Strategische Positionen

Gehirnschrittmacher für intelligente Organisationen

Kulturentwicklung und Leadership werden nicht oft in einem Atemzug mit IT-Systemen genannt. Der Bremer Professor Peter Kruse steigert mit computergestützten Werkzeugen die kollektive Intelligenz von Organisationen und beschleunigt Veränderungsprozesse.

Herr Professor Kruse, was verbindet HR und IT?

Peter Kruse: Sowohl HR als auch IT sind bereichsübergreifend aktiv. HR ist auf der Soft-Fact-Seite mit allen Menschen im Unternehmen in Kontakt. IT liefert auf der Hard-Fact-Seite die Grundlage für die Datenaustauschprozesse im Sinne eines Nervensystems. Gemeinsam bilden HR und IT eine mächtige Einflusssphäre, denn es gibt wenige Instanzen, deren Aktivitäten so viele Akteure berühren und die in diesem Umfang Einfluss nehmen auf die Gestaltung interner Abläufe.

Also ein Bündnis mit unbegrenzten Möglichkeiten?

Eigentlich ja, aber nur unter sorgfältiger Klärung von Auftrag und Rolle. In der Allianz zentraler Querschnittsfunktionen schwingt immer die Gefahr des Missbrauchs. Bei vielen Restrukturierungs- und Veränderungsprozessen in den Unternehmen hat sich gezeigt, wie leicht HR und IT die Grenze vom hilfreichen Dienstleister zum bedenklichen Mitspieler in der internen Machtbalance überschreiten können. Ich erinnere mich an etliche Situationen, in denen Personaler versucht haben, in strategischen Veränderungsprozessen selbst zum Treiber und Gestalter zu werden. In gross angelegten Projekten wurden «the Best and the Brigthest» zu «Change Agents» ausgebildet, die dem Management bei der heiklen Mission des Wandels die Last des Leadership erleichtern sollten.

In unzähligen Workshop-Sequenzen wurde versucht, das «Roll-out» neuer Konzepte aus der Theorie in die Praxis zu garantieren. Dabei wurden Parallelhierarchien geschaffen für eine Aufgabe, die letztlich nur von der Linie selbst zu bewältigen ist. Und als man sich, wie zu erwarten war, die Nase auf HR-Seite blutig gestossen hatte, wurde das Gleiche noch mal über die 
Einführung neuer EDV-Systeme mit IT in der Hauptrolle versucht: Business Process Reengineering durch die kalte Küche. Grundlegende Veränderung im Unternehmen ist Hoheitsgebiet des Top-Managements und kann nur gelingen, wenn die Führungskräfte mit maximalem Engagement den Fahrersitz einnehmen.

Innovativer Umgang mit Komplexität

nextpractice ist spezialisiert auf die strategische und praktische Begleitung von kulturellem Wandel und die Entwicklung von computergestützten Consulting-Tools zum innovativen Umgang mit Komplexität und Vernetzung. Der Sitz des Unternehmens ist in Bremen. www.nextpractice.de

Wo liegen denn die künftigen Aufgabenfelder von HR und IT?

Natürlich haben HR und IT in ihren Kernaufgabenfeldern sowieso viel zu tun. Für HR wird der «War for Talents» immer existenzieller. Die Frage nach der Attraktivität der eigenen Arbeitgebermarke entscheidet mehr denn je über die Zukunft eines Unternehmens. Und bei der rasanten Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie immer am Herzschlag der Zeit zu bleiben, ist für sich genommen bereits ein ehrgeiziges Ziel. Dennoch zeichnen sich zusätzliche Aufgabenfelder im Überschneidungsbereich von HR und IT ab, in denen ein integriertes Dienstleistungsangebot den Unternehmen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bescheren kann. Neben dem Alltagsgeschäft hat Führung drei neue Aufgabenfelder zu bewältigen: 1. die Sicherstellung einer einheitlichen Ausrichtung in ständig grösser werdenden Einheiten (Strategical Alignment), 2. die Nutzung aller im Unternehmen vorhandenen intellektuellen Ressourcen für erfolgreiche Innovation (intelligente Vernetzung) und 3. das Erzeugen einer ausreichenden Informationsgrundlage für unternehmerische Entscheidungsprozesse (Reduktion von Komplexität).

