Jeder ist ein Martin Scorsese: Das Medium Film als Beratungsinstrument
Was jeder Kinoliebhaber weiss: Film transportiert Emotionen und dank der Bilder können Botschaften wirksamer und nachhaltiger vermittelt werden. Ein Effekt, dessen sich Beratung mit Film bedient. Ein Beispiel aus der öffentlichen Verwaltung, bei dem junge Führungskräfte ihre eigenen Kurzfilme drehten und damit die Führungskultur veränderten.

Das Medium Film wird als Anstoss für Veränderungen vor allem top-down genutzt: Auf Kader-Events werden Videos gezeigt, um die Führungskräfte zu aktivieren. Und auch die Transition der UBS ist undenkbar ohne Oskar Grübels wöchentliche Corporate-TV-Ansprachen zum Pflicht-Download für alle Mitarbeitenden. Eine andere Methode geht einen Schritt weiter. Vor oder hinter der Kamera können auch ganz normale Mitarbeitende stehen und so Einblicke in den «Bauch» des Unternehmens füreinander oder für die Chefetage gewähren.
Beim Filmemachen das eigene Führungsverhalten reflektieren
Filme machen die gefühlte Realität der Mitarbeitenden eines Betriebs sicht- und somit bearbeitbar. Sie wirken nicht nur gemeinschaftsbildend, sondern geben den Menschen auch ein Gesicht, Geschichten und Wertschätzung. Sie können sichtbar machen, woran eine Unternehmung krankt, und so wichtige Impulse für Veränderungen geben. Dazu können verschiedene Arten von Filmen zum Einsatz kommen, die jeweils ihre Funktion und ihren Anlass haben (siehe Tabelle unten).
Im Fallbeispiel einer Organisationseinheit der öffentlichen Verwaltung (OöV) (1) war eine Mitarbeiterumfrage Ausgangspunkt des Projekts. Diese zeigte Handlungsbedarf im Themenfeld «Führung». Die Geschäftsleitung wollte daraufhin konkrete Hinweise auf die brennenden Themen und entsprechende Lösungsansätze. Als wichtigste Zielgruppen für Veränderungs- und Führungsarbeit identifizierte das Prozessteam die Nachwuchsführungskräfte und die jungen Projektleiter. Beide Gruppen wurden eingeladen, im Rahmen je einer Videowerkstatt einen hausgemachten Film zu produzieren – und damit den Grundstein für den gesamten Beratungsprozess zu legen.
Aufgabe der Teams war es, in zwei Tagen je einen Film zum Thema Führung zu drehen. Weitere Vorgaben über Inhalt, Darstellungsform etc. gab es nicht. Dabei stand auf der einen Seite das konkrete Produkt – 7- bis 12- minütige Filme, auf der anderen Seite war der Workshop selbst auch Teil der Führungsausbildung in der Organisation. Während die Mitarbeitenden den Prozess vom Filmkonzept über Dreharbeiten, Schnitt bis zur Vorbereitung der Filmdistribution selber an die Hand genommen haben, erhielten sie von einem Team aus internen und externen Beratern Inputs und Feedback. Mit dem Ziel, das eigene Führungsverhalten im Rahmen der Herausforderung Filmproduktion reflektieren zu können, um die Erkenntnisse direkt im Film sichtbar werden zu lassen.
Darüber hinaus war es Zielsetzung der Videowerkstatt, die Mitarbeitenden mit ihren Themen und inneren Bildern abzuholen. Schon während der Dreharbeiten zeigte sich der erste positive Effekt: Nach anfänglicher Unsicherheit entwickelten die Mitarbeiter Freude am Medium und am kreativen Prozess und genossen den Freiraum, ihre Botschaften rüberbringen zu können. Ein zweiter Effekt beim gemeinsamen Filmdreh: Die Menschen engagieren sich gerne, weil sie damit rechnen können, mit ihren Ansichten in der Organisation wahrgenommen und erinnert zu werden. Oder anders gesagt: Verschiedene Mitarbeitergruppen nutzen den kreativen Spielraum der Videowerkstatt, um die positive Veränderung in ihrem Sinne mit anstossen zu können.
Wenn der Chef beginnt, sich für seine Mitarbeitenden zu interessieren
Das Team der Nachwuchsführungskräfte lud weitere Mitarbeiter zum Filmdreh ein, die ebenfalls etwas zum Thema Führung zu sagen hatten. Im Film entstand so eine Sequenz, die relativ schnell zu greifbaren Veränderungen in der Organisation führte: Eine Sekretärin erzählte begeistert von einem ehemaligen Chef, den sie verehrte: «Er konnte Mitarbeiter und ihre Themen beim Namen nennen.» Um die Sprengkraft dieser Botschaft zu begreifen, musste man wissen, was alle in der Organisation spürten, aber nicht benennen konnten: Seit drei Jahren amtete ein neuer Leiter. Er kam aus einem Wirtschaftszweig, in der eine perfekte Power-Point-Präsentation alles und Beziehungsarbeit wenig wert war. Er kannte Namen und Anliegen unterer Chargen nur sporadisch. Die Botschaft der Sekretärin via Film kam bei ihm an. Er reagierte souverän und nahm den Ruf nach einem menschlicheren Führungsprofil auf. Fortan wurde er regelmässiger Gast in Bereichssitzungen, begegnete auch nicht direkt unterstellten Mitarbeitern mit persönlicher Wertschätzung und liess sich schon mal mit Champagner im Gepäck an Sitzungen sehen.
