Ein Jahr in der Fremde arbeiten
Der Aufenthalt in einem anderen Landesteil verbessert nicht nur die Sprachkenntnisse, er ist auch eine Lebensschule. Der Bereich Poststellen und Verkauf der Schweizerischen Post hat vor zwei Jahren ein Sprachaufenthalts-Obligatorium für Lehrabgänger eingeführt. Davon profitieren auch die einzelnen Poststellen.
Zu Zeiten der damaligen PTT war es für angehende Kaderleute eine Selbstverständlichkeit, ihre Sporen in einer anderen Sprachregion abzuverdienen. Diese Tradition ging mit der Abschaffung der so genannten Monopolausbildungen wie Betriebsassistentin beziehungsweise Betriebssekretär und der Einführung von eidgenössisch anerkannten Lehrabschlüssen im Detailhandel verloren. Vor zwei Jahren knüpfte Poststellen und Verkauf PV, ein Geschäftsbereich der Schweizerischen Post, wieder an diese Tradition an und schickt jedes Jahr Dutzende Lehrabgänger in andere Landesteile.
Ins Tessin nur mit guten Noten
200 bis 300 Detailhandelsfachleute bildet Poststellen und Verkauf jedes Jahr aus. Sie werden nur weiterbeschäftigt, wenn sie sich vertraglich verpflichten, innerhalb von drei Jahren nach Lehrabschluss ein Jahr in einer anderen Sprachregion zu arbeiten. Dieser obligatorische Aufenthalt wird bereits bei der Rekrutierung der Lernenden thematisiert. Nach der definitiven Anstellung am Ende der Lehre werden die Fremdsprachenkenntnisse telefonisch getestet. Falls diese für den Sprachaufenthalt noch nicht ausreichen, sind die Lernenden verpflichtet, von zuhause aus einen Online-Sprachkurs zu absolvieren. Damit sie möglichst rasch mit dem Postvokabular vertraut werden, erhalten sie im Voraus Unterlagen zum Selbststudium. Sie haben auch die Möglichkeit, ihre Poststelle und das Team in der Fremde im Voraus zu besuchen.
Für die Abwicklung und Organisation des Sprachaufenthalts hat die Post einen kleinen Stab aufgebaut. Die Planung der Sprachaufent-halte und der Austausch mit einer professionellen Sprachschule erfolgen über ein eigens entwickeltes Informatiktool. Die Zuteilung der zukünftigen Sprachaufenthalter auf die Sprachregionen ist komplex. Die jungen Detailhandelsfachleute können ihre Wünsche zwar anbringen, diese können aber nicht immer berücksichtigt werden. Das Tessin ist als Austauschregion besonders beliebt. Aus Kapazitätsgründen lassen sich hier aber nur wenige Sprachaufenthalter platzieren. Deshalb sind für den Sprachaufenthalt in der Südschweiz nicht nur Grundkenntnisse der italienischen Sprache erforderlich, sondern auch gute Lehrabschlussnoten.
Die jungen Detailhandelsfachleute werden umfassend unterstützt, egal, ob es um die Wohnungssuche, Kontakte mit Behörden und Verwaltungen oder den Abschluss eines Mietvertrags geht. PV beteiligt sich auch finanziell am Sprachaufenthalt: mit einem «Zustupf» an die Wohnungsmiete, einem Generalabonnement während des Sprachaufenthalts und mit der Sprachausbildung an einer professionellen Sprachschule.
Skepsis auf beiden Seiten
Obwohl die Spielregeln des Sprachaufenthalts seit Lehrbeginn klar sind, stösst das Obligatorium bei den jungen Leuten nicht immer auf Gegenliebe. Die Verwurzelung in den Ursprungsgebieten ist teilweise sehr stark. Zudem lassen die erste Freundin oder der erste Freund die andere Sprachregion wie ein Land auf einem fernen Planeten erscheinen. Es sind aber nicht nur die jungen Leute, die dem obligatorischen Sprachaufenthalt Skepsis entgegenbringen. Teilweise sind es auch die Linienvorgesetzten. Sie argumentieren etwa, dass ein Sprachaufenthalter weniger verkaufe und mehr Betreuungszeit brauche. Die langfristigen Vorteile des Sprachaufenthalts werden dabei häufig ausgeblendet.
Seit der Einführung des Obligatoriums haben 45 Mitarbeitende den Sprachaufenthalt erfolgreich abgeschlossen, 78 arbeiten aktuell in einer anderen Sprachregion. 2011 werden voraussichtlich 107 Personen ihren Austausch antreten. Die zurückgekehrten Sprachaufenthalter berichten zumeist viel Positives. So war die ferne Welt doch nicht so fern. Mit gutem Willen liess es sich in der fremden Region gut leben und es konnten Freunde gewonnen werden, wenn man sich gezielt integrierte. Auch der Heimweg ist mit dem GA meist problemlos zu meistern, der Kontakt mit der Heimat bleibt erhalten. Die Rückkehrer haben auch erfahren, dass es nicht nur spannend ist, in einer anderen Landesregion zu arbeiten, sondern auch in einer anderen Poststelle, wo manches leicht anders gehandhabt wird. So können sie die eine oder andere gute Idee mit nach Hause bringen. Auch Poststellenleitende sehen diese Vorteile und können von den Vorschlägen der Sprachaufenthalter profitieren.
Die Geschäfts- und Verkaufsleitung steht geeint hinter dem Obligatorium und überzeugt die Linie von der strategischen Bedeutung des Sprachaufenthalts. Für die direkten Vorgesetzten wurde ein umfassendes Einführungsprogramm erarbeitet. Es soll mithelfen, die jungen Angestellten besser in ihre neuen Arbeitsorte zu integrieren. Die Lernenden im letzten Lehrjahr können in Vorbereitungsseminaren ehemaligen Sprachaufenthaltern ihre Fragen stellen. Sie hören so aus erster Hand, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen, aber auch, wie viel sie von dieser Möglichkeit profitieren können. Im Intranet werden für alle Mitarbeitenden periodisch Kurzberichte von zwei Sprachaufenthaltern publiziert. In Kurzgeschichten erzählen die zwei von den Erfahrungen in der neuen Heimat, von ihrer Arbeit in der Poststelle und von der Freizeit.
Mit der Wiederbelebung der Sprachaufenthalte geht es dem Unternehmen nicht nur darum, dass die Lehrabgänger eine zweite Fremdsprache erlernen. Das Jahr in einer anderen Sprachregion ist vor allem eine Lebensschule. In der Fremde kann die Flexibilität, die in der Arbeitswelt immer wichtiger wird, erworben werden. Zudem wächst das Verständnis für die feinen kulturellen Unterschiede, die die Landesteile der Schweiz prägen.