Der andere Stress
Stress muss nicht immer Hektik und Termindruck bedeuten. Er kann sich auch subtil und fein durch die Missachtung des Selbstwertes einschleichen. An der Universität Bern forscht ein Team daran, welche Aufgaben im Arbeitsalltag solche Stressfaktoren auslösen und wie sie verhindert werden können.

Den inneren Schatz wahren: Wer Mitarbeitern Wertschätzung entgegenbringt, stärkt ihren Selbstwert. (Illustration: iStockphoto)
Wir alle haben schon Situationen erlebt, in denen wir uns von Vorgesetzten, Arbeitskollegen oder Freunden nicht ernst genommen fühlten. Solche Situationen empfanden wir möglicherweise als kränkend, vielleicht haben sie uns auch verärgert. Unsere Würde, unsere persönliche und berufliche Integrität wurde durch diese mangelnde Wertschätzung angegriffen und etwas Wichtiges verletzt: unser Selbstwert.
Unter Selbstwert verstehen Psychologen die subjektive Bewertung der eigenen Person – einerseits durch uns selbst (persönlicher Selbstwert), andererseits durch unsere Umwelt (sozialer Selbstwert). Menschen streben grundsätzlich ein positives Selbstbild an, denn sie wollen eine negative Bewertung der eigenen Person möglichst vermeiden. Es gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, von seinen Mitmenschen akzeptiert, gewürdigt und in eine Gemeinschaft aufgenommen zu werden.
Wider die berufliche Identität
Wir identifizieren uns neben dem sozialen Umfeld auch sehr stark mit dem beruflichen Umfeld. Wir verbringen einen Grossteil unserer Zeit am Arbeitsplatz, wir können dort unser Können demonstrieren und knüpfen soziale Kontakte. Daraus entsteht eine berufliche Identität. Diese berufliche Identität ist mit zahlreichen Erwartungen an unsere Rolle im Unternehmen verknüpft, nicht nur an das Verhalten anderer, etwa im Hinblick auf Respekt und Wertschätzung, sondern auch an unsere Arbeitsaufgaben. Werden solche Erwartungen verletzt, kommt das oft einem Angriff auf unseren Selbstwert gleich und kann Stress auslösen. Die Forschung hat gezeigt, dass Stress am Arbeitsplatz nicht nur auf die Stimmung schlägt, sondern ernsthafte gesundheitliche Folgen haben kann, beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Herzkrankheiten, Burnout oder Rückenbeschwerden.
Vor diesem Hintergrund wurde an der Universität Bern das Konzept der illegitimen Aufgaben entwickelt. Illegitime Aufgaben sind Arbeitsinhalte, welche als unnötig oder unzumutbar erlebt werden. Unnötige Aufgaben sind solche, die beispielsweise als sinnlos empfunden werden (zum Beispiel Berichte schreiben, die von niemandem gelesen werden). Und Aufgaben werden mitunter als unzumutbar erlebt, wenn sie unserer beruflichen Identität nicht entsprechen. Ein Beispiel aus der Forschung in Spitälern sind Patienten, die für das Öffnen des Fensters das Pflegepersonal rufen, obschon sie dazu selbst in der Lage wären; man spricht dann von pflegefremden Arbeiten. Ein allzu grosser Anteil an administrativen Aufgaben und Dokumentation ist ein anderes oft gefundenes Beispiel.
Das Erteilen von illegitimen Aufgaben kann bei den Mitarbeitern bedeutsam Stress auslösen. Wenn die erteilten Aufgaben als illegitim wahrgenommen werden, übermitteln diese den Mitarbeitern eine subtile Botschaft: «Dir kann man ja zumuten, etwas weniger Sinnvolles zu machen» oder «Dein berufliches Können spielt hier keine so grosse Rolle». Daraus kann Stress bei der betroffenen Person entstehen, aber es können auch Spannungen im Team provoziert werden, so dass «soziale Stressoren» zunehmen.
