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Soziale Stimmung prägt kollektive Ereignisse – nicht umgekehrt

John Casti ist weder Zukunftsforscher noch Hellseher, obwohl er die Finanzkrise von 2008 prognostizierte, mehr als zwei Jahre vor deren Eintreten. Seine Erkenntnisse bezieht er aus kühler Systemanalyse und aus einer wissenschaftlichen 
Theorie namens «Socionomics». Casti ist überzeugt, dass wir in einer Periode der Transformation leben. Die immer komplexere Welt werde wieder schlichter werden, sagt er im Gespräch mit HR Today.

John Casti, Sie sind Systemtheoretiker und Exponent einer neuen wissenschaftlichen Theorie, der so genannten «Socionomics». Können Sie diese bitte kurz erklären?

John Casti: Mit Socionomics wird versucht, Muster in kollektivem menschlichem Verhalten und Handeln zu identifizieren. Sie sagt: Social Mood (die «soziale Stimmung», die Redaktion) in einer Bevölkerung – blickt sie also eher optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft – beeinflusst wesentlich mögliche künftige Ereignisse. Diese kollektiven sozialen Events bilden sich dann aus den Interaktionen von Bevölkerungsgruppen und reichen von Trends in der Populärkultur, etwa 
Musik und Mode, bis hin zu Wahlausgängen, politischen Ideologien oder Kriegsausbrüchen. Social Mood lässt sich messen und gibt so Hinweise, eine Art 
Wetterprognose.

Wie genau lässt sie sich messen?

Über Twitter-Feeds beispielsweise. Sie dienen mindestens genauso als Frühindikator einer sozialen Erscheinung wie die Finanzmärkte. Die Marktbewegungen werden ja selbst beeinflusst von diesen psychologischen Verlagerungen der Stimmungslagen. Zuvor, ohne die Twitter-Feeds, blieb mir nur, die Finanzmarktbewegungen als Frühindikatoren ihrer selbst zu nehmen. Kurz gesagt, ich musste die Bewegungen in den Märkten voraussehen, ausgehend von den Mustern vergangener sozialer Stimmung und der Eigenart von Ereignissen, zu denen diese Bewegungen geführt haben.

Eine solche soziale Stimmung existiert sicher auch in den Unternehmungen. Wie könnte ein HR-Manager in einer Firma 
Socionomics einsetzen?

Ja, Social Mood gibt es in jeder Gruppe. Für den Einsatz von Socionomics in einer Unternehmung müsste man einen Weg finden, herauszufinden, was die Mitarbeiter über die Zukunft der Firma glauben. Es bräuchte eine Methode, um die Stimmung zu messen und zu sehen, wie sie sich im Lauf der Zeit verändert. Das würde dann einen Einblick geben, welche Art von Ereignissen – je nach positiver oder negativer Stimmung – innerhalb dieses Zeitraums machbar wäre.

Es heisst immer wieder, dass es vielleicht gar keinen wirklichen Bedarf mehr gebe für ein klassisches, gehobenes Management in Organisationen, weil dieselben Effekte auch durch Selbstführung erreicht werden könnten. Gibt es da Ähnlichkeiten zum sogenannten Crowdsourcing, bekannt im Kontext von offener Innovation und 
sozialen Medien?

Dies scheint mir eher eine Frage von «Top-down»-Leadership versus «dezentralisiertes» Management zu sein. Persönlich glaube ich, dass beides notwendig ist und es auf die Situation ankommt. Eine Armee beispielsweise würde im Kriegsfall auf Basis einer sich selbst organisierenden Form von Führung nicht sehr effizient funktionieren. Auf der anderen Seite kann ein Crowdsourcing-Ansatz sehr gut in einem Forschungsumfeld fruchten, wo die Identifikation und die Entwicklung neuer Ideen als «Währung» gefragt sind und nicht nur eine rationelle Umsetzung bekannter 
Aufgaben.

