HR Today Nr. 5/2018: Im Gespräch

«Ich plädiere für schonungslose Führung»

Pascal Scherrer ist seit 2011 Programmleiter von Radio SRF 3. Drei Viertel seines 50-köpfigen Teams gehören der Generation Y an. Ein Gespräch über seine praktische Leadership-Erfahrung im Umgang mit einer herausfordernden Generation.

Herr Scherrer, wann haben Sie angefangen, sich für Führungsfragen zu interessieren?

Pascal Scherrer: Gemeinsam mit anderen Menschen Ziele erreichen, das war für mich schon als 14-jähriger Pfadileiter lustvoll. Schon damals zeichnete sich ab, was Dritte im Umgang noch heute mit mir empfinden: Jene, die es gut mit mir meinen, bezeichnen mich als «leidenschaftlich und mitreissend». Andere, die meine Führungsleistung kritischer beurteilen, nennen mich «überambitioniert».

Überambitioniert?

Ich habe etwas gegen Mittelmass. Und verlange mir und meinen Mitarbeitenden deshalb einiges ab. Ohne Inspiration und – im übertragenen Sinne – auch Transpiration kommt man nicht zu ausserordentlichen Resultaten. Reflektiert habe ich das zum ersten Mal als Redaktionsleiter von Radio 24 unter der Leitung von Roger Schawinski.

Apropos Roger Schawinski: Hat er Ihren Führungsstil geprägt oder war dieser in Ihnen quasi angelegt?

Es gibt sicher keine Kausalität. Aber ebenso sicher ist, dass Roger und ich aufgrund unserer Typähnlichkeit gut zusammengearbeitet haben. Beide sind wir leidenschaftliche Überzeugungstäter. Und beide leben wir Werte wie Selbstverantwortung oder Leistungswille.

Sie führen heute ein 50-köpfiges Team, das zu drei Vierteln aus Vertretern der Generation Y besteht – also aus der Generation der 1980 bis 2000 Geborenen, die heute zwischen 18 und 38 Jahre alt sind. Sie sind 1973 geboren und zählen zur Generation X. Was sind die Unterschiede zwischen X und Y?

Für ein besseres Verständnis spitze ich bewusst zu und mache Schwarz-Weiss-Aussagen: Meine Generation ist aufgewachsen in der Nachwelle des Wirtschaftswunders. Wir sind leistungs- und auch leidensbereit. Wir sind im Zweifelsfalle leise, keine guten Verkäufer, nicht immer selbstbewusst. Wir sehen uns stark als Teil eines Ganzen und nehmen uns nicht zu wichtig. Die Generation Y ist fordernder sowie skeptischer und hat eine höhere Freiheitsorientierung. Sinnstiftung ist für die Y-er ungleich wichtiger als für uns X-er. Die Millennials, wie man die Vertreter der Generation Y auch nennt, haben am Arbeitsplatz deshalb einen höheren Anspruch auf Nachvollziehbarkeit.

Wie reagieren Sie in Ihrem Führungsalltag auf diese Anspruchshaltung?

Ich versuche, mehrschichtig zu führen. Nicht zu weich und nicht zu hart. Ich arbeite unglaublich gerne mit den Millennials zusammen. Zwar sind ihre Ansprüche durchaus hoch – aber so verhält es sich auch mit ihrer Leistungsbereitschaft und ihrem Engagement.

Gibt es einen Schlüsselmoment, wo Sie gemerkt haben, dass da eine neue Generation heranwächst?

Ja, den gibt es. Vor etwa fünf Jahren habe ich die tollen Resultate eines Mitarbeiters gelobt und ihn gleichzeitig eingeladen, noch mehr zu leisten und sein Potenzial besser auszuschöpfen. Nach zehn Minuten sagte mir mein Kollege: «Bitte vergiss nicht, dass ich von der Generation Y bin. Du forderst viel – ich aber habe viele Fragen. Warum soll ich das alles machen? Wie soll ich es machen?» – Meine etwas harsche Antwort war: «Wenn du so viele Fragen hast, dann musst du nun dringend Antworten suchen.»

Warum war das harsch?

Heute würde ich empathischer reagieren. Ich würde zuhören, anleiten und mit dem Mitarbeiter reflektieren, statt ihn alleine sitzen zu lassen. Als Führungskraft habe ich mich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Statt viel zu reden, höre ich zu und stelle Fragen.

Was sind Ihre Haupterkenntnisse und Empfehlungen im Umgang mit der Generation Y?