Wir erleben die Folgen von Stress beispielsweise in Form von psychosomatischen Beschwerden wie Schweissausbrüchen, Herzklopfen und Schlafproblemen, Gereiztheit oder depressiven Gedanken und Gefühlen. Aufgrund des Ärgers oder der Kränkung kann unsere Arbeitszufriedenheit abnehmen und negative Gefühle gegenüber der Firma (Ressentiments) nehmen zu. Die Einschätzung einer Arbeitsaufgabe als illegitim ist aber immer abhängig von der Situation: Wenn wir kurzfristig fremde Aufgaben eines kranken Kollegen übernehmen müssen, wird dies in der Regel nicht als illegitim wahrgenommen, es gehört einfach dazu.
Negative Wirkung abschwächen
Illegitime Aufgaben lassen sich nicht vollständig vermeiden. Die Forschung hat gezeigt, dass eine Erklärung dazu, beispielsweise «Ich bin mir bewusst, dass dies nicht zu Ihren Aufgaben gehört», die negative Wirkung abschwächen kann. Darüber hinaus erweist sich Wertschätzung als wichtige Ressource, die den Effekt von Stress durch Selbstwertbedrohung mildern kann. Trainings im Unternehmen könnten diese Fertigkeiten verbessern und unterstützen.
Kleine Gesten als grosse Zeichen
Im Rahmen der bisherigen Forschung wurde vielfach auf die Folgen von Missachtung und Geringschätzung fokussiert. Wäre es da nicht naheliegend zu fragen, ob durch Anerkennung und Wertschätzung in der Arbeit der Selbstwert erhöht wird und wünschenswerte Konsequenzen entstehen? Forschungsergebnisse der Universität Bern zeigen, dass der Wertschätzung am Arbeitsplatz eine hohe Bedeutung für Gesundheit, Zufriedenheit und Motivation beigemessen werden kann. Wertschätzung bedeutet dabei nicht nur Lob. Vorgesetzte können auch Wertschätzung äussern, indem sie ihren Mitarbeitern interessante und herausfordernde Aufgaben übertragen und unnötige Erschwernisse der Arbeit vermeiden oder beseitigen.
Vorgesetzte wie auch Mitarbeiter können sich gegenseitig Wertschätzung entgegenbringen, indem Vorschläge nicht frühzeitig weggewischt oder ignoriert werden. Auch das Bekunden von Interesse – etwa nach längerer Abwesenheit – wird als Wertschätzung wahrgenommen. Grundsätzlich sind es im Betriebsalltag oft die kleinen, subtilen Gesten, welche Anerkennung ausdrücken. Gezeigte Wertschätzung fördert ein vertrauensvolles Klima am Arbeitsplatz, in welchem es auch leichter fällt, über Probleme und Schwierigkeiten, auch über Fehler, zu sprechen. Abschliessend lässt sich sagen, dass durch wertschätzendes Verhalten im Unternehmen den Menschen zu besserer Gesundheit verholfen, ihre Leistung verbessert und ihre Motivation erhöht werden kann.
- Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Isabel Pfister, Rebecca Lanz, Pascale Raemy, Françoise Rossé und Benjamin Ulrich.
Weitere Literatur:
- Semmer, N. K. & Jacobshagen, N. (2003). Selbstwert und Wertschätzung als Themen in der arbeitspsychologischen Stressforschung. In K.-C. Hamborg & H. Holling (Hrsg.), Innovative Personal- und Organisationsentwicklung (S.131–155). Göttingen: Hogrefe.
- Semmer, N. K. & Jacobshagen, N. (2012). Wertschätzung am Arbeitsplatz. Safety-Plus, 1, 17–9.
- Semmer, N. K., Jacobshagen, N., & Meier, L. L. (2006). Arbeit und (mangelnde) Wertschätzung. Wirtschaftspsychologie, 8, 87–95.
- Semmer, N. K., Jacobshagen, N., Meier, L. L., Elfering, A., Kälin, W. & Tschan, F. (im Druck). Psychische Beanspruchung durch illegitime Aufgaben. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Deutschland.
- Personal Swiss: 9. und 10. April 2013, Messe Zürich, Halle 5 & 6. www.personal-swiss.ch
Prof. Dr. Norbert K. Semmer: Di, 9. April, 9:20 Uhr, Forum 4