Im Gespräch

«Ich möchte nicht als Moralapostel auftreten»

Nach über 20 000 Jobinterviews und 30 Jahren an der Spitze 
seiner Firma gibt der Zentralschweizer Personalberater Jörg Lienert die operative Leitung ab. Mit HR Today zieht er Bilanz, spricht 
über sein Erfolgsrezept, die Skepsis gegenüber Assessments und erklärt, weshalb Headhunting nicht sein Ding ist.

Herr Lienert, Sie gelten als Lokalmatador der Zentralschweizer Personalberaterszene, haben aber auch in Zug, Zürich, Bern und Basel Filialen. Hat sich die Expansion gelohnt?

Jörg Lienert: Ja, es haben sich alle Niederlassungen gut entwickelt. Auch wenn es beispielsweise gerade in Zürich anfangs etwas harzig war. Zürich ist ein Haifischbecken mit sehr vielen Personalberatern. Gewisse Kunden nehmen aber gerne zur Abwechslung mal ein Innerschweizer Büro in Anspruch. Inzwischen sind wir seit über zehn Jahren in Zürich, und die Niederlassung ist für uns sehr wichtig geworden. Jetzt hat mein Sohn diese Filiale übernommen. Er hat in Zürich bei der CS im Recruiting gearbeitet, ist aber ursprünglich gelernter Hotelier. Das ist eine gute Voraussetzung, weil man in unserem Job auch Gastgeber sein muss.

Zu Ihren Mitbewerbern gehören Firmen wie Mercuri Urval, Humanis und die Wilhelm Gruppe. Wo positionieren Sie sich in dieser Liga?

Ich kann mit solchen Kategorien nicht viel anfangen. Wobei wir mit 25 bis 30 Mitarbeitenden sicher zu den Grösseren gehören in unserem Marktsegment. Als alle noch inserierten, waren wir punkto Inserateschaltungen sicher zuvorderst dabei. Wenn Sie den Honorarumsatz oder die Anzahl Mitarbeiter als Gradmesser nehmen, dann sind wir wahrscheinlich unter den ersten drei.

Wie würden Sie Ihr Marktsegment umschreiben?

Wir sind auf KMU ausgerichtet. Wenn die Novartis den Chef Asien sucht, rufen sie nicht uns an. Über 90 Prozent der Schweizer Firmen sind KMU. Zwei Drittel der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in KMU. Im KMU-Bereich kommt unsere Philosophie auch gut an, weil wir Kandidaten nicht direkt angehen. Kandidaten können sich allerdings bei uns in einer Bewerberdatenbank eintragen. Unsere Philosophie basiert auf der öffentlichen Ausschreibung unserer Mandate. Wir sprechen Leute niemals direkt an. Das ist ein wichtiger Grundsatz.

Warum ist Ihnen dieses Prinzip so wichtig?

Es wäre undenkbar, dass ich bei Unternehmen Leute abwerbe, die uns das Vertrauen geschenkt haben, für sie Personal zu suchen. Wenn ich jedoch Stellen öffentlich ausschreibe, ist es der freie Entscheid der Kandidaten, sich bei uns zu melden, weil sie sich verändern wollen. Wenn Sie hingegen Direktansprache betreiben, motivieren Sie jemanden, sich zu verändern. Das widerspricht meinem Verständnis von nachhaltiger Rekrutierung, weil ich finde, dass sich Kandidaten aktiv um eine Stelle bemühen sollten. Wenn ich jeden Kandidaten aktiv für eine Stelle motivieren muss, ist das für mich der falsche Ansatz.

Headhunting ist also weniger Ihr Fall?

Es braucht eine gewisse Dynamik und Aggressivität, um diesen Job zu machen. Ich und meine Mitarbeitenden sind vom Naturell her weniger so gepolt. Ich möchte da niemandem zu nahe treten und als Moralapostel auftreten, aber diese Art der Arbeit liegt mir nicht und wir sind mit unserem Konzept gut gefahren die letzten 30 Jahre.