Zuerst meine Erkenntnis: Es gibt keine schlechten Generation-Y-Mitarbeitenden – sondern nur schlechte Chefs. Immer wieder höre ich von Führungskolleginnen und -kollegen, dass der Umgang mit der Generation Y anspruchsvoll bis unerträglich sei. Wenn ich jeweils tiefer bohre, stelle ich fest: Das Problem ist nicht der Millennial, sondern der Chef. In neun von zehn Fällen beginnt Führungsversagen nicht beim Mitarbeitenden, sondern beim Führenden. Nun zu meiner Empfehlung: Im Umgang mit der Generation Y plädiere ich für den Grundsatz der schonungslosen Führung. Achtung: Schonungslosigkeit darf nicht verwechselt werden mit Brutalität. Aber schonen heisst, jemanden nicht ernst und nicht für voll nehmen. In der Natur werden nur Tiere geschont, die ein gebrochenes Bein haben oder sonst dysfunktional sind. Die Millennials hingegen wollen das genaue Gegenteil von Schonung. Sie wollen ernst genommen werden. Im Umkehrschluss bedeutet ernst nehmen, dass man die Mitarbeitenden in die Pflicht nimmt. Es mag etwas altmodisch tönen, trotzdem bin ich überzeugt: Würde ohne Bürde gibt es nicht. Genauso wenig wie Vertrauen ohne Verantwortung.

Sie plädieren also für ein Comeback klassischer Tugenden?

Ich benutze solche Sentenzen im Alltag mit meinen Millennials nicht im Wortlaut, denn sie tönen arg ältlich. Aber ich versuche, meine damit zusammenhängenden Werte zu teilen. Wenn jemand schon fünf Monate nach Arbeitsstart mit einem Sabbatical-Wunsch auf mich zukommt, erkläre ich, weshalb das noch nicht geht. Manchmal muss ich dem einen oder anderen Kollegen helfen, seine Selbstwahrnehmung zu schärfen und sich richtig einzuschätzen. Denn Selbst- und Fremdbild sind – gerade bei der durchaus selbstbewussten Generation Y – nicht immer deckungsgleich. Aber daraus kann man ihnen nicht mal einen Strick drehen. Ich nenne die Generation Y auch die «Generation Umworben». Die Millennials sind aufgewachsen im Bewusstsein, vom Markt umworben zu sein – von einem Markt notabene, der sich gerade im Bereich der Konsumgüterindustrie ab Mitte der 80er-Jahre massiv von einem Verkäufer- hin zu einem Käufermarkt entwickelt hat. Noch viel stärker umworben waren und sind die Millennials von ihren Eltern. Die Gleichung lautet: weniger Kinder, mehr Aufmerksamkeit, höhere Anspruchshaltung. In unserer Gesellschaft – ich spreche als Vater eines Einzelkindes – sind Kinder spätestens mit der Generation Y zu einem Grossprojekt der elterlichen Selbsterfüllung geworden.

Was bedeutet dies für die Führung der Generation Y ganz konkret?

Gute Generation-Y-Führung ist immer mehrdimensional. Nur «harte Schule» oder «Therapeutenansatz» geht nicht. Erfolgversprechender ist Führen vor dem Hintergrund von dem, was ich als «Sowohl-als-auch-Paradigma» bezeichne. Sie müssen Ihren Mitarbeitenden zuhören – und wenn nötig einen Punkt setzen. Sie müssen fördern – aber auch fordern. Sie müssen Räume öffnen – und wenn nötig Grenzen setzen. Wichtig dünkt mich auch, eine hochgradig individualisierte Führung zu praktizieren: Mit der einen Person rede ich am zielführendsten bei einem Bier in der Beiz. Mit einer anderen Person am Mittag auf einem Spaziergang. Und mit einer dritten kommuniziere ich frühmorgens per Whatsapp.

Als Führungskraft versetze ich mich in meine Mitarbeitenden hinein und überlege, wie ich am zielgerichtetsten mit ihr oder ihm arbeite. Als Chef müssen Sie sich und Ihr Selbstbild permanent reflektieren. Sie müssen es schaffen, Sinn zu stiften. Und Sie müssen lernen, zu argumentieren – gerade wenn Sie der Generation X angehören oder älter sind und ihnen dies nicht in die Wiege gelegt wurde. Denn die Millennials sind die besten Verhandler, Debattierer und Argumentierer. Sie sind es gewohnt, alles und jeden in Frage zu stellen. Mit Argumentieren meine ich übrigens nicht zwingend das Führen von stundenlangen Diskussionen. Als Vorgesetzter definiere ja ich den Ordnungsrahmen. Wenn jemand zum vierten Mal mit dem immer gleichen Thema zu mir kommt, dann erlaube ich mir auch einmal zu sagen: «Weisst du was, wir haben nun drei Mal darüber gesprochen, ich rede mit dir jetzt auch noch ein viertes Mal, es ist dann aber für die nächsten vier Monate auch das letzte Mal. Punkt.» Wir Führungskräfte müssen Grenzen setzen. Im Gegenzug müssen Sie mit einer allfälligen Frustration leben, die beim Mitarbeiter zurückbleiben mag. Wer sich als Führungskraft zum Ziel setzt, bei niemandem auch mal Frust auszulösen, der kann nicht führen.

Was hat Sie dazu bewegt, mit der Leadership-Thematik in Seminaren und Artikeln die Öffentlichkeit zu suchen?

