HR Today Nr. 7&8/2020: Leadership – New Work

Unbekannte Welten entdecken

Die Corona-Pandemie hat viele Unternehmen gezwungen, ihre Arbeitsweise radikal zu überdenken. Dabei hat die technische Entwicklung zwar für viele Mitarbeitende Homeoffice ermöglicht, doch die Organisation und Kultur der Unternehmen haben damit nicht Schritt gehalten. Worauf es beim Übergang in die neue Arbeitswelt ankommt.

Homeoffice für die meisten Mitarbeitenden: Was vor der Corona-Krise undenkbar schien, war ­aufgrund des bundesrätlich verordneten Lockdowns innert weniger Tage möglich. Doch was haben Betriebe dadurch gelernt? «Dass Führung aus Distanz und Selbstführung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit wichtig sind», sagt ­Martin Geisenhainer, Learning Architect bei Swisscom. «Wer bisher an Homeoffice gezweifelt hat, wird seine Haltung vielleicht überdenken.» Mitarbeitende, die Geschmack an dieser Art zu arbeiten gefunden haben, könnten zudem altmodisch denkenden Firmen vermehrt den Rücken kehren und eine neue Karriere anstreben.

Ein eher unerfreuliches Learning ist für Martin Geisenhainer die «vermutete Verfügbarkeit durch Vorgesetzte und Kollegen». Sei man im Büro, erkenne man sofort, wer gerade beschäftigt und nicht ansprechbar sei. «Bei Remote ist das weniger möglich.» Als Geschäftsführer von Angestellte Schweiz, dem Dachverband von 60 Angestelltenvereinigungen, hat sich Stefan Studer während der Corona-Pandemie vermehrt mit seinem eigenen Führungsverständnis beschäftigt: «Ich habe mich gefragt, was der Begriff persönlicher Einsatz für mich bedeutet. Dieser hat für mich nichts mehr mit physischer Präsenz im Büro gemein, sondern mit dem Nachweis der geforderten Leistung. Das benötige eine andere Art der Führung. Man muss den Mitarbeitenden einen Vertrauensvorschuss geben, weil das Ergebnis ihrer Arbeit erst im Nachhinein sichtbar wird.» Das bedeute, ihnen zuzutrauen, mit der neu gewonnenen zeitlichen und räumlichen Freiheit verantwortungsvoll umzugehen. Für Maurice Codourey, Co-Founder der DNA Digital Nomad Academy, einer Initiative, die digitale Arbeitsmethoden für Community Builder vermittelt, haben besonders die neuen Technologien den Unternehmen zu neuen Einsichten verholfen. Etwa, weil sie die Grenzen und Möglichkeiten der virtuellen Welt mit «Echtzeitformaten» wie Videoanrufen, der gemeinsamen Arbeit am selben Dokument oder durch digitale Kaffeepausen ausloten konnten.

Akzeptiert und angewendet

«Bei Swisscom besteht seit längerem ein Verständnis und Bekenntnis zur neuen Arbeitswelt», erläutert Martin Geisenhainer. Damit ist Homeoffice und Remote Work für den Telekommunikationsanbieter nichts Neues. Neu hingegen sei die Anzahl der Swisscom-Mitarbeitenden im Homeoffice gewesen, die sich zeitgleich um das Homeschooling und die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmern mussten. Auch bei Angestellte Schweiz ist Remote Work bereits etabliert. «Mit unserem Programm mobile working können Mitarbeitende einen Teil ihres Arbeitspensums von überall her erbringen, egal ob im Homeoffice, im Coworking Space oder im Café», sagt Studer. Während andere die Techniken der neuen Arbeitswelt erst erproben oder sie kürzlich eingeführt haben, gehört die Arbeit aus der Ferne für Maurice ­Codourey zur DNA seines Unternehmens: «Wir haben keinen festen Firmensitz und kommunizieren über Remote-Sitzungen mit unseren Mitarbeitenden aus drei Ländern.»

Auch Susanne­ Aebischer, Organisationsentwicklerin und Coach, Gründerin von Trnstn sowie ehemalige Verantwortliche des Circles Selbstorganisation und Agilität bei Liip, ist hauptsächlich virtuell tätig. «Wir haben schon vor der Pandemie mit Cloud-Lösungen gearbeitet und Transparenz über alle Betriebsvorgänge geschaffen. Deshalb konnten wir im Homeoffice nahtlos an unsere Projekte anknüpfen.»