In Ihrem kommenden Buch «X-EVENTS» halten Sie fest, dass wir in einer hochkomplexen und hochgradig vernetzten Welt leben, die – wegen der anwachsenden Komplexität – etwa so fragil ist wie ein riesiges Kartenhaus. Warum überhaupt steigt das Level der Komplexität dauernd weiter an? Und was ist ein X-event?

Die erhöhte Komplexität bildet sich, wenn eine Organisation oder ein Land neue Probleme zu lösen hat. Die Standardprozedur ist, eine weitere Abteilung, eine Gruppe oder ein neues Projekt zu bilden, das sich der neuen Problematik widmet. Mit fortschreitender Zeit, in der weitere Probleme auftauchen, werden immer neue Schichten an Bürokratie übereinandergehäuft, bis schlicht sämtliche Ressourcen der Unternehmung dafür verwendet werden, die bestehende Struktur aufrechtzuerhalten. An diesem Punkt kann – und wird – irgendein neu daherkommendes Problem solch eine Organisation endgültig in den Kollapszustand versetzen. Der X-event – oftmals scheinbar unwesentlich – ist dann quasi nur noch das letzte Ereignis, das das gesamte Konstrukt über die Kante schubst.

Sie sagten vor Jahren, dass es in der heutigen Geschäftswelt tektonische Verschiebungen geben wird. Können Sie dies bitte erläutern?

Alle Regeln für globale soziopolitische und ökonomische Interaktion, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgestellt wurden, funktionieren nicht mehr. Sie wurden schlicht nicht für eine Welt entworfen, wie sie durch die technologischen Fortschritte der letzten 50 Jahre entstand. Das Problem ist, dass niemand wirklich weiss, welches die neuen Regeln des 21. Jahrhunderts sein werden, da sie noch in evolutionärer Weise geformt werden. Als Resultat davon befinden wir uns jetzt in einer Übergangsphase von etwas, das nicht mehr funktioniert, hin zu etwas, was noch niemand sehen kann. Das ist die tektonische Verschiebung. Für die meisten ist das sehr verunsichernd, aber für Risikobereite bietet das auch grosse Chancen. Die neuesten Entwicklungen in der EU und den USA unterstreichen nur meine fünf Jahre alte Prognose, dass die Phase der Globalisierung dem Ende zugeht. Und sehr wohl würde ein Kollaps der EU einen X-event darstellen, wenn auch einen, der sich ziemlich viel langsamer entwickelt, als etwa ein Erdbeben. Betrachten Sie es als ein politisches und ökonomisches Erd
beben in Zeitlupe.

Was sollten Ihrer Meinung nach Unternehmen, ihre Mitarbeitenden und die Menschen auf der Strasse machen, um die nächsten Jahre und Jahrzehnte gut zu überstehen?

Ich bin der Ansicht, dass der Level der sozialen Stimmung nicht per se die Intensität der Ereignisse diktiert, welche sie impliziert. Nimmt man jedoch den Grad an Social Mood zusammen mit der Geschwindigkeit, mit der sich die soziale Stimmung ändert, dann erhält man einen flüchtigen Ausblick darauf, wie heftig die Ereignisse wahrscheinlich sein werden. Und das stimmt besonders, wenn die Stimmung derart abstürzt wie jetzt, anstatt zum Beispiel plötzlich anzusteigen. Ansonsten glaube ich nicht, dass es eine Zauberformel gibt «was zu tun ist». Mit Ausnahme vielleicht, so flexibel wie möglich zu bleiben, um sich an schnell ändernde Umstände anpassen zu können. Das Tempo der Veränderungen heutzutage ist atemberaubend und niemand kann heute mehr Pläne auf den Zeitskalen machen, die wir gewohnt waren. Langfristige Strategien sind zwar immer noch notwendig, aber es ist wichtig, bereit zu sein, diese umzuwerfen, während sich Ereignisse entwickeln. Erwarten Sie das Unerwartete und beziehen Sie das in Ihre Pläne ein, ob das ein Business-Plan oder ein persönlicher Lebensplan ist.