Was heisst das konkret?

Auch wenn es als Antwort auf die Frage provozierend klingt: In erster Linie ist es wichtig, die kulturellen Voraussetzungen zu schaffen, die erforderlich sind, um mit den neuen Herausforderungen angemessen umgehen zu können. Kaum etwas wird sich in den nächsten Jahren so dramatisch ändern wie die Rolle von Führung. In einer Welt, in der es immer wichtiger wird, Leistungsstärke mit Flexibilität und Kreativität zu verbinden, müssen Organisationen in der Lage sein, schnell zwischen zwei scheinbar inkompatiblen Aggregatzuständen zu wechseln. In der Phase der Ideenfindung und Informationssammlung (Invention) braucht ein Unternehmen die Möglichkeiten eines dezentralen Netzwerkes mit uneingeschränkter Beteiligung und maximalen individuellen Freiräumen. In der Phase der Entscheidung und Umsetzung (Innovation) braucht ein Unternehmen die Effizienz und Durchschlagskraft einer straff geführten Linienhierarchie. Führung muss in der Lage sein, dieses Spannungsfeld ohne Dämpfung des Ausprägungsgrades der beiden Prinzipien zu balancieren. Die Entwicklung und Anwendung der dazu notwendigen Werkzeuge ist auf eine intensive Kooperation zwischen HR und IT angewiesen.

Und welche Hilfestellungen und Tools bieten Sie selbst in diesen Bereichen an?

Das Unternehmen nextpractice setzt computergestützte Werkzeuge zur Nutzung kollektiver Intelligenz bei der Entscheidungsunterstützung und zur Förderung von kulturellem Wandel ein. Im nextpractice-Verständnis geht es bei kollektiver Intelligenz allerdings nicht um regelgeleitete Ordnungsbildung wie bei «Schwarmintelligenz» oder um statistische Schätzeffekte wie bei «Wisdom of the Crowd», sondern vielmehr um die Skalierung der Diskursqualität kleiner Expertengruppen auf möglichst grosse Grundgesamtheiten. Mit dem Interviewverfahren nextexpertizer haben wir eine Möglichkeit geschaffen, die Sichtweisen von mehreren hundert Menschen ohne einschränkende Vorgaben zu erfassen und mathematisch vergleichbar zu machen.

Wie funktioniert das?

Das Verfahren verbindet die Freiheit eines qualitativen Interviews mit den Auswertungsmöglichkeiten eines standardisierten Fragebogens. So kann die Führung ebenso eigene Entscheidungen über die intuitiven Einschätzungen von Kunden und Mitarbeitern absichern, wie die strategische Ausrichtung und das Commitment der Führungskräfte im Unternehmen transparent machen. Mit dem Moderationsverfahren nextmoderator ist es möglich, nahezu beliebig grosse Gruppen zu einem sozialen Gehirn zu verbinden. Das kann vor Ort und zeitgleich in einem lokalen Netzwerk (LAN) oder auch im Internet stattfinden. Veranstaltungen mit nextmoderator sind zwar hochstrukturiert, aber dennoch völlig ergebnisoffen und stellen bereits für sich genommen eine hilfreiche Übung in Sachen Kulturänderung dar. Zurzeit arbeiten wir an der Gestaltung einer neuartigen Plattform zur Stimulierung der Innovationskraft, die die drei Grundfunktionen intelligenter Systeme optimal realisiert: Mobilisierung, Vernetzung und Bewertung. Wir hoffen auch damit einen sinnvollen Beitrag zur Professionalisierung des Unternehmertums leisten zu können. Bei allen unseren Aktivitäten sind natürlich HR und IT die zentralen Ansprechpartner.

Der Gesprächspartner

Professor Dr. Peter Kruse ist Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen. Er ist geschäftsführender Gesellschafter des Methoden- und Beratungsunternehmens nextpractice.

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Tom Sperlich ist freier Journalist.

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