stile. Daher: Nicht Stile, Motive oder Charaktereigenschaften, sondern aufgabenbezogene Fähigkeiten und Umsetzungskompetenzen, also die Fähigkeit, Ziele in Ergebnisse umzuwandeln, sollten mit dem Fragebogen ermittelt werden.
Empfehlungen für die Praxis
Für die praktische Durchführung haben sich folgende Empfehlungen als hilfreich erwiesen:
- Beginnen Sie mit einer überschaubaren organisatorischen Einheit, einem sehr kurzen Fragebogen und sorgen Sie dafür, dass Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt werden. Nur so kann die notwendige Vertrauensbasis entstehen.
- Allen Beteiligten sollte klar sein, dass es um eine Verbesserung der Kompetenzen und der Zusammenarbeit zur Realisierung der Unternehmensziele geht – und nicht etwa um eine Aufarbeitung von (vergangenen) Problemen.
- Die Auswertungsberichte müssen erläutert, in den persönlichen Entwicklungsplan integriert und sowohl mit dem Vorgesetzten als auch mit den Mitarbeitern besprochen werden.
- Ein 360-Grad-Feedback ist ein erster Schritt zur Entwicklung einer leistungsorientierten Feedbackkultur. Deshalb sollte man zunächst nicht zu viel erwarten.
- In keinem Fall sollte man dieses Instrument in Krisensituationen oder während grösserer Umstrukturierungen einsetzen.
- Für die Qualität des 360-Grad-Feedbacks gelten die gleichen Kriterien wie für jede andere Befragung: Validität und Reliabilität des Fragebogens.
- Schliesslich sollte man besonders darauf achten, dass die Befragung anonym erfolgt. Die Vertrauensbasis entsteht nicht durch verbale Bekundungen, sondern durch wiederholte Erfahrung.
Kriterien für die Software-Auswahl
Es gibt eine riesige Fülle von Online-Software für das 360-Grad-Feedback. Eine Blitzumfrage bei einer (nicht repräsentativen) Stichprobe von Anbietern ergab, dass die Angebote sehr intransparent sind und dass es praktisch unmöglich ist, die Kosten und die tatsächlichen Leistungen zu vergleichen. In einem Fall lag der Preis für einen Auswertungsbericht bei nur 60 Euro; das Einfügen des eigenen Firmenlogos in die Berichte hätte aber zusätzlich 2000 Euro gekostet. Für diesen Betrag hätte man bei einem anderen Anbieter die Software kaufen können, allerdings wäre der Kaufpreis nochmals fällig geworden, wenn die Anzahl der Berichte eine bestimmte Menge überschritten hätte – so, als müsste man den Preis für ein neu gekauftes Auto nach 50 000 Kilometern ein zweites Mal bezahlen.
Als wirtschaftliches Kriterium kann man zunächst eine traditionelle Befragung mit Versand der Fragebögen per E-Mail, Fax oder Post mit anschliessen der Eingabe und Auswertung der Daten mithilfe eines Tabellenkalkulationsprogramms heranziehen. Der Zeitaufwand pro Feedback-Nehmer (bei 15 Feedback-Gebern) liegt bei etwa anderthalb bis zwei Stunden (Faustregel).
Für die Durchführung reichen die Kenntnisse eines Studenten im Grundstudium oder eines Praktikanten völlig aus. Von einer Software muss man also erwarten, dass sie diese Arbeit schneller, zuverlässiger und kostengünstiger erledigt. Das ist nicht automatisch der Fall, weil Einrichtung, Integration, Administration, Koordination und die Lösung unvermeidbarer Fehler und Probleme in der gesamten Prozesskette zum Teil erhebliche Zeit beanspruchen. Hinzu kommt der Zeitaufwand für die Recherche und den Versuch, die verwirrenden (und meist nicht vergleichbaren) Angebote zu überprüfen.
Ganz besonders sollte auf kompetente, engagierte und kundenorientierte Mitarbeiter bei der Hotline geachtet werden. Und damit schliesst sich der Kreis: Wenn ein Software-Anbieter nicht in der Lage ist, ein kundenorientiertes, transparentes Angebot zu unterbreiten, wie gross ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass er nach Auftragserteilung den Willen und die Fähigkeit aufbringt, die (unvermeidbaren) Probleme engagiert und kundenorientiert zu lösen?