Sie betonen, dass viele Menschen heute nicht mehr auf Regierungen vertrauen und dass wir, nach einer Übergangsphase, absehen können, dass sich die Komplexität unseres sozialen und ökonomischen Systems verringern wird. Künftig würden wir eine eher einfache Existenz leben. Wie wird sich dieser Prozess vollziehen?

In aller Kürze gesagt, wird das «Downsizing» der Gesellschaft dadurch zustande kommen, dass die Menschen realisieren, immer weniger Freiheitsgrade zu haben bei dem, was sie machen respektive sich noch leisten können. So werden etwa Arbeitslose oder jene, die viel weniger verdienen als früher, künftig «Staycations» machen – also nicht mehr auf die Seychellen jetten, noch nicht einmal nach Italien fahren. Sondern zuhause bleiben und Gemüse in ihrem Garten anbauen, so sie einen haben. Die Regierungen werden immer mehr Leistungen abbauen, wie sie dies ja in einigen Ländern bei ganz alltäglichen Dingen bereits tun. Diese anhaltenden Prozesse müssen nicht zwangsläufig einen X-event mit sich bringen. Aber es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit einen X-event brauchen, um diesen Prozess zu starten, denn die Menschen sind fast niemals freiwillig dazu bereit, ihr Leben runterzufahren – ebenso wenig die Regierungen.

Was können Unternehmen angesichts dessen machen?

Ein Unternehmen kann sich bereits heute damit befassen, wie es im künftigen wirtschaftlichen Umfeld Geschäfte tätigt. Um nicht dereinst zu den Verlierern zu gehören, sollten sie ihr Business so planen, organisieren und realisieren, wie sie bereits in den 60er und 70er Jahren gewirtschaftet haben. So wird es wieder sein. Doch können sie auf diese Weise nicht nur überleben, sondern sogar profitieren – vom Rückzug der Globalisierung.

Socionomics – der Background

Socionomics ist eine Theorie, mit der versucht wird, Muster in kollektivem menschlichem Verhalten sowie bei (historischen) Ereignissen zu identifizieren und zu erläutern. Der US-Finanztheoretiker Robert Prechter, der den Begriff Socionomics prägte, nennt sie eine Theorie der sozialen Kausalität. Prechter (1949) stieg nach einem Psychologiestudium in die Finanzwirtschaft ein, wurde erfolgreicher Markttechniker und setzte dabei die technische Analyse, vor 
allem die Elliott-Wellen-Theorie, ein. Diese, vom amerikanischen Finanzspezialisten R.N. Elliott in den 30er-Jahren entwickelt, wird von Tradern genutzt, um Finanzmarktzyklen zu analysieren und Markttrends vorherzusagen, indem psychologische Extreme bei Investoren, Hochs und Tiefs der Preise und andere kollektive Faktoren identifiziert werden. Prechter entwickelte die Theorie gruppenpsychologisch bedingter Marktbewegungen weiter und wandte sie in den 70er-Jahren erstmals auf generelle kollektive menschliche Verhaltensweisen an – Socionomics entstand. Robert Prechter schrieb diverse Bücher wie etwa «The Wave Principle of Human Social Behavior and the New Science of Socionomics».
 

Dr. John L. Casti

(1943) ist Forscher am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Wien. Er studierte Mathematik und promovierte an der University of Southern California. Seine Wirkungsstätten waren u.a. die RAND Corp. und das Santa Fe Institute, bevor er 1974 dem Forschungsstab des IIASA beitrat. Von 1986 bis 2002 hielt Casti auch die Professur für Operations Research und Systemtheorie an der TU Wien. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Büchern, das aktuellste trägt den Titel «Mood Matters: From Rising Skirt Lengths to the 
Collapse of World Powers». 
Anfang 2012 erscheint sein neuestes Werk «X-EVENTS».

 

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Tom Sperlich ist freier Journalist.

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