Zur Person

Vom Einmannbetrieb, der «Personalcheffunktion für Dritte» anbot,  zum nationalen Player der Kaderselektion: Nach über 30 Jahren zieht sich Jörg Lienert (60) aus der operativen Leitung seines gleichnamigen Unternehmens zurück. Er übergibt die Führung seinem Stellvertreter und bisherigen Niederlassungsleiter der Filiale Zürich Markus Theiler, während sein Sohn Tobias (29) die Filiale in Zürich übernimmt. Jörg Lienert bleibt Inhaber, Verwaltungsratspräsident und «einfacher Mandatsträger» mit Spezialisierung auf Nachfolgelösungen für KMU.

Stichwort Naturell: Was hat Ihren Charakter geprägt?

Ich hatte durch meinen familiären Hintergrund schon früh eine starke Bodenhaftung und Naturverbundenheit auf den Weg bekommen und betreibe heute noch viel Bergsport. Ich bin auch ein leidenschaftlicher Tennisspieler mit viel Ausdauer, aber wenig Talent. Manchmal begleite ich auch meine Frau, wenn sie im Entlebuch auf dem elterlichen Hof beim Heuen hilft. Mein Vater war Förster und Naturwissenschaftler, während meine Mutter aus einer Bauunternehmerfamilie stammte. Ich bin in einem sehr offenen Haus aufgewachsen. Mein Elternhaus  in Sarnen stand ganz in der Nähe des Internats. Ich habe dort das Kollegium besucht und mit einem Handelsdiplom abgeschlossen. Viele Interne sind bei uns ein- und ausgegangen. Dabei haben meine Eltern oft eine Ersatzelternrolle eingenommen. Das hat mich geprägt.

Wie sind Sie mit dem HR in Berührung gekommen?

Ich wusste eigentlich schon während 
meines Wirtschaftsstudiums an der Luzerner HWV, dass ich eines Tages im Personalwesen arbeiten will. Wir hatten einen Dozenten, der in einem grossen Unternehmen Personalchef war, was mich sehr angesprochen hatte. Während eines Praktikums in einer Bauunternehmung habe ich zudem etwas in die Löhne hineingesehen. Meine erste Stelle hatte ich als Ausbildner beim Bankverein. Danach wurde ich Mitte zwanzig beim Baselbieter Bekleidungshersteller Hanro in Liestal Personalchef. Die Hanro war noch ein Familienbetrieb, der danach an eine österreichische Firma verkauft wurde. Ich musste damals, zu Beginn der 1980er-Jahre, bei der Hanro viele Leute abbauen und Sozialpläne machen. Das hat mich wahnsinnig geprägt. Wenn Sie als knapp 30-Jähriger 50-jährigen Männern die Kündigung eröffnen müssen, die in Tränen ausbrechen, dann sind Sie menschlich überfordert. Damals habe ich angefangen, mich mit der Idee der Selbständigkeit zu befassen, weil ich nicht von einem Arbeitgeber abhängig sein wollte.

Was war Ihre Geschäftsidee?

Meine Idee bestand darin, «Personalcheffunktion für Dritte» anzubieten. So lautete auch der Slogan meines ersten Prospekts. Ich habe für KMU die gesamte Personal-Dienstleistungspalette angeboten – inklusive Selektion, Löhnen, Zeugnissen und Austrittsgesprächen. Mit der Zeit hat mich der Selektionsbereich aber immer stärker interessiert, weshalb ich den Fokus auf die Selektion von Kader und Fachleuten verlagerte.

Was damals eine Marktlücke war?

Genau. In dieser Zeit entstand auch die Idee mit den Inseraten. Wahrscheinlich sind wir seit unserer Gründung jedes Wochenende mit einem Inserat in einer Zeitung erschienen. Von den Personalberatungsbüros, die heute noch in den Printmedien inserieren, schalten wir sicher am meisten Inserate. Das hat uns bestimmt geholfen, unseren Bekanntheitsgrad zu steigern. In den besten Zeiten schalteten wir Inserate im Wert von 3 Millionen Franken pro Jahr.  Heute sind es immer noch über 2 Millionen. Rückblickend darf ich sagen, dass sich die meisten unserer vermittelten Kandidaten auf Printinserate beworben haben.Warum diese Vorliebe für Print?

