HR Today Nr. 7&8/2019: Digitale HR-Organisation

Im Zeitalter der Digitalität gibt es keine «Gatekeeper» mehr

Zwischen Digital Natives und Digital Immigrants existieren viele Klischees und Vorurteile. Doch nicht alles, was gestern war, ist heute überflüssig geworden. Dennoch gelten neue Regeln.

Die Cyborgs sind längst unter uns: Mischwesen aus Organismus und Maschine bevölkern Büros, Schulen und Ausbildungsstätten. Sie gehören in der Regel einer jüngeren Generation an, sind oft noch in Ausbildung oder im Studium und besetzen selten einen Chefposten. Man erkennt sie ziemlich leicht: Ihr Handy ist zum ergänzenden Körperteil geworden. Selten geben sie es aus der Hand. Es ist ihr zentrales Kommunikationsinstrument, ihr zentrales Medium und ihre Wissensquelle zugleich.

Cyborgs sind Wesen der Digitalität. Anders als ihre älteren Zeitgenossen haben sie den Transit von der analogen zur digitalen Welt nicht mehr mitgemacht. Sie sind in ein Stadium der flächendeckenden Implementierung digitaler Medien in sozialen, kulturellen und politischen Bereichen hineingeboren.

Wir haben es also mit einer echten Generationengrenze zu tun. Cyborgs auf der einen Seite, Menschen, die ihnen gegenüber zumeist in einer Vorgesetzten- oder Lehrerposition stehen, deren Sozialisation jedoch noch im analogen Zeitalter geschah, auf der anderen. Auch sie benutzen digitale Medien, doch nicht selten mit einer gewissen Skepsis wie auch Zurückhaltung – und ihr Daumen wischt längst nicht mit jener scheinbar angeborenen Sicherheit und Geschwindigkeit über den Touchscreen.

Leicht belächeln Cyborgs ihre älteren Zeitgenossen und sprechen von mangelnder digitaler Kompetenz. Hüben wie drüben verstellen Klischees und Vorurteile aber den Blick. Während die einen ihre digitalen Kompetenzen überschätzen, hat die Skepsis der anderen durchaus ihr Gutes. Aber es kann nicht schöngeredet werden: Seitens Digital Immigrants, die aus der analogen in die digitale Welt eingewandert sind, besteht in mancherlei Hinsicht Nachholbedarf.

Anderes Rollenverständnis

Zunächst zu den überschätzten Kompetenzen: Wer mit dem Handyfortsatz durchs Leben geht, ist nur zum Teil ein echtes Wesen der Digitalität, denn dieses setzt auch eine kritische Reflexion voraus. Die Selbstverständlichkeit, mit der man Google aufruft, um Informationen zu erhalten oder die Aussagen eines Lehrers oder einer Vorgesetzten zu verifizieren – oder gar widerlegen – zu können, ist nicht selten ein Ausdruck mangelnder Medienkompetenz. Fake-News und die Manipulationen der Wirklichkeit gibt es zwar, seit es Medien gibt.

Doch Manipulationen oder Falschaussagen zu erkennen, ist nicht leichter geworden: im Gegenteil. Die ständige Wiederholung von (nachweislich falschen) Behauptungen macht solche zwar nicht wahrer, aber sie verschafft ihnen Glaubwürdigkeit. Damit werden heute Wahlen gewonnen oder gar Abstimmungen gelenkt.

Die Auseinandersetzung mit digitalen Wissensquellen und deren produktiven Einsatz ist für die Generation der Digital Natives keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Ausbildende, Lehrerinnen und Lehrer sind gefordert, was nicht jedem leicht fällt: Weder mit einem Rückbezug auf die analoge Zeit noch mit didaktischen Ansätzen der Vergangenheit lässt sich das machen. Allen voran müssen sich viele Digital Immigrants daran gewöhnen, dass die Digitalität ein anderes Rollenverständnis verlangt. Das zu akzeptieren, ist viel schwerer, als sich die Bedienung eines Handys oder eines Tablets anzueignen.

Damit ist auch gesagt, dass es mit der Möblierung von Ausbildungsstätten mit digitalen Geräten nicht getan ist. Digitalität bedeutet vor allem, dass digitale Medien selbstverständlich die Unterrichtsmethoden und den Umgang prägen. Das bedeutet beispielsweise, dass das Internet als Quelle grundsätzlich zur Verfügung steht und genutzt werden soll, gleichzeitig aber hinterfragt werden muss – nicht im Sinne einer Totalverweigerung, sondern aufgrund von Quellenverständnis und der Kenntnis der Funktionsweisen des Internets.

Vorbilder werden nicht überflüssig

Vor allem aber gilt: Als Ausbildende oder Lehrperson besitzt man keine Gatekeeper-Funktion mehr. Und das sollte auch Konsequenzen haben, bis hin zum Bespielen von Präsentationsmedien: Der Beamer dürfte beispielsweise nicht mehr nur von einer Person, die einmal Autoritätsperson genannt wurde, gesteuert und somit als monopolisierte Projektionsfläche einer einzigen Wissensinstanz genutzt werden. Vielmehr muss ein solcher Beamer von allen angesteuert werden können. Das heisst: Digitale Medien führen zur Demokratisierung, während traditionelle Rollenverständnisse zwischen Lehrpersonen, Vorgesetzten oder Lernenden zerbrechen.

Anzufügen ist, dass auch jüngeren Lehrpersonen der Verlust von althergebrachten Rollen nicht immer leichtfällt. Kein Wunder: Was sie selbst an Unterricht erlebt haben, hat sie nicht darauf vorbereitet. Die analoge Welt hält sich in Schulen aller Stufen mit erstaunlicher Hartnäckigkeit bis hin zur Ausbildung von Lehrpersonen. Aber es führt kein Weg an der Digitalität vorbei. Und so ist letztlich die Weiterbildung gefordert, entsprechende Angebote für Ausbildende und 
Kaderleute zu schaffen und anzubieten. Als Verband der 
Weiterbildung und Trägerin des AdA-Baukastens (Ausbildung der Ausbildenden) hat der SVEB die Zeichen der Zeit erkannt und das Weiterbildungsmodul «Lernprozesse digital unterstützen» geschaffen. Der Zuspruch, den das Modul 
bereits in der Pilotphase erfahren hat, spricht für ein ausgeprägtes Interesse.

Neugierde, sich mit den neuen Verhältnissen, welche die Digitalität begleiten, auseinanderzusetzen, ist wichtig und für Digital Immigrants wohl eine Art Überlebenshilfe. Wer sich auf die Digitalität einlässt, wird überdies feststellen, dass 
früher keineswegs alles besser war. Ein stärkerer Fokus auf kollaboratives Lernen und Arbeiten, das durch die digitalen Medien befördert wird, ist ein Gewinn – und lässt Wissen auf andere Art entstehen. Zum Trost derer, die sich vor Autoritätsverlust fürchten, sei gesagt: Vorbilder werden auch in der digitalen Welt nicht überflüssig. Sie können sich heute einfach nicht mehr hinter der Maske des überlegenen Wissens verstecken.

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Ronald Schenkel ist Leiter Kommunikation, Marketing und Events sowie Mitglied der Geschäftsleitung des SVEB.

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