Leadership

«Das Wort Ethik hat heute 
schon fast inflationären Charakter»

Pater Niklaus Brantschen, Gründer und langjähriger Leiter des Lassalle-Hauses und Mitgründer des Instituts für Zen-Ethik-Leadership in Bad Schönbrunn, plädiert für weniger Prozesse und mehr Menschlichkeit im Talent Management. Wer es schafft, die Kardinaltugenden in den Menschen zu entfalten, betreibt nachhaltige Wertschöpfung, unternehmerisch wie menschlich.

Woran denken Sie beim Wort Talent?

Niklaus Brantschen: An die Potenziale, die in jedem von uns schlummern und geweckt und entfaltet werden können.

Und wie werden sie geweckt und entfaltet?

Durch Fördern und Fordern. Aber ganz sicher nicht durch Prinzipienreiterei. Was gerade in Unternehmen beim Talent Management leider noch viel zu oft der Fall ist.

Fördern und Fordern ist in Unternehmen primär die Aufgabe von Vorgesetzten. Ist Talent Management also Ihrer Auffassung nach Chefsache?

Ja, absolut. Aber bitte nicht mit dem moralinschweren Zeigefinger oder mit militärischem Befehlsgehabe und Brust-raus-Bauch-rein-Mentalität. Vorgesetzte sollten bei ihren Mitarbeitenden für das Fehlende da sein und nicht ständig auf den Fehlern herumreiten. Das ist das alte Muster von Führung.

Wie sieht denn das neue Führungsmuster aus?

Gute Vorgesetzte sind Menschen, die das Potenzial der Mitarbeitenden sehen und sie befähigen, dieses Potenzial zu entfalten. Aber nicht nur das Potenzial der anderen zu sehen, macht den guten Leader aus, sondern auch das Sehen und Entfalten des eigenen.

Was braucht es dazu?

Heutige und künftige Führungskräfte brauchen eine Emotionalität, die den Bauch ernst nimmt und nicht bloss einzieht. Oder anders ausgedrückt: Sie benötigen drei Formen der Intelligenz – die mentale, die emotionale und die spirituelle Intelligenz.

Können Sie das etwas ausdeutschen?

Die mentale Intelligenz ist Standard, diese eignet man sich in den Schulen und bei der Arbeit an. Auch die emotionale Intelligenz wird in Ausbildungen immer ernster genommen. Doch auf die spirituelle Intelligenz wird noch zu wenig geschaut. Dabei handelt es sich nicht um etwas Abgehobenes, sondern um einen ganz alltäglichen geistigen und körperlichen Prozess. Sich in der Natur zu bewegen, gehört beispielsweise genauso dazu wie die Fähigkeit, in sich zu gehen, bei sich zu sein und bewusst mit der Zeit umzugehen. Mit Letzterem meine ich vor allem die Zeitfreiheit.

Niklaus Brantschen

Jesuitenpater Niklaus Brantschen, geboren 1937, ist Zen-Meister und katholischer Ordensmann sowie Begründer und langjähriger Leiter des Lassalle-Hauses im Zuger Bad Schönbrunn. Mit Pia Gyger gründete er das Lassalle-Institut für Zen-Ethik-Leadership. Er zählt zu den grossen geistlichen Lehrern des deutschsprachigen Raumes und arbeitet heute als Buchautor und Seminarleiter.

Meinen Sie mit Zeitfreiheit die Freizeit?

Wenn Sie unter Freizeit Abenteuerurlaube oder animierte Clubferien meinen, nein. Zeitfreiheit heisst: Bewusst weisse Flecken in der Agenda einplanen und so Zeit für sich selber und für andere zu haben. Das hilft einem dann auch, Prioritäten zu setzen und für die Mitarbeitenden und Kollegen präsent zu sein. Das ist eine Dimension, die heute viel zu wenige Führungskräfte beachten. Wer Prioritäten setzen kann, bei dem kommt das wirklich Wichtige nicht an letzter Stelle, sondern er oder sie hat immer Zeit für das im Moment oder in einer Situation Wichtige. Wer über Zeitfreiheit verfügt, ist präsent, und wer präsent ist, ist ein Präsent. Eine gute Führungskraft ist also ein Geschenk.

Warum existieren denn so wenig präsente Vorgesetzte?

Weil nicht allzu viele Menschen bereit sind, sich nicht nur beruflich, sondern auch in ihrer emotionalen und spirituellen Intelligenz weiterzuentwickeln.