Print hat massgeblich zu unserem Erfolg beigetragen. Ich glaube, wir erhalten insgesamt die besseren Bewerbungen über Printinserate. Klar, finden Sie heute die gleichen Jobs auch online, aber dort müssen Sie aktiv in den Jobdatenbanken suchen. Beim Print spielt der Zufall eine grössere Rolle. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. Print war immer unser Schaufenster. Wobei mir bewusst ist, dass wir uns in einem Umbruch befinden.

Wie stehen Sie zu den Online-Kanälen und Social-Media-Plattformen wie Xing, Linked-In oder Facebook?

Diese Kanäle nutzen wir sehr wohl auch. Persönlich setze ich mich aber nicht mehr gross damit auseinander. Vielleicht später einmal. Im Moment könnte ich das alles aber gar nicht abarbeiten. Ich könnte all den Leuten, die auf diesen Plattformen auf mich zukommen, gar nicht mehr mit dem nötigen Respekt begegnen, weil ich das Gefühl habe, gar nicht allen gerecht werden zu können. Internet und E-Mail reichen mir. Es ist mir klar, dass ich ein Auslaufmodell bin. Aber das darf ich jetzt auch sein. Das ist nun die Aufgabe der Jungen. Ich muss nicht mehr der Treiber sein. Das wäre schlecht fürs Unternehmen. Man muss sich auch lösen können. Wir haben ein sehr gutes Team. Das macht es mir leichter loszulassen. Wenn ich jetzt die Chance nicht ergreife, die Äste des alten Baumes etwas herauszuschneiden, dann bin ich selber schuld. Mein Vater hat immer gesagt: Bäume brauchen Licht, sonst können sie nicht wachsen.

Welches Urteil fällen Sie, wenn Sie die HR-Ausbildung im Rahmen Ihres Wirtschaftsstudiums der 70er-Jahre mit der heutigen HR-Ausbildung vergleichen?

Es war sicher rudimentärer. Wir haben Einblick erhalten ins Tätigkeitsfeld eines Personalchefs. Über die Jahre hat sich dieses Feld enorm entwickelt. Ein Thema, das im Personalwesen seit meiner Zeit als junger Personalchef immer noch diskutiert wird, ist das Anliegen, dass das HR in die Geschäftsleitung gehören sollte. Wahnsinnig viel weiter sind wir in der Beziehung nicht gekommen. Hin und wieder wird das HR der erweiterten Geschäftsleitung angegliedert, oft aber immer noch dem Finanzchef unterstellt.

Ein Evergreen?

Ich kann natürlich nicht für alle Betriebe sprechen, aber mir sind doch einige aufgefallen, wo sich in dieser Hinsicht nichts verändert hat. Eher sogar im Gegenteil, wenn etwa bei Reorganisationen HR-Abteilungen verschlankt und dem Finanzwesen unterstellt werden. Aus meiner Sicht hat das HR nie das Gewicht erhalten, das es eigentlich verdient. Ich nehme die Branche schon so wahr, dass eine gewisse Unzufriedenheit herrscht, weil man sich immer noch zu wenig ernst genommen fühlt.

Wo orten Sie Gründe für dieses Phänomen?

Geschäftsleitungen bestehen heute gewöhnlich aus einem CEO, Finanzchef, Verkaufschef und Produktionschef. Die haben natürlich alle ihr Gewicht. In diesem Kontext werden die sogenannten «internen Dienstleistungen» halt oft nicht so stark gewichtet. Der Personaler ist mehr indirekt aktiv. Indem er die Leute fördert und die Richtigen am richtigen Ort platziert. Das Resultat dieser Arbeit ist nicht so unmittelbar zu sehen und auch schwierig zu messen. Die Fluktuationsrate beispielsweise ist nur bedingt eine zweckmässige Kennziffer, um HR-Leistungen zu messen. Denn bei einer hohen Fluktuation kann ja nicht nur der HR-Verantwortliche schuld sein. Fluktuation hat viel mit der Kultur zu tun, mit der Führung der Leute, mit dem Respekt, den sie erhalten. Darauf kann er ja nur immer wieder aufmerksam machen, aber er wird niemals die unmittelbare Stosskraft eines Linienmenschen haben. Er bleibt ein interner Supporter.

Können Sie hochrechnen, wie viele Interviews Sie in Ihrer Karriere geführt haben?

