Psychische Gesundheit auf der Kippe: Unternehmen sind geforderter denn je
Die Zahl der psychischen Störungen hat in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen. Die Ursachen sind vielfältig: unter anderem Arbeitsverdichtung, flexible Arbeitszeiten, ohne dass die Mitarbeitenden bei der Planung mitsprechen können, oder defizitäres Führungsverhalten. Die Folgen für die Unternehmen und die Gesellschaft sind gross.

(Fotomontage: Ulrike Kobelius)
In den «Statistiken zur sozialen Sicherheit» des Bundesamtes für Sozialversicherungen (2009) kann man nachlesen, dass sich die psychischen Erkrankungen als Ursache für eine Invalidisierung in den letzten zehn Jahren in einem Umfang vermehrt haben wie keine andere Krankeitsgruppe (vgl. Tabelle 1).
«Bezüglich der Verteilung der IV-Rentenbezüger nach Gebrechensgruppen ist zwischen Januar 2000 und Januar 2009 ein starkes Ansteigen der Berentungen aus psychischen Gründen festzustellen: Das durchschnittliche jährliche Wachstum der IV-RentenbezügerInnen wegen psychischen Krankheiten betrug über 6 Prozent» (BSV 2009, S. 20).
Daten über die Ursachen und Kosten von Arbeitsunfähigkeit, wie wir sie aus anderen Ländern kennen, liegen für die Schweiz bisher nicht vor. Deshalb wird hier als Beispiel die Verteilung der geschätzten volkswirtschaftlichen Ausfälle auf Diagnosegruppen für das Jahr 2007 in Deutschland gezeigt (Tabelle 2). Der Anteil arbeitsbedingter Erkrankungen am Total der Arbeitsunfähigen-Tage (AU-Tage) wird auf etwa 30 Prozent geschätzt (Kuhn, 2000, S. 103). Die in der Diagnosegruppe «Krankheiten der Muskeln, des Skeletts und des Bindegewebes» registrierten AU-Tage stehen nach wie vor an der Spitze der Nennungen. Allerdings ist gerade hier auch eine deutliche Abnahme erkennbar. Eine weitergehende Analyse zeigt, dass die auf die Diagnosegruppe «Psychische und Verhaltensstörungen» entfallenden Abwesenheitstage im Zeitraum zwischen 2001 und 2007 deutlich zugenommen haben (vgl. Tabelle 3).
Zunahme der psychische Störungen hat einen besonderen Grund
«Der deutlich erkennbare Trend ist nicht unerwartet: Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz nehmen relativ und absolut zu. Ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Unternehmen sind bereits heute auf dem Sprung, alle anderen wirtschaftlichen Belastungen hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in den Schatten zu stellen» (Thiehoff, 2004, S. 62).
Diese Ergebnisse werfen allerdings auch die Frage auf, ob es sich bei der deutlichen Abnahme der muskuloskelettalen Erkrankungen und der massiven Zunahme der AU-Fälle in der Kategorie «Psychische und Verhaltensstörungen» in relativ kurzer Zeit zumindest teilweise um einen Zusammenhang besonderer Art handelt: So ist einerseits vorstellbar, dass die Bereitschaft und Fähigkeit, eine psychische Störung als solche zu diagnostizieren, sich bei Ärzten verändert hat. Dementsprechend heisst es auch in einem DAK-Report aufgrund einer Expertenbefragung: «Die Mehrheit der Fachleute kommt zu dem Schluss, dass es tatsächlich mehr Fälle gibt. Für wichtig halten sie aber auch, dass psychische Erkrankungen von den Hausärzten häufiger entdeckt bzw. richtig diagnostiziert werden» (DAK-Gesundheitsreport 2004, S.10).
Andererseits könnte sich auch bei Patienten die Bereitschaft verändert haben, wegen psychischer Probleme eine zuständige Instanz aufzusuchen und eine solche Diagnose zu akzeptieren (Lademann, Mertesacker und Gebhardt, 2006).
Die Ursachen für eine psychische Krankheit sind vielfältig
Hinsichtlich der Ursachen für derartige Entwicklungen hat die deutsche Expertenkommission «Zukunft der betrieblichen Gesundheitspolitik» (2004) auf die zunehmende Verunsicherung als Folge beobachtbarer gesellschaftlicher Entwicklungen hingewiesen. Andere Autoren nennen als Ursachen für psychische Belastungen und Störungen zum Beispiel Arbeitsverdichtung, flexible Arbeitszeiten ohne Möglichkeit der Mitwirkung an deren Festlegung und daraus resultierend mangelnde Planbarkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit und Zeitarbeit, mangelnde Wertschätzung und defizitäres Führungsverhalten.