Das Thema liegt mir am Herzen. Es mag pathetisch klingen, aber ich möchte etwas beitragen zu einer besseren Arbeitswelt. Zumal der Handlungsdruck offensichtlich da ist. Egal, ob beim Apéro, im Verein oder auf dem Familienfest: Das Thema Führungsinkompetenz fehlt an keinem Anlass. Schlechte Chefs sind ein echtes Problem. Nicht nur menschlich, sondern auch betriebswirtschaftlich – auch wenn es zu letzterem Punkt leider kaum Empirie gibt.

Was kann HR in diesem Kontext beitragen?

Vorbeugen ist besser als heilen. Deshalb muss alle Energie auf die «Eintrittspforte» in ein Unternehmen gerichtet sein – also auf das Recruiting. Ich achte immer weniger auf den Lebenslauf. Gerade bei den Millennials sind die CV uniformer geworden in den letzten Jahren und sehen auf den ersten, zweiten und dritten Blick ähnlich aus. Klar, denn dank der Fachhochschulen hat inzwischen fast jede und jeder irgendeine Form von Studium hinter sich. Hinzu kommen aussercurriculäre Aktivitäten als Pflichtprogramm. Die CVs machen heute nicht mehr den Unterschied. Umso wichtiger ist es herauszufinden, wer sich hinter einer Bewerberin oder einem Bewerber verbirgt. Welche Werte, Kompetenzen und Fähigkeiten diese Person ausmachen, um zu entscheiden, ob die Kandidatin ins Unternehmen passt. Ein probates Mittel, um den Blick weiter zu schärfen: Probe arbeiten. Auch am andern Ende der Fahnenstange ist HR-Support wichtig, wenn es darum geht, sich von den falschen Mitarbeitenden zu trennen. Denn obschon ich stets für Zuhören, Verstehen und Ermöglichen bin, gibt es den seltenen Fall, wo getrennte Wege angezeigt sind. Schlimm sind Mitarbeitende, die ihre Leistung bringen könnten, dies aber nicht wollen. Solche Menschen wirken in jeder Organisation zersetzend.

Wie lautet Ihre Botschaft ans HR?

Finden Sie die richtigen Mitarbeitenden. Immer wieder lese und höre ich, dass die Mitarbeitenden das Wichtigste seien. Das ist falsch. Das wichtigste sind die richtigen Mitarbeiter. Das ist ein bedeutender Unterschied. Was heisst nun richtig? Richtig ist, wenn es passt. Und passen tut es, wenn sich die Werthaltungen einer Person einfügen in den kulturell-normativen Rahmen einer Organisation. Konflikte entstehen bekanntlich meist, wenn Werte verletzt werden. Deshalb ist diese Passung so wichtig. Wer als Führungskraft nicht die richtigen Mitarbeitenden hat, vergeudet viel Energie. Auch der radikalste Schritt, die Trennung von einem Mitarbeitenden, kostet in der Regel Kraft und Zeit. Ich kenne ausschliesslich Führungskräfte – mich eingeschlossen –, die sagen, dass sie bei den falschen Mitarbeitenden stets zu spät oder zu wenig radikal gehandelt 
haben. Selbst der ehemalige UBS- und CS-CEO Oswald Grübel, er gilt ja als durchsetzungsstark und wenig zimperlich, hat mir dies unlängst 
bestätigt.

Sie sprechen aus eigener Erfahrung?

Ich habe schon einige Male zu lange zugeschaut in der Hoffnung, dass es doch noch gut kommt. Heute versuche ich, klar zu formulieren, dass es bei mir nicht nur eine erste Chance gibt, sondern auch eine zweite und dritte. Aber niemals eine vierte. Diese Konsequenz passt übrigens zur Erfahrung, die unlängst ein HR-Profi aus der Private-Banking-Industrie mit mir geteilt hat: Bei neun von zehn Mitarbeitenden zeichnete sich der spätere Erfolg oder Misserfolg schon in der Probezeit messerscharf ab. Wer also zu Beginn die Resultate nicht bringt, bringt sie auch nach Jahren nicht. Und wer schon von Anfang an eine Überfliegerin ist, bleibt dies während der ganzen Anstellungszeit. 

Ihre Tochter ist 15 Jahre alt und gehört zur «nächsten» Generation Z. Was wächst da für eine Generation heran?

Erste Arbeiten aus den USA deuten darauf hin, dass wir mit einem Backlash rechnen müssen. Das ist mir auch bei meiner persönlichen Betrachtung der Dinge klar. Die Generation Y ist etwas Einzigartiges. Sie ist aufgewachsen in einer Zeit der entfesselten Globalisierung, die in ihrer Anfangsphase vor allem Chancen und einen enorm hohen Wohlstand gebracht haben – wenigstens in unseren westlichen Gesellschaften. Bei der Generation Z wird das Pendel wohl zurückschlagen. Angesichts von mehr Unsicherheit in einem geopolitischen und auch ökonomischen Sinne dürfte die Generation Z der Generation X viel näher sein. Ich sehe mehr Demut und Bescheidenheit auf uns zukommen und kann mir vorstellen, dass Sinnsuche und Sinnstiftung als wichtigste Postulate der Generation Y an Bedeutung verlieren werden – aufgrund der Macht des Faktischen.

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Ehemaliger Chefredaktor HR Today.

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