Die Schweiz als Einwanderungsland
Die Aus- und Zuwanderung haben die Schweizer Geschichte geprägt und beeinflussten die gesellschaftliche Entwicklung. Das ist auch heute nicht anders. Doch die Schwerpunkte haben sich verlagert. Einerseits ist die schweizerische Wirtschaft auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, andererseits wird unsere Gesellschaft mit der Asylmigration konfrontiert.

(Foto: zVg)
Die Schweiz war bereits im 19. Jahrhundert sowohl Auswanderungs- als auch Einwanderungsland. Durch die Entwicklung der Industrien und den Bau der Infrastrukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts benötigte die Schweizer Volkswirtschaft Arbeitskräfte für Tätigkeiten, die die Einheimischen nicht machen wollten oder konnten. Nach 1945 gab es eine nachkriegsbedingte Konjunktur, die bis Anfang der 1970er-Jahre andauerte und ebenfalls viele Arbeitskräfte anzog. Danach kamen viele Ehepartner und Kinder über den Familiennachzug.
Schon kurz vor den Bilateralen Verträgen von 2002 zeichnete sich eine vermehrte Einwanderung aus dem EU-Raum, insbesondere aus Deutschland, aber auch von Menschen aus Drittstaaten mit gutem Qualifikationsprofil ab. Dank dieser Einwanderung konnten Firmen Stellen besetzen, für die sie auf die Schnelle keine einheimischen Arbeitskräfte hätten finden können. Der Bedarf an diesen Profilen und die Nachfrage nach Dienstleistungen aller Art hat zu dieser letzten Einwanderungswelle geführt.
Tibeter willkommener als Türken und Tamilen
Flüchtlinge aus Ungarn, der Tschechoslowakei und aus Tibet wurden mit grosser Solidarität empfangen, da sie von kommunistischen Regimes drangsalierte Völker repräsentierten. Ihre Ankunft passte in die helvetischen Denkschablonen des Kalten Krieges, in dem nicht nur die Schweiz, sondern viele Bürger durch die Aufnahme der Flüchtlinge den Tatbeweis der wehrhaften Solidarität mit den Verfolgten des Kommunismus bezeugten. Bereits die Aufnahme weniger Chilenen in den 1970er-Jahren erfolgte zögerlicher, war umstrittener und wurde ambivalenter erlebt. Auch bei den Türken und Tamilen war dies der Fall.
Seit den 1980er-Jahren haben sogenannt horizontale Konflikte auf der Welt zugenommen. Diese sind nicht mehr geprägt durch die Konfliktlinien des Kalten Krieges, sondern vielfach durch ethnische, religiöse oder schlicht machtpolitische Kampfzonen. Meist sind wir indifferent, nicht zuletzt, weil diese Konflikte kulturalistisch gelesen werden: «Die ticken anders, daher schlagen sie sich die Köpfe ein», vernimmt man oft. Vielfach wird auch die Redlichkeit der Fluchtmotive angezweifelt, da die Asylmigration für viele eine der letzten legitimen Möglichkeiten der Wanderung darstellt.
Weniger Empathie und Zweifel an den Fluchtgründen finden ihren Niederschlag in Gesetzen, insbesondere im Asylgesetz, das seit 1981 ständig revidiert worden ist. Die Auseinandersetzung um den «Missbrauch» spielt in diesen wiederkehren-den Debatten die zentrale Rolle. Die Kontroversen ergeben sich letztlich aus der paradoxen Situation, dass Menschen auf der Suche nach Asyl menschenrechtlich garantierte Ansprüche stellen können, dass deren Anwesenheit jedoch von Behörden, verschiedenen Parteien und vielen Bürgern als nicht legitim angeschaut wird. Die einen plädieren deshalb seit 30 Jahren bei jeder Revision für schnellere und effektivere Verfahren und eine Reduk-tion von Ansprüchen, die auf Asylbewerber abschreckend wirken sollen, die andere Seite sieht den Geist der Genfer Konvention durch diese Revisionen bedroht und verweist auf die menschenrechtliche Notwendigkeit der Überprüfung der individuellen Fluchtursachen.
Sans-Papiers: Nötig für Wirtschaft oder «entrechtete Domestiken»?
In den letzten 15 Jahren half die Asyl-migration mit, den Bedarf an niedrigqualifizierten Arbeitskräften zu decken. Das gilt auch für sogenannte Sans-Papiers. Ob unsere Volkswirtschaft glücklich ist über diese Zuwanderung, hängt davon ab, welche Vorstellung wir von funktionierenden Arbeitsmärkten haben, letztlich, welches Menschenbild wir besitzen. Der Nutzen bei der Anstellung von Sans-Papiers ergibt sich durch deren irregulären Aufenthalt. Dieser ermöglicht es einerseits den Arbeitgebern, sowohl gesetzliche Mindesttarife zu unterbieten und Sozialleistungen zu sparen als auch die irregulären Arbeitnehmer zu höheren Leistungen zu zwingen, da sie sich wegen ihrer Lage nur schwer wehren können. Sans-Papiers finden wegen der fehlenden Papiere nur deshalb eine Existenzgrundlage, weil sie bereit sind, zu Untertarif und zu prekären Bedingungen zu arbeiten.
