Frau Weibel, Sie setzen sich intensiv mit dem Thema Vertrauen auseinander. Sind Sie dadurch misstrauischer geworden?
Antoinette Weibel: (Lacht.) Nein, das glaube ich nicht. Mir fällt dazu eine Geschichte ein: An einer Vertrauenskonferenz in Amsterdam stieg ich mit drei anderen Vertrauensforscherinnen in ein Taxi. Der Fahrer hat uns irgendeine Geschichte erzählt, warum er den Taxometer nicht einstellt – wir haben ihm alle vertraut. Aber natürlich hat er uns am Schluss übers Ohr gehauen.
Wie definieren Sie Vertrauen wissenschaftlich?
Vertrauen ist eine risikoreiche Vorleistung, die ich meinem Gegenüber entgegenbringe. Das heisst, ich entscheide mich für eine Handlung, obwohl mir die Konsequenzen schaden könnten. Da die Person, die vertraut, mehr verlieren kann als ihr Gegenüber, sprechen wir von einem Vertrauensvorschuss.
Unterscheidet sich die Form des Vertrauens, das man Menschen im Privatleben entgegenbringt, von Vertrauen im Berufsleben?
Die Kernelemente in beiden Bereichen sind grundsätzlich gleich. Im Privat- wie auch im Berufsleben bedeutet Vertrauen, das Gefühl zu haben, nicht ausgenutzt zu werden. Dieses Gefühl wird im Privatleben vielleicht schneller entgegengebracht als in Geschäftsbeziehungen. Im Berufsleben richtet sich die Vertrauensentscheidung danach, ob Personen oder Unternehmen vertraut wird.
Antoinette Weibel
leitet den Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, insbesondere Managementlehre, an der Universität Konstanz. Zu den Forschungsschwerpunkten von Antoinette Weibel gehören Vertrauens- und Motivationsmanagement, Anreizsysteme und Kontrollen in Unternehmen sowie positives Management. Zudem ist sie Mitautorin des Buches «Investition Vertrauen. Prozesse der Vertrauensentwicklung in Organisationen». Die Professorin hat an der Universität in Zürich promoviert, wo sie im Fach Betriebswirtschaftslehre habilitierte. Sie ist verheiratet und lebt in Dietikon.
Gerade Letzteres ist im Moment in manchen Branchen angeschlagen. Leben wir in einer Zeit des Vertrauensverlustes?
Zwar ist das Thema Vertrauen, vor allem bei Unternehmen im Finanzsektor, sehr brisant im Moment, jedoch würde ich nicht generell behaupten, dass wir in einer Zeit des Vertrauensverlustes leben. Die momentanen Krisen lassen uns Vertrauen wahrnehmen. Vertrauen wird erst spürbar, wenn es verloren gegangen ist. Vertrauenschaffend für angeschlagene Unternehmen wären jetzt Transparenz und eine klare Bekennung, wohin der Unternehmensweg führt; doch meist fehlt beides. Stattdessen werden nicht vertrauensförderliche Massnahmen, wie Umstrukturierungen und Entlassungen, durchgeführt.
Wirkt sich das auch auf die persönliche Ebene aus? Leisten die Menschen in Krisenzeiten generell weniger Vertrauensvorschuss?
Nicht unbedingt. Gerade in Krisenzeiten kann es passieren, dass ein Mitarbeiter sich stärker in einen Vertrauenskokon zurückzieht. Zudem spielt die generelle Einstellung zum Vertrauen eine Rolle. So gilt etwa die Schweiz als «High Trust Nation». Das bedeutet, dass die Mehrheit der Schweizer mit sehr viel Vertrauen in Beziehungen eintritt – sowohl privat als auch geschäftlich. Eine solche Einstellung kann insbesondere in Krisenzeiten das Vertrauensklima erhalten.
Wenn wir das Vertrauen in Unternehmen betrachten: Braucht es nicht erst Krisen, um herauszufinden, ob man wirklich vertrauen kann? In Gutwetter-Zeiten ist es doch einfacher, zu vertrauen.
Ja, ganz recht. Es braucht eine Situation, in der sich die Frage nach dem Vertrauen stellt. Vertrauen ist sehr träge. Menschen machen sich ein Bild und halten sich dann an das einmal gefasste Vertrauensausmass. Meist braucht es einen Vorfall, damit das Vertrauen weiter wächst oder abnimmt. In diesem Sinne kann eine Krise auch eine Chance darstellen, um das Vertrauen zu stärken. Andererseits ist Vertrauen eine wichtige Währung in Krisenzeiten, um die Krise unbeschadet zu überstehen. Für Unternehmen, in denen keine Vertrauenskultur herrscht und die jetzt von Krisen geschüttelt werden, wird es schwierig zu überleben. Gerade in Krisenzeiten sehnen sich die Menschen nach Vertrauen, um mit Unbeständigkeit, Wandel und Restrukturierungen umzugehen. Kurz gesagt, Krisenzeiten trennen die Spreu vom Weizen: Sie legen offen, welche Firmen nicht so gut geführt sind, denn Vertrauen gehört zu guter Führung.