Soziale Sicherheit in Europa und der Schweiz: Handlungsbedarf fürs HR?
Seit dem 1. April 2012 werden in Fällen mit Bezug zur Schweiz die Systeme der sozialen Sicherheit durch neue EG-Verordnungen geregelt. Ziel dieses Artikels ist es, sowohl auf die neuen Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit aufmerksam zu machen als auch auf den notwendigen Handlungsbedarf der betroffenen Unternehmen hinzuweisen.

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Auf Fragen der sozialen Sicherheit in grenzüberschreitenden Sachverhalten zwischen den Mitgliedstaaten der EU und der Schweiz finden wegen einer Aktualisierung des Freizügigkeits-Abkommens EU–CH (FZA) seit dem 1. April 2012 die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und (EG) Nr. 987/2009 Anwendung (nachfolgend auch neue Verordnung/en beziehungsweise VO). Diese neuen Verordnungen ersetzen die VO (EWG) Nr. 1408/71 und (EWG) Nr. 574/72 (nachfolgend auch alte Verordnung/en beziehungsweise VO).
Die neuen VO gewährleisten grundsätzlich, dass den Arbeitnehmenden, den Selbständigerwerbenden und den Nichterwerbstätigen (sowie deren Familienangehörigen) keine sozialversicherungsrechtlichen Nachteile entstehen, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft und nunmehr auch in Bezug zur Schweiz wahrnehmen. Auf Drittstaatsangehörige finden diese neuen VO bei Sachverhalten mit Bezug zur Schweiz keine Anwendung. Gleiches gilt bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EFTA (EFTA-Staaten sind: Island, Liechtenstein, Schweiz und Norwegen).
Die neue VO (EG) 883/2004 begründet für die Zeit vor dem 1. April 2012 keine Ansprüche. Alle Sachverhalte, die vor dem 31. März 2012 eingetreten sind, werden nach den Regelungen der bisherigen VO (EWG) 1408/71 beurteilt. Gelten für eine Person gestützt auf die VO (EG) 883/2004 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen, der durch die VO (EWG) 1408/71 bestimmt wurde, bleiben die Rechtsvorschriften letzterer VO so lange anwendbar, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert. Die betreffende Person kann aber beantragen, den neuen Rechtsvorschriften unterstellt zu werden.
Handlungsbedarf für HR-Manager und CFO
Um die Gewissheit zu haben, dass bei sämtlichen Arbeitnehmenden das korrekte Sozialversicherungsrecht angewendet wird, wird HR-Managern und CFOs empfohlen, sich mit den wesentlichen Änderungen im Bereich Unterstellungsregelungen der neuen VO (EG) 883/2004 vertraut zu machen (siehe dazu auch HR Today 5/2010, Seite 47 f.).
1. Wesentliche Änderungen bei Entsendungen von Arbeitnehmenden
Bei Entsendungen von Arbeitnehmenden von der Schweiz ins EU-Ausland oder vom EU-Ausland in die Schweiz gilt es zunächst zu beachten, dass nur Personen mit einer Staatsangehörigkeit der Schweiz oder eines EU-Staates unter der neuen VO entsendet werden können. Eine solche Entsendung dauert maximal 24 Monate (bei Vorliegen einer Ausnahmevereinbarung bis zu ca. 5 Jahre), bedarf einer vorhergehenden Versicherungszeit im Heimatstaat von mindestens einem Monat sowie einer Entsendungsbescheinigung (Formular A1 oder gleichwertige Bestätigung der zuständigen Behörde).
Bei Entsendungen und einem Wohnsitzwechsel ist auch eine Bescheinigung S1 vom (schweizerischen) Krankenversicherer zu erwirken; selbige ist beim zuständigen Krankenversicherer im Gastland zwecks Registrierung als leistungsberechtigte Person vorzuweisen. Erfolgt eine Entsendung ohne Wohnsitzwechsel, muss die Europäische Krankenversicherungskarte beim zuständigen Krankenversicherer bezogen werden.