Solche lebendigen Geschichten sind es, die die Wünsche und Nöte der Mitarbeitenden sichtbar machen: Geschichten, in denen die Mitarbeitenden und auch die Vorgesetzten sich und ihren Arbeitsalltag wiedererkennen. Durch die Kraft der bewegten Bilder kommen Botschaften eher an und wirken noch länger nach. Und nur was wirklich wahrgenommen wird, kann sich auch verändern. Dabei kommen oft auch Bilder an die Oberfläche, die tiefer liegende Prozesse beschleunigen, welche zu Beginn des Beratungsprojekts noch gar nicht sichtbar waren.
Die inneren Bilder, die eine Organi sation prägen, werden sichtbar
Die zweite Zielgruppe der jungen Projektleiter produzierte einen Film mit dem selbstironischen Titel «Spiel mir das Lied von der OöV». Eine siebenminütige Endlosschleife zeigte eine Minitatur der Betriebskultur: wie OöV-Veränderungsprozesse bislang meist abliefen und wodurch jeweils Spannungsmomente entstanden.
Der Film kam als Mahnung rüber: «So läuft es hier immer, schon vergessen?» Und als Appell: «Lasst es uns diesmal bitte besser machen.» Als Produkt von zwei Workshop-Tagen wurde so in wenigen Minuten auf den Punkt gebracht, was ganze Abteilungen über lange Zeiträume lähmte. Unzählige kurze Episoden aus dem Projektalltag illustrierten das immer grösser gewordene Spannungsverhältnis zwischen von oben vorgegebenen Anforderungen an die Projektleiter und ihrer seit Jahren immer kleiner werdenden Handlungsfreiheit. Zwischen dem Kerngeschäft Projektmanagement und der Linienführung, die oft in Personalunion betrieben werden, klafft ein Führungsvakuum. Der Film kam so gut an, dass die stolzen Workshop-Teilnehmer selber Kopien von «Spiel mir das Lied von der OöV» anfertigten, die dann in praktisch jeder Teamsitzung im Amt quer über alle Hierarchiestufen gezeigt und besprochen und informell weiter verbreitet wurden und so eine Eigendynamik entwickelten.
Auf dem Weg zu erfolgreichen «Behandlungsschritten», sprich zur nachhaltigen Verbesserung des Status quo, wirkten die Produkte der Videowerkstatt wie das Kontrastmittel bei einer Röntgenuntersuchung. Plötzlich war für alle sichtbar und nicht mehr wegzudiskutieren, welche inneren Bilder die Organisation bisher geprägt hatten. Und jene, die die Diagnose gestellt hatten, waren gleichzeitig die, die tatsächlich etwas verändern können.
Das weitere Vorgehen war zweigleisig: Einerseits reagierte der Leiter der Organisation auf eine Reihe von systemrelevanten Fragen, die vor und neben der Kamera wiederholt gestellt wurden. Dieser so genannte «Cheftext» lieferte Orientierungspunkte für die strategische Positionierung der OöV sowie ein Bekenntnis zur Professionalisierung der Führungsarbeit. Aus der Kernaussage, minimal 50 Prozent der Zeit für Führung (nicht Projektleitung!) einzusetzen, entstand ein mehrjähirger Personalentwicklungsprozess, in dem die Filme eine inhaltliche Klammer bilden. Andererseits entschied der Auftrag geber, seine dritte Führungsebene für einen Kaderworkshop zusammenzunehmen, um unmittelbar mit seinen nicht direkt unterstellten Führungskräften zusammenspannen zu können. Zur Vorbereitung entstand der Beratungsfilm «Eine Reise der kleinen Schritte». Es galt, den mitunter wuchtigen Aussagen der Diagnosefilme Schlüsselgeschichten an die Seite zu stellen, die ohne Umweg lösungsdienlich wirken konnten und die wichtigen Fragen beantworteten: Wo gab es Ausnahmen vom beschriebenen Muster? Wer machte den Führungsjob richtig gut? Wie gelingt der Spagat zwischen Linienführungs- und Projektleiteraufgaben? Gibt es Erfolgsgeschichten? Und ja, es gab sie.
Wenig Film kann viele fruchtbare Beratungsschritte vorbereiten
Natürlich braucht es professionelle Aufarbeitung des Gesehenen. Die Beratung mit hausgemachtem Film ist ein relativ neues Feld. Produktive Verarbeitungsformate entwickeln sich laufend, und die Visualisierung der Filminhalte spielt eine wichtige Rolle.
Um das Veränderungspotenzial einer Filmsequenz zu realisieren, haben sich folgende Fragen bewährt: Wie wirkt das Gesehene auf mich? Was spricht uns an? In welchem Verhältnis stehen die Aussagen im Film zur offiziellen Position? Warum stösst der Film auf derart grosse Resonanz? Was wollen und können wir verändern? Was müsste in einem Film vorkommen, wenn wir noch mal von vorne anfangen würden?
Als Learning aus dem Fallbeispiel blieb, dass manchmal sehr wenig Film sehr viele fruchtbare Beratungsschritte vorbereitet. Mit welcher Qualität und Intensität die Mitarbeitenden ihre gefühlte Realität dargestellt haben, wurde nicht nur vom Auftraggeber wertgeschätzt. In den allermeisten Aussagen schien bei aller Direktheit Stolz und Verbundenheit mit der OöV durch. Die Menschen waren vor der Kamera offensichtlich gerne bei der Sache und bei den Leuten.
1 Der Name wurde auf Wunsch der betreffenden Organisation anonymisiert.