Es gab strube Zeiten, wo ich an einem Tag acht Interviews hatte. Das habe ich vielleicht zehn Jahre lang gemacht. Insgesamt waren es wohl etwa 20 000 Interviews. Ich sage immer, es war wohl ein Regiment (lacht). Ich freue mich heute noch auf jedes Gespräch.

Apropos Militärsprache: Welche Bedeutung hat das Militär für Sie persönlich und welche Rolle spielt es heute bei der Personalrekrutierung?

Ich hatte in der Familie zwar hohe Militärs, war selber jedoch als 68er mit langen Haaren aufgewachsen und habe in jener Zeit entsprechend rebelliert. Mein oberstes Ziel war es, nicht weitermachen zu müssen. Man hat mich dann gezwungen. So bin ich Fourier-Gehilfe geworden. In der Personalselektion hatte das Militär früher möglicherweise einen zu hohen Stellenwert. Aber wenn mir eine gute Persönlichkeit mit gutem Leistungsausweis gegenübersitzt, die auch noch im Militär eine Führungsfunktion hat, dann ist das heute noch immer ein gutes Mosaiksteinchen. Wobei der militärische Dreiklang «kommandieren, kontrollieren, korrigieren» nicht mein bevorzugter Führungsstil ist.

Mit welchen Methoden arbeiten Sie?

Mit dem sogenannten «Lienert-Loop». Dazu gehören verschiedene Interviewinstrumente und Selbstbeurteilungstools, die wir jeweils individuell mit spezifischen Fragestellungen zur konkreten Aufgabe kombinieren. Zudem lassen wir in manchen Fällen noch ein graphologisches Gutachten erstellen. Auch wenn heute in der Branche viele nichts mehr davon halten. Auch die Resultate der Assessments muss man immer relativieren.

Inwiefern?

Wir haben keine Psychologen bei uns im Team. Ich erinnere mich an eine Geschichte, als ich eine ziemlich prominente Führungsposition zu besetzen hatte. Das war vor etwa zehn bis fünfzehn Jahren, als die Assessments aufkamen. Vom Bauch her hab ich irgendwie gespürt, dass das mit dem favorisierten Kandidaten nicht gut kommt, mit seiner Art in dem betreffenden Umfeld. Er hatte jedoch ausgezeichnete Assessments absolviert und wurde vom Verwaltungsrat auch einstimmig gewählt. Ich hatte damals eine Art Hochachtung gegenüber diesen Assessments. Deshalb habe ich nichts gesagt und drei Monate später hat es geknallt. Da habe ich viel gelernt.

Und zum Assessment-Skeptiker geworden?

Ich habe nichts gegen Assessments. Aber es sollte nicht zu einer Test-Gläubigkeit ausarten, die dazu führt, dass man sich in einer falschen Sicherheit wiegt und die ganze Verantwortung auf die Assessments schiebt. Man kann sich nicht einfach der Verantwortung entziehen. Psychologische Tests sind keine exakte Wissenschaft.

Gibt es etwas, was Sie rückblickend auf Ihre Karriere bedauern?

Dass es mir leider nur selten gelungen ist, auch Quereinsteiger unter die Lupe zu nehmen. Manchmal  kommt ein Lebenslauf, der nicht genau das bietet, was ein Profil fordert, zu schnell auf die falsche Seite. Ich habe einfach nicht herausgefunden, wie ich die herauspicken könnte. Aber es gibt Leute, für die ich die Hand ins Feuer legen kann. Auch wenn es manchmal noch einen Mangel gibt in einer Fachkompetenz, ich weiss, der oder die holt das auf. Beispielsweise ein ehemaliger Devisenhändler bei einer Grossbank, der mal die Sozialarbeiterschule und früher die Handelsschule besucht hatte: Er ist Direktor eines Blindenheims geworden. Inzwischen ist er seit 20 Jahren dort und macht einen sensationellen Job. Solche Fälle haben mich bestärkt, auch unkonventionelle Wege zu gehen. Deshalb reut es mich heute vielleicht ein wenig, weil man sich schlussendlich doch überwiegend an die Hard Facts gehalten hat. Aber wenn ein Kunde einen Ingenieur will, obwohl es für den Job vielleicht auch einen guten Ethnologen gäbe, dann müssen Sie irgendwann einschwenken. Oder wenn er Russisch können muss, dann muss er Russisch können, basta.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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