Von der wirtschaftslibertären Warte aus entspricht die Präsenz von Sans-Papiers einer Strategie, regulierte Arbeitsmärkte zu umschiffen. Eine moderne, auf hochqualifizierte Dienstleistungen ausgerichtete Wirtschaft benötige nach wie vor niedrigqualifizierte Arbeitskräfte, die im Extremfall zu nicht regulären Bedingungen angestellt werden können. Verficht man hingegen die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates und der Sozialpartnerschaft, dann ist es schwer hinnehmbar, dass Arbeitskräfte Tarife und Gesetzesbestimmungen unterbieten und als «entrechtete Domestiken» ein Schattendasein fristen, das die Solidarität unseres Systems unterminiert. Aus menschenrechtlicher Sicht ist zu bedenken, dass Sans-Papiers gezwungen sind, permanent unter dem Druck der Auf-deckung zu leben und zu riskieren, all das zu verlieren, was sie sich in Jahren grosser Entbehrungen aufgebaut haben. Die Politik sollte im Fall der Sans-Papiers pragmatische Lösungen anvisieren. Die irreguläre Situation ist nicht rechtens, aber die Durchsetzung des Rechts nach vielen Jahren des irregulären Aufenthalts ist ebenfalls problematisch und bedarf einer humanitären Lösung.
Während die eine politische Seite in der Schweiz mit Grenzkontrollen und Wahrung der politisch-territorialen Souveränität eine harte Linie fordert, will die andere Seite die Ursachen der Migration anpacken. Mit Schengen hat die Schweiz die grenzpolizeiliche Hauptlast an die EU-Grenzstaaten externalisiert. Sicherlich gibt es in der Folge von Krisen Menschen, die in die Schweiz gelangen. Gerade angesichts der steigenden Zahlen in den letzten beiden Jahren nach langjähriger Entspannung wird deutlich, wie hochpolitisiert diese Domäne ist, obwohl die Asylmigration nur schon zahlenmässig eher eine Marginalie in der Migrationsdiskussion darstellt. Wollen wir aber die Frage der «ungewollten» Migration effektiv angehen, kommen wir nicht umhin, im europäischen Kontext zu handeln.
Blick zum südlichen Rand des Mittelmeerbeckens
Nebst dem bestehenden Migrationsmanagement und den Kontrollen an den Aussengrenzen der EU sowie der Unterstützung der EU-Grenzstaaten bei der Bewältigung der Migrationsströme ist es sicherlich nur schon aus entwicklungs-, demokratie- und sicherheitspolitischen Erwägungen ratsam, am südli-chen Rand des Mittelmeerbeckens Perspektiven für die vielfach gut ausgebildeten jungen Menschen zu entwickeln. Das kann in Form eines Marshallplans und erneuerter Terms of Trade sein oder in Form von Ausbildungs- und Weiterbildungsprogrammen in der Schweiz oder der Gestaltung von temporären Einwanderungsopportunitäten, wie sie bereits in der EU praktiziert worden sind.
Es wäre schade, wenn das aktuelle Zeitfenster nicht genutzt würde und sich die Schweiz mit anderen europäischen Staaten lediglich als Festung verstünde. Wir dürfen letztlich auch nicht die demografische Entwicklung in Euro-pa ausser Acht lassen. Gerade hinsichtlich der abnehmenden Bevölkerungszahlen wäre es ratsam, Beziehungen mit prospektiven Auswanderungsregionen aufzubauen.
Die vergleichsweise ausserordentlich gute Verfassung des schweizerischen Arbeitsmarktes ist mitunter auch der Einwanderung von gutausgebildeten Fachkräften aus dem europäischen Ausland geschuldet. Wie wollen wir aber unseren Arbeitsmarkt in Zukunft gestalten, wenn dieser nicht mehr wie vor der Unterzeichnung der Bilateralen Verträge national abgeschottet werden kann und es den alten Inländervorrang nicht mehr gibt? Wollen wir künftigen Herausforderungen erneut mit Schwellen begegnen, mit politisch ausgehandelten Obergrenzen, wie es bis 2002 Usus war, oder wollen wir die Herausforderungen mit Investitionen in Bildung parieren und so die zur Verfügung stehenden Ressourcen besser für einen kompetitiveren Arbeitsmarkt nutzen? Zurzeit könnte die Schweiz ohne importierte Humanressourcen ihre kompetitive Position nicht halten. Wir müssen uns also überlegen, wie die Umgestaltung des Bildungswesens angegangen werden muss und wie – vom anderen Ende gedacht – eine 10-Millionen-Schweiz raumplanerisch zu gestalten wäre.