Generell ist zu beachten, dass die unter der alten VO geltenden Voraussetzungen für eine Entsendung (zum Beispiel eine vorübergehende Dauer der Entsendung, das Vorliegen einer gewöhnlichen nennenswerten Geschäftstätigkeit sowie einer vorhergehenden Versicherungszeit im Ursprungsland, die Vermeidung des Auswechselns von Entsandten, das Vorliegen einer direkten arbeitsrechtlichen Bindung zum entsendenden Arbeitgeber, Tätigkeit auf Rechnung des entsendenden Arbeitgebers etc.) grundsätzlich auch unter der neuen VO gegeben sein müssen. Auch sind der Arbeitgeber und die entsandte Person verpflichtet, die zuständigen Stellen des Ursprungslandes von allen wesentlichen Änderungen zu unterrichten, die während der Entsendung eintreten. Da in der Vergangenheit bei Entsendungen die erwähnten Voraussetzungen oftmals nicht oder zu wenig beachtet worden sind, wird erwartet, dass die Behörden in Zukunft häufiger Kontrollen zwecks Überprüfung der Einhaltung der Entsendungsvoraussetzungen durchführen werden.
Schliesslich empfiehlt es sich, stets auch die Versicherungssituation von begleitenden, nichterwerbstätigen Familienangehörigen zu prüfen, bleiben doch auch nach der neuen VO die bisher bekannten Versicherungslücken bestehen.
2. Wesentliche Änderungen bei Tätigkeiten in mehreren Staaten
Personen, die ihre unselbständige Erwerbstätigkeit gewöhnlich in zwei oder mehr Staaten ausüben, unterlagen bislang entweder den Rechtsvorschriften des Wohnstaats der Person oder denjenigen des Staates, in dessen Gebiet der Arbeitgeber seinen Sitz hat. Bei Vorliegen bloss eines Arbeitsvertrages unterliegt nach der neuen VO eine solche Person aber nur dann den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Wohnstaats, wenn dort ein wesentlicher Teil der unselbständigen Tätigkeit ausgeübt wird. Die Voraussetzung der Ausübung eines wesentlichen Teils der unselbständigen Tätigkeit ist dann erfüllt, wenn die Person einen quantitativ erheblichen Teil der unselbständigen Tätigkeit ihrer Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat ausübt (25-Prozent-Regel / Achtung Gesamtbewertung).
Personen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten eine selbständige und eine unselbständige Tätigkeit ausüben, sind nach der neuen VO mit den gesamten selbständigen und unselbständigen Erwerbseinkünften nur in dem Staat versichert, in welchem die unselbständige Erwerbstätigkeit unterstellt ist.
Entsprechend muss sich ein HR-Manager bewusst sein, dass die Anwendung von schweizerischem Sozialversicherungsrecht nicht immer korrekt ist. Vielmehr ist bei eurointernationalen Sachverhalten stets abzuklären, welches Sozialversicherungsrecht überhaupt anzuwenden ist wie auch gegenüber welchem Sozialversicherungsträger und in welchem Umfang die Sozialversicherungsbeiträge entrichtet werden müssen.
3. Wesentliche Änderungen im Formularwesen – elektronischer Datenaustausch
Die neue VO sieht einen elektronischen Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungseinrichtungen vor (SNAP for EESSI: Swiss National Action Plan for Electronic Exchange of Social Security Information), weshalb in Zukunft die Papierformulare über die anzuwendenden Rechtsvorschriften ersetzt werden. Die Schweiz plant eine Inbetriebnahme eines solchen elektronischen Datenaustausches auf den 1. Mai 2014. Bis zu diesem Zeitpunkt werden weiterhin Bescheinigungen über die anzuwendenden Rechtsvorschriften in Papierform ausgestellt.
Fazit
Seit 1. April 2012 empfiehlt es sich, nicht nur die Versicherungsunterstellung des gesamten Personalbestandes zu prüfen, sondern auch zu überlegen, ob generell Spar- und Planungsmöglichkeiten bestehen, die richtigen Formulare verwendet wurden, die geltend gemachten Entsendungsvoraus-setzungen erfüllt sind, insbesondere bei Tätigkeiten in mehreren Ländern das richtige Recht angewendet und die Sozialversicherungsbeiträge korrekt entrichtet werden – denn unter der neuen Verordnung ist mit strengeren Kontrollen zu rechnen.