Beziehungen neu gestalten

Technologien einzuführen ist das eine, eine neue Firmenkultur zu etablieren das andere. Das bringt Herausforderungen mit sich. «Für die Implementierung von Software gibt es klare Kriterien», sagt Martin Geisenhainer. Anders sei das bei Organisationsfragen. «Da geht es oft um bestehende Pfründe und politische Themen.» Feste Firmenstrukturen böten Arbeitnehmenden Sicherheit und Stetigkeit. «Stellen Firmen diese Komfortzone infrage, müssen sie mit sehr viel Unsicherheit und grossem Widerstand der Mitarbeitenden rechnen.» Noch ist in vielen Unternehmen wenig Einsicht vorhanden, dass die neue Arbeitswelt ein anderes Miteinander zwischen Chefs und Arbeitnehmenden bedingt, hat Stefan Studer festgestellt. Die Ursache dafür liege häufig bei den Vorgesetzten. «Sie verkennen, dass mobil-flexible Zusammenarbeit nicht nur aus dem Erlernen von neuen technischen Fähigkeiten besteht.» Vielmehr müssten die Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden neu gestaltet werden. «Es braucht ein neues Führungsverständnis.»

Damit Führung aus der Dis­tanz gelingt, müssen Führungskräfte nicht nur für den sozialen Kitt in ihren Teams sorgen,­ ­sondern auch transparent kommunizieren, Verantwortlichkeiten definieren und Kommunikationswege sowie -gelegenheiten schaffen. Trotz aller Bemühungen sei mit Reibungen zu rechnen, sagt Martin Geisenhainer: «In einer Phase, in der sich alle erst finden, führt das mitunter zu einem Führungsvakuum oder zu übergriffigen Versuchen von Führungskräften, die Kontrolle über jeden einzelnen Mitarbeitenden auszuüben.» Um ihren alten Status herzustellen, könnten Führungskräfte zudem nach der Pandemie versucht sein, das Arbeiten eher wieder zu zentralisieren.

Hinzu kommt, dass nicht alle Mitarbeitenden bei der Arbeit in der Ferne die gleichen Bedürfnisse haben. Manche benötigen mehr, manche weniger Freiheiten. «Wer mehr Leitplanken fordert, ist häufig unsicher», weiss Stefan Studer. Führungskräfte, die sich bei der Vergabe von Aufträgen klar ausdrücken, stets ein offenes Ohr für ihre Mitarbeitenden hätten und sich nach deren Fortschritt erkundigen, vermeiden Unsicherheiten und dämmen Missverständnisse ein. Eine Sichtweise, die Maurice Codourey im Wesentlichen teilt.

Nach der Krise ist vor der Krise

«Unternehmen aus dem öffentlichen und privaten Sektor haben nun erfahren, was es bedeutet, online zu arbeiten. So lassen sich mehr Arbeiten als vermutet von zu Hause aus erledigen», sagt Maurice Codourey. Nun müssten die Firmen über die Bücher und auswerten, was funktioniert hat und was nicht. Etwa, was der Wegfall der Reisezeiten oder die nicht zwingend erforderliche Präsenz an Sitzungen bewirkt haben, welche Prozesse automatisiert werden können, wie sich die Agenden von Mitarbeitenden von extern managen lassen oder welche privaten «Klatsch- und Tratsch-Formate» Erfolg gezeigt haben. Obschon Homeoffice bei Swisscom schon vor der Krise etabliert war, sieht Martin Geisenhainer Verbesserungspotenzial beim Telekommunikationsanbieter: «Nachdem wir mit Online-Formaten experimentiert haben und sich dadurch auch eher beobachtende oder introvertierte Teammitglieder einbrachten, wollen wir einige der partizipativen Elemente für künftige Präsenzveranstaltungen nutzen, um sie effizienter und zielorientierter zu machen.»

Die Umstellung von Präsenzarbeit zu ­Remote-Arbeit ist für Arbeitnehmende in der ­Krise nicht immer leicht. «Die Zusammenarbeit auf digitalen Kanälen wie Slack hat viele Beschäftigte gefordert», sagt Codourey, «es hat sich für viele angefühlt, als müssten sie fünf Treppenstufen auf einmal nehmen.» Auch bei Swisscom wurden viele Mitarbeitende im Umgang mit neuen Technologien ins kalte Wasser geworfen. «Sie haben sich den Umgang mit den neuen ­Arbeitsmitteln selbst angeeignet», sagt Martin Geisenhainer. Ein hoffnungsvolles Zeichen für ihn: «Menschen können selbstorganisiert erlernen, was sie für ihre Arbeit brauchen.»

Die Krisenzeit neigt sich dem Ende zu. Was bleibt? «Die fehlende Zeit für endlose Erwägungen der Vor- und Nachteile verschiedener Projekte hat einer improvisationsstarken Evolution Platz gemacht», sagt Codourey. Eine Überlebenskraft, die seit Anbeginn der Menschheit bestehe und den Unternehmen auch künftig einen Vorteil verschaffe. Besonders erfreut zeigt sich Stefan Studer über die grosse Solidarität und die ­gegenseitige Wertschätzung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Viele Betriebe hätten die Krise mit Kurzarbeit statt Entlassungen ­abgefangen und die mit der Kurzarbeit verbundenen Lohnausfälle freiwillig ausgeglichen. «Wenn ­diese Solidarität anhält, ist das eine gute Basis für eine wiederauflebende Sozialpartnerschaft.»

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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