Von Levi (2002, S. 11) wurde schliesslich schon früher festgestellt, dass «anhaltender Stress am Arbeitsplatz ein wesentlicher Faktor für das Auftreten von depressiven Verstimmungen» ist. Und Schneider (2010, S. 58) hat neuerdings darauf hingewiesen, dass «das Vorliegen von Depressionen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von körperlichen Erkrankungen erhöht (Härter et al., 2007).»
In diesem Zusammenhang ist auch an das von Siegrist (1996) formulierte Modell beruflicher Gratifikationskrisen zu erinnern. Berufliche Gratifikationskrisen können als Folge eines Ungleichgewichts zwischen beruflicher Verausgabung und als Gegenwert dafür erhaltener «Belohnung» (Gratifikation) entstehen (Siegrist 1996). Als Gratifikationen können die drei «Transmittersysteme» Geld, Wertschätzung und berufliche Statuskontrolle im Sinne von Aufstiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit und ausbildungsadäquater Beschäftigung wirksam werden.Untersuchungen haben Zusammenhänge zwischen Gratifikationskrisen und einem erhöhten Risiko für psychische Störungen wie etwa Depressionen, Burnout und Alkoholabhängigkeit ergeben. Deutliche Zusammenhänge zeigten sich insbesondere zwischen Gratifikationskrisen und einem erhöhten Risiko für Bluthochdruck und koronare Herzkrankheiten (Bosma, Peter, Siegrist & Marmot 1998; Siegrist 2001;Siegrist et al. 1990, 2004). Vereinzelt wurde auch die Aussage gemacht, dass von den drei oben genannten Transmittersystemen der Wertschätzung eine grössere Bedeutung zugeschrieben werden muss als der finanziellen Belohnung.
In eine ähnliche Richtung weisen zum Beispiel die Untersuchungsergebnisse von Kivimäki et al. (2004) sowie Lori und Barling (2005) über die nachteiligen Auswirkungen erlebter Ungerechtigkeit auf das psychische Wohlbefinden und Stress.
Entrhythmisierte und wenig planbare Arbeitszeiten führen zu Störungen
In seiner Auseinandersetzung über prekäre Arbeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und ihre sozialen Folgen stellt Dörre (2006) schliesslich fest, «dass Marktrisiken mehr und mehr an die Belegschaften weitergegeben werden» (a.a.O., S. 183) und die «Planbarkeit der Zukunft für die Ausgeschlossenen und prekär Beschäftigten nicht oder nur noch eingeschränkt gegeben» ist (a.a.O., S. 187). Mangelnde Planbarkeit und eingeschränkte Möglichkeiten der Selbstregulation sind auch Kennzeichen mancher neuer Formen der Flexibilisierung betrieblicher Arbeitszeiten.
«Die Beschäftigten haben wenig Einfluss auf ihre Arbeitszeitpläne und ihre Arbeitseinsätze sind häufig kurzfristig, entrhythmisiert und wenig planbar. Dies führt zu einer Zerstückelung des familiären Alltags. Familienleben muss quasi auf Knopfdruck und verdichtet stattfinden, wenn gerade Zeit dafür ist» ( Jurczyk 2008, S. 3). Janssen und Nachreiner (2005, S. 305 ff.) fassen die Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchungen (Janssen & Nachreiner, 2004) über mögliche gesundheitliche Folgen von Arbeitszeitflexibilisierungen ohne Einflussnahme der Beschäftigten wie folgt zusammen: «Sind flexible Arbeitszeitmodelle geprägt durch hochvariable, nicht selbst bestimmt, und unverlässliche Arbeitszeiten, kumulieren sich die berichteten Beeinträchtigungen sowohl im psychosozialen wie im gesundheitlichen Bereich. Besonders im Bereich der Schlafstörungen und der gastrointestinalen Beschwerden konnten hier deutliche negative Effekte gefunden werden; Beschwerdebilder, wie sie aus der Schichtarbeitsforschung hinlänglich bekannt sind.»
Die Zunahme prekärer Arbeitsformen wie jene der Leiharbeit, der Arbeit auf Abruf oder die Segmentierung der Belegschaften in Stamm- und Randbelegschaften stellen damit eine echte Bedrohung für die «life-domain balance» beziehungsweise die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben dar (vgl. Ulich und Wiese, 2010).
