Psychische Gesundheit und Emotionen

«Die Abgrenzung basiert hauptsächlich auf Angst»

Während Coaching als Mittel zur Unterstützung in vielen Unternehmen anerkannt ist, haftet der Psychotherapie noch 
immer ein Makel an. Dabei ist es wichtig, zu erkennen, was wann nötig ist. Sonst kostet es Zeit und Geld – für nichts.

Wo liegen die zentralen Unterschiede der beiden Interventionsformen?

Marius Neukom: Psychotherapie ist in der Regel dann angebracht, wenn Personen sich mit einem Anliegen plagen, das sie oft schon ihr ganzes Leben begleitet. Das erkennt man daran, dass sie Verbindungen herstellen können zu ähnlichen Situationen aus der Kindheit oder Schulzeit. Und das kann man mit 10 oder 15 Sitzungen nicht verändern.

Gibt es eine messerscharfe Trennlinie?

Nein, und das ist die Schwierigkeit. Oft werden Menschen gecoacht, die eigentlich eine Therapie bräuchten. Es gibt Fälle, in denen ich erst gar kein Coaching anbiete, weil dies ein falsches Versprechen machen würde und nicht wirklich nützt.

Kommt Psychotherapie also erst dann ins Spiel, wenn es mit Coaching nicht mehr weitergeht?

Wenn überhaupt, dann ist Psychotherapie nur zweite Wahl. Ich glaube, es wird viel Coaching gemacht, das fehlindiziert ist. In vielen Fällen würde eine geschulte Person sicher zu Psychotherapie raten. Aber Coaching verursacht auch keinen Schaden. Ich finde es problematisch, dass Psychotherapie generell stigmatisiert ist und selten beansprucht wird. Wenn das Coaching nicht zum Ziel geführt hat, passiert in der Regel danach nichts mehr.

Brauchen Coachs in Unternehmen psychotherapeutisches Know-how?

Es wäre sicher von Vorteil, wenn die Coachingverantwortlichen in den Unternehmen Kenntnisse in Psychologie und Psychopathologie haben, um erkennen zu können, wann es Psychotherapie braucht. Sonst werden nur unnötig Coachings veranlasst, die zum Scheitern verurteilt sind und Zeit und Geld kosten.

Wie kann man diese Leerläufe vermeiden?

Ich halte es für wichtig, dass in Coaching-Ausbildungen ein Teil Psychotherapie gelehrt wird, denn Coaching greift technisch sehr stark auf die Psychotherapie zurück. Ein Befund unserer Studie war jedoch, dass sich die Coachingverantwortlichen stark von der Psychotherapie abgrenzen und sich nicht klar darüber waren, wie stark sich die Techniken überschneiden. Diese Abgrenzung basiert hauptsächlich auf Angst. Sobald die Kenntnisse steigen, wird sich das ändern, und die Menschen in den Unternehmen bekommen das Richtige.

Welche Techniken sind es, die auf der Psychotherapie basieren?

Als grundlegendes Element das aktive Zuhören. Oder auch Rollenspiele und Rollenanalysen, die aus der systemischen Familien
therapie kommen.

Sollten Firmen Psychotherapie anbieten?

Nein, das ist nicht Sache der Unternehmen. Es muss eine Geschäfts- und eine private Welt geben. Die Psychotherapie gehört in die private. Andernfalls wäre der Aspekt der Kontrolle und des Vertrauens zu delikat. Zudem gehen psychotherapeutische Behandlungen oft lange und müssen auch dann geschützt sein, wenn der Mitarbeiter kündigt.

Beim Coaching entsteht bei mir oft der Eindruck, dass viele schöne Versprechen gemacht werden. Es klingt gut und ist auf positive Entwicklung und Gesundheit angelegt. An bestimmten Punkten kann das zu schönfärberisch sein – denn die Menschen, die Unterstützung brauchen, leiden ja. Es ist unfair, wenn man ihnen sagt, sie müssten ihre Leistung verbessern und sich entwickeln, wennsie sich doch viel dringender mit ihrem tatsächlichen Scheitern und ihren schlechten Gefühlen auseinandersetzen müssten.

Psychotherapie wird oft mit Leistungsunfähigkeit assoziiert. Ist das gerechtfertigt?

Nein. Denn häufig sind die Betroffenen nur wenig eingeschränkt und können gut arbeiten. Rein statistisch gesehen gibt es in jedem grösseren Unternehmen psychisch Beeinträchtigte – auch solche, die in Behandlung sind, ohne dass dies irgendjemandem auffällt. Wenn bedürftige Menschen behandelt würden, senkte das ihre Fehlzeiten am Arbeitsplatz massiv – das haben verschiedene Studien bewiesen.

Burnout ist für Sie ein Grenzfall, wieso?

Vor allem gesellschaftlich gesehen. Man kann Burnout fast schon als modisch bezeichnen – es geniesst heimlich ein hohes soziales Ansehen: Man ist zwar ausgebrannt, hat sich aber vorher für die Firma aufgerieben und damit eine enorme Leistungs- und Aufopferungsbereitschaft bewiesen. Das ist natürlich grotesk. Es gibt übrigens Bestrebungen, Burnout endlich zu einer offiziellen Diagnose zu machen, um dessen Krankheitsstatus zu legitimieren und die Behandlungen von den Krankenkassen bezahlt zu bekommen.

Für mich ist Burnout eine Indikation für Psychotherapie – auch ohne Gelder der Krankenkasse. Diese Menschen haben ein gravierendes Problem. Sie befinden sich in einem Erschöpfungszustand, der in einem häufig selbstgesetzten, tief verwurzelten Leistungs- und Anspruchsideal gründet.

Ist man sich in den Unternehmen bewusst, dass die Zahl psychischer Krankheiten steigt?

Ja. Alle Teilnehmer unserer Studie hatten Fälle, bei denen sie zumindest psychische Störungen vermuteten. Aber gerade in Unternehmen mit einer sehr jungen Mitarbeiterstruktur ist Psychotherapie nahezu kein Thema. Betroffene Mitarbeiter werden höchstens gecoacht; wenn das nicht funktioniert, müssen sie gehen. Das Thema Psychotherapie ist gesellschaftlich immer am Rande und macht Angst. Es geht gegen die Bestrebungen der Geschäftswelt, es geht um Reflexion, nicht ums Handeln. Aber ich denke, wenn sich die Firmen mal rein statistisch über die Ausmasse klar würden, dass sie dann auch anders denken würden.

Buchtipp

Bernhard Grimmer, Marius Neukom: Coaching und Psychotherapie. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, 231 Seiten, gebunden, CHF 62.50.

Marius Neukom

Marius Neukom ist stellvertretender Leiter des Lehrstuhls für 
Klinische Psychologie, Psycho
therapie und Psychoanalyse am Psychologischen Institut der 
Universität Zürich. In seiner eigenen psychoanalytischen Praxis arbeitet er als Coach und Psychotherapeut.

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