 

Weshalb? Aus Faulheit oder aus Nichtwissen?

Ich denke, es ist kein böser Wille, sondern man hat es nicht anders gelernt. Es ist eine Hilflosigkeit. Die Menschen haben keine Ahnung, wie sie diese Fertigkeiten entwickeln können.

Dabei beinhalten mittlerweile die meisten Führungslehrgänge Ethik-, Menschenführungs- und Work-Life-Balance-Kurse …

Genau, das Wort Ethik hat mittlerweile schon fast einen inflationären Charakter. Im Alltagsgeschäft ist Ethik allerdings kaum ein Thema. Und wenn es eines ist, dann wird es nicht selten mit der Frage verwechselt: Wie komme ich mit dem Gesetz nicht in Konflikt? Das nenne ich Slalomethik. Für sie gilt: Gerecht ist, was legal ist. Echte Ethik ist anders. Sie funktioniert nach dem einfachen Prinzip: Was du nicht willst, das man dir tut, das füge keinem andern zu.

Ich stelle aber fest, dass immer mehr Aus- und Weiterbildungsinstitutionen eine integriertere Sichtweise von Führung und Wirtschaft vermitteln. Denn mehr vom Gleichen haben wir jetzt gehabt. Nicht nur die Führungsausbildung am Lassalle-Institut sensibilisiert für die erwähnten Aspekte, sondern auch die Universität Konstanz sowie die Berliner Steinbeiss-Universität, um nur zwei zu nennen.

Die Wirtschaftswelt ist geprägt vom Quartalsdenken, Zeit hat und gibt sich niemand, und gerade in Krisenzeiten werden Ausbildungen eher gestrichen als ausgebaut.

Es ist ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss. Um die spirituelle Intelligenz weiterzuentwickeln, brauche ich aber nicht mehr Zeit als für herkömmliche, lineare Kurse. Es ist wieder eine Frage der Prioritäten. Welche Kurse ich wählen darf, hängt sehr oft von der Firmenkultur ab. Aber die Einzelnen haben es in der Hand, diese langsam zu verändern und andere davon zu überzeugen, den Paradigmawechsel mitzutragen.

Wie soll das funktionieren?

Indem ich von der Wichtigkeit der spirituellen Intelligenz begeistert bin und selbst gemerkt habe, wie gut ein erweitertes Denken tut. Das strahlt aus und motiviert andere mitzumachen.
Zudem geht es darum, sich wieder mit ein paar Grundregeln zu beschäftigen, die leider Gottes mitunter vergessen wurden und werden: nämlich mit jenen der Tugenden.

Tugend tönt aber genau nach Moral und Zeigefinger …

Das tönt so, aber das Gegenteil ist der Fall: Tugend befreit, während Moral einengt; Tugend wächst aus dem Geschmack am Leben. Sie ist die durch Übung gewonnene Fertigkeit, etwas gut zu tun und das Gute gern zu vollbringen. Gut zu sein, bringt viele Vorteile, nicht nur menschlich und ethisch, sondern auch wirtschaftlich.

In Ihrem Buch «Vom Vorteil, gut zu sein» plädieren Sie dafür, dass sich Menschen in Führungspositionen an die vier Kardinal
tugenden halten sollen. Können Sie erklären, worum es da geht?

Die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mass haben im wahrsten Sinne des Wortes eine türöffnende Funktion. Kardinal stammt vom lateinischen Wort cardo, das Angel bedeutet. Kardinaltugenden sind also nichts anderes als der Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Existenz. Und sie hängen aufs Engste miteinander zusammen.

Lässt sich das Managerdasein in der heutigen Zeit überhaupt mit den Kardinal
tugenden vereinbaren?

Ja, absolut. Aber dazu braucht es den vorhin bereits erwähnten Paradigmawechsel. Wir müssen wegkommen von der uns in allen Lebensbereichen beherrschenden Monetik.

Was heisst Monetik?

Diese kann man umschreiben als die Herrschaft vom Geld über Gedanken und Handlungen. Es gibt Leute, die meinen, sie seien wichtig, wenn sie einen dicken Schlitten fahren und ein dickes Portemonnaie besitzen. Und sie meinen, möglichst viel Gewinn zu erzielen heisse, in jedem Fall möglichst viel Wertschöpfung zu erzielen. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass dem absolut nicht so ist.