Fokus auf den Präsentismus in der Fehlzeitenforschung ist nötig
Mit dem Argument, die grosse Zahl der anwesenden Mitarbeiter zur Geltung zu bringen und nicht stets auf die vergleichweise geringe Zahl der Abwesenden zu fokussieren, ist in den letzten Jahren eine Reihe von Unternehmen dazu übergegangen, «Abwesenheitsquoten» durch «Anwesenheitsquoten» zu ersetzen und diese als Mass für den «Gesundheitsstand» der bei ihnen Beschäftigten auszugeben. Dass eine Formel «Anwesenheit = Gesundheit» allerdings nicht der Realität entspricht, zeigen vielfältige Alltagserfahrungen.
Tatsächlich wird damit in manchen Fällen eher einem Präsentismus Vorschub geleistet (Ulich & Strasser, 2010). Mit dem Begriff Präsentismus wird der Sachverhalt beschrieben, dass Mitarbeitende zwar anwesend, aber infolge einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht voll leistungsfähig sind. Schliesslich belegen neuere Untersuchungen «ein hohes Ausmass an Präsentismus in deutschen Unternehmen» (Zok 2008, S. 141). So gaben etwa in einer 2009 durchgeführten Erhebung des wissenschaftlichen Instituts der AOK von 2000 gesetzlich krankenversicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern 71,2 Prozent an, in den letzten Monaten krank zur Arbeit gegangen zu sein. 29,9 Prozent sagten, dies sogar gegen den Rat des Arztes getan zu haben, und 70,2 Prozent erklärten, zur Genesung bis zum Wochenende gewartet zu haben (Schmidt & Schröder, 2010, S. 95 ff.).
Nach Brandenburg und Nieder (2009, S 16 f.) sind «grosses Arbeitsvolumen, Pflichtgefühl, Rücksicht auf Kollegen, Angst vor beruflichen Nachteilen, Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Bewertung der Krankheit als Bagatellerkrankung die Hauptbeweggründe dafür, dass man krank zur Arbeit geht».
Einige Untersuchungsergebnisse belegen ganz konkret, dass die Kosten von Präsentismus deutlich – nach einzelnen Untersuchungen um ein Mehrfaches – höher ausfallen können als jene als Folge von Krankmeldungen (Biron et al., 2006, Employers Health Coalition of Tampa, 1999, Schultz et al., 2009, Hemp 2004).
Die möglichen Folgen des Präsentismus wurden inzwischen für verschiedene «Gruppen von Beschäftigten» beschrieben. So hat etwa Pilette (2005, 300) auf die «clear and present danger to productivity», insbesondere für den Bereich der Krankenpflege, aufmerksam gemacht. Mehrfach wird auch darauf hingewiesen, dass Präsentismus in der Folgezeit sowohl die Fehlzeitenquoten als auch die Fehlzeitendauer erhöhen kann. Dieser Tatbestand ist in der Fehlzeitenforschung bisher kaum berücksichtigt worden. Folgt man Badura, so wird «Präsentismus das zentrale Problem betrieblicher Gesundheitspolitik in alternden Gesellschaften darstellen» (Badura, 2010, S. 8)
Angststörungen werden am häufigsten diagnostiziert
In Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens rund jeder Dritte an einer psychischen Störung. Für die Schweiz dürften die Zahlen ähnlich sein. Laut Bundesamt für Statistik litten 2007 etwas mehr als 41 Prozent der Arbeitstätigen unter einer starken psychischen oder nervlichen Belastung am Arbeitsplatz. Nach den Ergebnissen des deutschen Bundes-Gesundheitssurveys werden Angststörungen, Störungen durch psychotrope Substanzen (insbesondere Alkohol), affektive Störungen (vor allem Depressionen) und somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden ohne ausreichende organische Ursache) am häufigsten diagnostiziert. Frauen sind deutlich häufiger von psychischen Störungen betroffen als Männer (Ausnahmen: Suchtstörungen). Ebenso erkranken Frauen doppelt so häufig wie Männer an Angststörungen (zum Beispiel Angst vor grossen Menschenmengen, geschlossenen Räumen, Höhenangst und Flugangst) und somatoformen Störungen. Rund 40 Prozent der psychisch Erkrankten wiesen mehr als nur eine Störung auf.