Wenn die Kardinaltugenden in den Unternehmen Einzug halten, wären also auch Lohnexzesse und andere Auswüchse vom Tisch?

Genau. Damit könnten die Menschen aus sich selbst heraus zufrieden und motiviert arbeiten. Vorgesetzte müssten sie nicht mit Geld binden,    und in den Unternehmen ginge es menschlicher, gerechter und ausgewogener zu und her. Zudem stünden die Stakeholder wieder im Mittelpunkt und nicht die Shareholder. Dadurch würden Firmen qualitatives Wachstum erzielen und nicht nur quantitatives.

Denn auch der Begriff Gewinn muss künftig umfassender definiert und verstanden werden. Die durch die Globalisierung entstandenen Konkurrenz-Exzesse müssen sich zur Kooperation wandeln und in einem nächsten Schritt zur Kokreation. Wir können auf die Dauer nicht in einer puren Konkurrenz verbleiben. Das müssen wir notgedrungen lernen – zu unserem Wohl. Denn so erzielen wir auch Gewinn! Und zwar umfassenden Gewinn. Materiell wie menschlich.

Die vier Kardinaltugenden

Das Wort Tugend wurde von den alten 
Griechen aufgefächert in vier Grundtugenden, die alle zusammenhängen:
1. Klugheit: Klugheit ist die Fähigkeit, zu entscheiden aber auch zu unterscheiden. Damit ist aber weder Opportunismus noch Raffinesse gemeint, sondern die Fähigkeit zu sehen, was wirklich Sache ist, und dabei vernünftig zu sein.
Der kluge Mensch ist nicht obrigkeitsgläubig, sondern folgt dem eigenen Gewissen. Er duldet keinen Vormund, sondern ist buchstäblich mündig und kann für sich selbst sprechen. Er kennt sich selbst und ist auf erfrischende Weise selbstsicher.

Der kluge Mensch folgt nicht dem, was «man» denkt. Er schwimmt nicht mit dem Strom, sondern stellt sich wenn nötig quer. Auf unzeitgemässe Weise ist er zeitgemäss.
Der kluge Mensch taktiert nicht, sondern setzt sich aus – und er setzt sich ein. Er weiss zwar nicht alles, und er weiss schon gar nicht alles besser, aber er hat ein wissendes Nicht-Wissen. Auf überraschende Weise macht er Unmögliches möglich.

2. Gerechtigkeit: Gerechtigkeit bedeutet, sich und den anderen gerecht zu werden und ihnen das zu geben, was sie brauchen. Und das ist bei jedem Menschen etwas anderes. Gerechtigkeit ist die Gleichheit der Individuen, von denen jedes verschieden ist. Oder einfach ausgedrückt: Jedem Menschen das Seine.

Gerechtigkeit enthält alle Kardinaltugenden. Wer gerecht sein will, und zwar nachhaltig und nicht nur einer momentanen Laune 
folgend, braucht nicht nur Klugheit, sondern auch Mut und die Bereitschaft, massvoll 
zu leben.

3. Zivilcourage und Mut: Tapferkeit heisst nicht, kopflos in eine Situation zu rennen und keine Gefahren zu sehen oder keine Angst zu haben. Sondern trotz Ängsten einen mutigen Schritt zu tun und dann zu merken, dass es geht und keine Hindernisse da sind. Viel zu oft wird auch im Führungsalltag gesagt: Das geht nicht. Bloss warum? Man muss es nur tun, um zu sehen, dass es geht. Tapferkeit heisst also, die Schwellenangst zu überwinden. Wer nicht tapfer ist, verbleibt in der Mittelmässigkeit oder steht still.

4. Masshalten: Diese Tugend kann man umschreiben als die Mitte von zwei Extremen, zum Beispiel zwischen Geiz und Verschwendung. Aber besser noch: Masshalten heisst, spüren, wer man ist, und aus dieser Einsicht handeln. Masshalten heisst nicht, einer 
braven Mittelmässigkeit zu verfallen und es bedeutet auch nicht, einer rein äusseren Ordnung zu folgen. Viel mehr bedeutet es: Was uns im Innersten antreibt, also unseren Macht-, Besitz- und Sexualtrieb, so zu ordnen, dass er uns in die richtige Richtung treibt.

  • Quelle: Niklaus Brantschen (mit einem 
Vorwort von Roger de Weck): «Vom Vorteil, gut zu sein – Orientierung für ein erfülltes Leben»

 

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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